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Fünfundzwanzigstes Kapitel. Die Verhaftung

Ich schritt die Entfernungen sorgfältig ab; Austin hatte richtig mehr als anderthalb Meilen von der Tante entfernt gewohnt, und seine Kirche bezeichnete ein Dritteil der ganzen Entfernung zwischen den beiden Häusern. Wenn es richtig war, was die Frau mir gesagt hatte – und weshalb hätte ich daran zweifeln sollen? – so hatte er nach seiner Heimkehr um halb elf Uhr das Haus in jener Nacht nicht wieder verlassen, und so war die einzige Frist, über die mir noch kein genauer Bericht vorlag, die zwischen neun Uhr dreiundvierzig Minuten und zehn Uhr dreißig Minuten. Sicherlich war es ein Ding der Unmöglichkeit, daß er in dieser Zeit zwei und eine halbe Meile zu Fuß zurückgelegt und die Arbeit verrichtet hatte, die in jenem Hause geschehen war.

War er denn also unschuldig? Nein! Ein Ausweg war noch denkbar – er konnte die Entfernung zwischen Kirche und Haus zu Wagen zurückgelegt haben, das war aber mehr als unwahrscheinlich, denn damit hätte er Verdachtsgründe genug gegen sich selbst geliefert.

Ich stellte Erkundigungen in der kleinen Stadt an, und aus diesen ging, wie ich erwartet hatte, deutlich hervor, daß der Vikar zu solch nächtlicher Stunde nur einen bestellten Wagen hätte haben können, und da niemand etwas davon wußte, hatte er auch keinen gehabt.

Der Nachmittag verlief über solchen Nachforschungen, und je hoffnungsloser die Sache wurde, desto verzweifelter hielt ich an meiner Ueberzeugung fest, das Verbrechen müsse auf Austin Harvey zurückgeführt werden können. Er war der Schuldige, das wußte ich, und er sollte mir nicht entkommen. Trotzdem entschloß ich mich, um sieben Uhr wieder nach London zu fahren. Ich hatte noch den Küster der Marienkirche aufgesucht und ein zweites Mal mit der tauben Frau, bei der Fräulein Raynell gewohnt hatte, verhandelt, aber nichts Wesentliches ermittelt, höchstens den Umstand, daß Austin die Sakristei nach Schluß der Missionsversammlung sehr eilig und noch vor dreiviertel auf zehn Uhr verlassen habe. Enttäuscht, müde und hungrig wanderte ich dem Bahnhof zu.

Als ich hinkam, riefen die Zeitungsjungen eben ihre Abendblätter aus und zwar mit dem Zusatz: »Der Mörder ist verhaftet! Der Mörder ist verhaftet!«

Das erregte natürlich meine Aufmerksamkeit, ich rief einen Jungen an und kaufte eine Nummer des »Echo«, die ich aufschlug und überflog. Was ich darin finden sollte, wußte ich fast gewiß, und da stand es auch schon in fettem Druck.

»Dritte Ausgabe. – Verhaftung des »Schwarzen Koffermörders« in Dijon. – Philipp Harvey, welchen die Polizei des Mords der Fräulein Raynell für verdächtig hält, wurde gestern abend in dem Schnellzug von Paris nach Marseille verhaftet. Der Haftbefehl wurde auf der Station Dijon vollstreckt.«

Mit dem Blatt in der Hand eilte ich, einem Betrunkenen gleich, nach Hause. Harvey erwartete mich in meinem Wohnzimmer; ohne Gruß und Einleitung ging ich auf ihn zu und hielt ihm die Zeitung vors Gesicht. Er las die Stelle und erschrak fürchterlich – das that mir wohl.

»Und was hat jetzt zu geschehen?« stotterte er.

»Was zu geschehen hat,« erwiderte ich bitter, »das Gericht muß seine Schuldigkeit thun und der Verbrecher muß baumeln.«

Austin sagte nichts; ich sah wohl, daß er nicht im stande war, zu sprechen.

»Dabei wird aber zuerst bewiesen werden müssen, daß er der Thäter ist und wie er die That ausgeführt hat,« fuhr ich fort und behielt ihn dabei fest im Auge.

In seinem Gesicht zuckte es krampfhaft.

»Gewiß,« brachte er endlich mit Anstrengung heraus. »Das ist selbstverständlich, nur zu selbstverständlich.«

»Mir ist die Sache noch gar nicht so klar, Herr Harvey,« erwiderte ich, »und je mehr ich mich in den Fall einlebe, desto verwickelter kommt er mir vor und ich bin keineswegs überzeugt, daß unsre bisherige Auffassung die richtige ist.«

Aug' in Auge standen wir uns gegenüber und beobachteten uns gegenseitig. Keiner wagte eine weitete Aeußerung zu thun, ja ich fragte mich im stillen, ob ich nicht jetzt schon zuviel habe durchblicken lassen, denn ich hatte ihn mißtrauisch gemacht. Er war ganz verstört durch die Nachricht von der Verhaftung und sein Gefühl sagte ihm, daß in meiner Haltung etwas Feindseliges lag, und doch war es unklug, ihn mißtrauisch zu machen, ehe ich Beweise gegen ihn hatte.

Beweise mußte ich also haben und Philipps Verhaftung machte die Notwendigkeit raschen Handelns nur noch dringender. Aber was sollte ich thun? Inwiefern konnte ich Austin zur Verantwortung ziehen? Welche Rolle hatte er bei dem Vorgang gespielt? Auf all diese Fragen hatte ich seine Antwort und Austins Alibi ließ an Vollständigkeit nichts zu wünschen übrig.

Wir sprachen nun über Philipps Festnahme und ihre unmittelbaren Folgen und kamen damit wieder auf ein sicheres Gebiet. Austin erklärte mir zu wiederholten Malen, daß er seine Amtspflichten nicht länger vernachlässigen dürfe und mit dem letzten Zug nach Southend zurück müsse, während ich ihn mit aller Ueberredungskunst bestimmen wollte, noch einmal nach Paris zu gehen, denn ich hätte ihn gar zu gerne für einige Zeit aus dem Weg geräumt. Aber er bestand darauf zu bleiben, und so ward der Beschluß gefaßt, daß ich noch in dieser Nacht nach Paris abreisen solle, um dort mein Möglichstes für den Fall zu thun. Ich konnte nicht in Abrede ziehen, daß dies von seinem Standpunkt aus gesehen, das Richtige war, und es fehlte mir an jedem vernünftigen Grund, seine Bitte abzulehnen. Zudem war es nicht wahrscheinlich, daß Southend mir die ersehnte Aufklärung liefern würde, und so sprach ich denn meine Bereitwilligkeit aus, nach Paris und zu Philipp Harvey zurückzukehren; möglich, daß mir das Glück dort günstig sein würde.

Ich verabschiedete mich von Austin oder vielmehr wir verließen miteinander meine Wohnung, jeder um sich nach seiner Abfahrtsstation zu begeben. Wieviel Kilometer hatten wir nicht in den letzten achtundvierzig Stunden befahren, und doch verspürte ich keine körperliche Ermüdung, sondern nur Verstimmung und innere Erschöpfung über meine Mißerfolge. Es verdroß mich namenlos, daß ich diesen Menschen bei mir sehen, mit ihm verkehren und ihn schließlich abreisen lassen mußte, ohne ihn des Verbrechens, das ich ihm zuschrieb, beschuldigen zu dürfen. Seltsamer Weise war ich von seiner Schuld desto fester überzeugt, je unmöglicher sie erschien, und nichtsdestoweniger mußte ich mit ihm über seinen Bruder verhandeln und mir das Ansehen geben, als ob ich jedes lügnerische Wort glaubte.

Wir gingen eine stille Straße entlang, als plötzlich in der Dunkelheit etwas an uns vorbeihuschte und in der nämlichen Sekunde ein Gedanke, eine Hoffnung, eine Möglichkeit mir durch den Sinn fuhr. Ein Radfahrer war an uns vorübergesaust.


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