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Sechstes Kapitel. Der geheimnisvolle Namenszug

Sobald ich in meinem Hotelzimmer in Sicherheit war, setzte ich mich hin und malte die beiden Buchstaben, die ich in der Ecke jenes Kofferzettels entdeckt hatte, sorgfältig aus dem Gedächtnis nach, wie ich sie hier dem Leser vorführe:

.

Dann ging ich noch einmal alles durch, was mir von den Einzelheiten des Verbrechens bekannt war, und fand, daß ich schon recht viel wußte.

Mord – vermutlich ausgeführt vermittelst eines betäubenden Schlags und nachher angewandten Chloroforms – an einer Dame mit den Anfangsbuchstaben E. R.; Zeit, offenbar gestern abend; Ort, Southend; Mitschuldige – wenn nicht tatsächliche Mörderin – in Anklagestand versetzt! Name, Edith Orr-Simpkinson.

Fräulein Simpkinsons Ausflüchte in Verbindung mit der unteren Kofferadresse führten mich zu der unumstößlichen Gewißheit, daß der Schauplatz des Verbrechens Southend war. Unerklärlich blieb nur das Fehlen jeder Spur eines Koffertransports von Southend nach London, der doch stattgefunden haben mußte, ehe das Gepäckstück in Sharing Croß nach Paris hatte aufgegeben werden können.

Das erste, was jetzt zu geschehen hatte, war die Feststellung des Namens der ermordeten Dame, und das konnte kein Hexenwerk sein, vorausgesetzt, daß die Polizei so vernünftig war, in Southend und nicht in Tooting danach zu forschen. Dann mußte zunächst das Geheimnis des Schlüssels aufgeklärt werden.

War Fräulein Simpkinson wirklich überzeugt, daß, wie sie wiederholt versicherte, der von ihr vorgewiesene Schlüssel zu dem schwarzen Koffer gehöre? Sie hatte allerdings den Beweis geliefert, daß sie fähig war, große Unwahrheiten zu sagen, aber gerade ihre Auslassungen über diesen Punkt trugen das Gepräge der Aufrichtigkeit.

Wenn sie in Beziehung auf den Schlüssel log, so war sie überhaupt eine durchtriebene Meisterin der Lüge, und für eine solche konnte ich sie nicht halten, dafür lag zu viel Thatkraft und Offenheit in ihrem Gebaren.

Befand sie sich aber in der That im Irrtum über den Schlüssel, so konnte sie – der Schluß liegt nahe – auch über den Koffer selbst im Irrtum sein.

Wie war das möglich? Ihre Jungfer hatte ihn sofort erkannt, und überdies war ihr, wie wir gesehen haben, dessen Inhalt ganz bekannt. Auf der andern Seite war dieser Koffer unter all ihrem Reisegepäck das einzige Stück, das sie nicht mit einer Aufschrift versehen hatte, und die Erklärung, die sie über diesen auffallenden Umstand abgegeben hatte, konnte kaum befriedigend genannt werden.

Ich war sehr verwirrt und gänzlich aus dem Konzept gebracht. So hübsch die Annahme, der Koffer gehöre Fräulein Simpkinson gar nicht, auch in meinen Plan gepaßt hätte, ich konnte nicht daran festhalten, sie war zu unvernünftig. Und doch gaben mir der Schlüssel, das zerbrochene Schloß, die Buchstaben P. H. immer wieder zu denken, und vergebens suchte ich mir einzureden, daß diese Buchstaben gar nichts zu bedeuten hätten und nur von einem Dienstmann oder Schaffner aus irgend welchen Gründen hingekritzelt worden seien. Schließlich war es mir doch halb und halb gelungen, mir selbst diese Annahme einleuchtend zu machen, und ich fing schon an einzunicken, als mir blitzartig der Ausruf der Jungfer, den ich im Protokoll gelesen hatte, wieder einfiel!

»Lassen Sie doch Herrn Harvey kommen?«

H – Harvey. Reiner Zufall, dies Zusammentreffen natürlich. Und doch – Harvey, Harvey. P. H. Paul Harvey. Peter Harvey. Wer war dieser Herr Harvey?

Ein sehr naher Freund, das versteht sich.

Daraufhin war von Schlaf für mich nicht mehr die Rede.


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