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Neuntes Kapitel. Austins Besuch

Als ich am andern Morgen in meinem Zimmer saß und den üblichen Bericht an meine Auftraggeber niederschrieb, wurde mir Herr Harvey gemeldet. Er sah blaß und verhärmt aus, wie man nach einer schlaflosen Nacht auszusehen pflegt, und das war auch wahrhaftig kein Wunder.

»Ich habe über Ihren gestrigen Besuch viel nachgedacht,« begann er in seiner offenen Weise, »und habe die Empfindung, daß wir Ihnen eine Erklärung schuldig sind. Fräulein Simpkinsons Benehmen muß Ihnen sehr seltsam, ja ganz unverständlich erschienen sein.«

Zögernd hielt er inne.

»Nicht so seltsam, als Sie sich vielleicht vorstellen,« versetzte ich ruhig. »Sie müssen bedenken, daß ich an derartige Nachforschungen gewöhnt bin.«

Er sah ein wenig verblüfft aus, sammelte sich aber sofort wieder.

»Als Sie von uns weggingen, nahmen Sie einen ganz bestimmten Eindruck mit sich fort – wäre es zu viel verlangt, wenn ich Sie bäte, mir zu sagen, welchen?«

»Das ist in der That eine ziemlich weitgehende Forderung, und es ist nicht ganz billig, wenn Sie mir damit den kleinen Vorteil, den ich mir errungen habe, aus den Händen spielen, ohne mir Ersatz zu bieten.«

»Allerdings,« versetzte Harvey. »Nun denn, wenn Sie mir Ihre Auffassung mitteilen, so verpflichte ich mich, Ihnen ehrlich zu sagen, ob sie richtig ist.«

» Welches die richtige ist?«

»O nein,« sagte er rasch, »nur ob die Ihrige es ist. Ja oder nein?«

Er sah mir kerzengerade mit einem offnen, bittenden Lächeln in die Augen, und ich muß wieder sagen, daß ich nie etwas Herzgewinnenderes kennen gelernt habe, als sein Wesen. Meine Teilnahme für Fräulein Simpkinson nahm in demselben Maße ab, als die für ihren Verlobten stieg.

»Ich für meine Person,« begann ich langsam, »habe gar keinen Zweifel mehr darüber, daß zwei völlig gleiche Koffer existieren, und daß sowohl Sie als das Fräulein vollständig im klaren darüber sind, daß der jetzt auf dem Pariser Polizeiamt befindliche nicht Ihrer Braut gehört. Sie wissen aber auch beide, wem der Koffer mit dem Leichnam gehört, und ihre einzige Furcht ist, daß der Besitzer sich als Mörder entpuppen werde.«

Austin Harvey wechselte die Farbe. Ich hatte meine Worte sorgsam gewählt und ihn genau beobachtet, und das frische, junge Gesicht bestätigte mir mit seinem raschen Wechsel des Ausdrucks, daß meine Annahme nicht unrichtig war.

»Sie wissen sehr viel,« bemerkte er, und seine sonst so klare Stimme war leicht verschleiert.

»Ist meine Vermutung nicht richtig?«

»Vollständig richtig.«

Ein Schweigen trat ein. Harvey lehnte sich in seinen Stuhl zurück und starrte in seinen weichen, breitkrempigen Filzhut. Ich beobachtete ihn, und eine Frage lag mir auf der Zunge – er war ehrlich, klug und ängstlich bestrebt, recht zu handeln, weshalb sollte ich es nicht wagen?

»Wer ist der Eigentümer des schwarzen Koffers?« fragte ich plötzlich, bereute aber meine Rücksichtslosigkeit sofort wieder.

Die große Gestalt zitterte vom Wirbel bis zur Sohle, in seinem Gesicht zuckte es nervös und seine Augen sanken förmlich ein; die Anstrengung, sich zu beherrschen, war sichtlich groß.

»Soll ich sprechen?« sagte er vor sich hin – ich fühlte die Worte mehr, als ich sie hörte.

Er stand auf und trat ans Fenster und blickte auf das belebte Boulevard hinunter. Wochen nachher erst lernte ich verstehen, was ihn in diesem Augenblick bewegt hatte.

»Nein,« sagte er tonlos. »Es kann nicht meine Pflicht sein, diese Frage zu beantworten; ich habe ein Recht, es zu verweigern.«

Er trat wieder zu mir, und sein Wesen war wieder mehr wie sonst. »Sie müssen wohl unterscheiden,« begann er, »weder Fräulein Simpkinson noch ich wissen über den Mord irgend etwas – wir haben beide nur einen Verdacht. Besäße ich Gewißheit, so würde ich es für meine Pflicht halten, den Behörden Aufschluß zu geben, so schwer es mir auch werden möchte.« Diese Worte wiederholte er schmerzerfüllt. »Wir haben Verdacht, und unser einziges Beten und Hoffen ist, er möchte sich als unbegründet erweisen! So wie die Dinge liegen, bin ich bereit, zu sagen, was ich weiß, aber nicht, was ich gedacht habe und noch denke. Ich glaube, diese Unterscheidung vor meinem Gewissen rechtfertigen zu können; meine Pflicht ist es, den Gang der Gerechtigkeit nicht zu hemmen, aber ebenso gut ist es mir Pflicht, ihn auch nicht zu beschleunigen, besonders in einem Fall, wo, nach allem, was ich weiß, auch ein Irrtum ihrerseits nicht ausgeschlossen ist.«

»Fräulein Simpkinson geht noch weiter,« warf ich ein.

»Meine Braut handelt in dieser Sache nach ihrem eigenen Ermessen, und wir müssen auch der Verwirrung Rechnung tragen, welche Geschehnisse, wie die der letzten vierundzwanzig Stunden, im Gemüt eines jungen Mädchens hervorrufen. Sie ist noch nicht im stande, zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.«

»Erlauben Sie mir, darüber andrer Ansicht zu sein: Das Fräulein ist vollständig fähig, die Behörden durch ganz zusammenhängende falsche Angaben irre zu führen, und das hat die hiesige Polizei wohl bemerkt. Wenn Sie Erlaubnis haben, sie wieder aufzusuchen, so ermahnen Sie die junge Dame, wohl auf ihrer Hut zu sein.«

»Sie wollen damit doch nicht andeuten, daß Fräulein Simpkinson Gefahr laufe, irgend welchen ernstlichen Widerwärtigkeiten mit der Polizei ausgesetzt zu sein?«

»Sie ist in Gefahr, mehr als Widerwärtigkeiten zu begegnen,« sagte ich grimmig.

»Großer Gott! Das ist, um wahnsinnig zu werden!« rief Austin Harvey. »Der Himmel stehe uns bei – was sollen wir denn beginnen? Nein, ich kann es nicht glauben, daß diese erbärmliche Sache Fräulein Simpkinson in irgend welcher Weise schädigen könnte – ach, der Gedanke ist qualvoll! Ich versichere Sie bei allem, was mir heilig ist, daß sie vollständig unschuldig ist.«

»Ich bestreite das nicht, aber sie macht sich unversehens zur Hehlerin der That, und Hehler sind nicht unschuldig.«

Armer Tropf! Bis jetzt hatte er sich leidlich aufrecht erhalten, aber die Vorstellung, daß seiner Herzliebsten ein Leid geschehen könnte, setzte ihm offenbar hart zu.

»Wie soll sie sich denn nach Ihrer Ansicht verhalten?« fragte er.

»Gerade wie Sie!« versetzte ich kurz. »Keine Unwahrheiten, keine Heimlichkeiten und offene Antwort auf Fragen, denen solche gebühren.«

Er drückte mir mit Wärme die Hand.

»Sie haben recht,« sagte er ernst. »Wir müssen sie von ihrem jetzigen Weg abbringen. Ich werde sofort zu ihr gehen und ihr sagen, wie Sie denken. Ach was, ihre Unschuld muß sich ja herausstellen, und dazu sollen Sie uns helfen. Dies ist der Zweck meines Besuchs. Ich bitte Sie, sich in meinem Interesse mit der Sache zu beschäftigen und die Polizei wohl im Auge zu behalten. Sie müssen ermitteln, wie viel die Herren wissen, und womöglich noch einiges andre. Wir müssen erfahren, wer der Thäter ist. Sie setzen mich in Kenntnis von allem, was Sie ausfindig machen oder ausfindig gemacht zu haben glauben, und ich will nur hoffen, daß Ihre Entdeckungen meinen Verdacht Lügen strafen.«

»Verstehe ich Sie recht, mein Herr – Sie wollen mir den Fall berufsmäßig übertragen? Wenn dem so ist, muß ich meinen Vorgesetzten Mitteilung machen.«

»Thun Sie das sofort.«

»Ich bin im Augenblick nicht frei, aber meine jetzige Aufgabe kann der erste beste ebensogut übernehmen. In einem Fall von solcher Wichtigkeit …« ich verbeugte mich, ohne den Satz zu vollenden. Austin Harvey griff nach seinem Hut, den er etwas verlegen in der Hand drehte.

»Ich möchte Sie noch etwas fragen, ehe ich gehe,« sagte er unsicher. »Ich bin kein reicher Mann, und vielleicht wäre es besser, sich vorher über die –«

»Bedingungen zu verständigen,« fiel ich ihm rasch ins Wort, da ich diesen Punkt immer kurz erledige. »Das Büreau wird Ihnen Prospekte schicken. Sie werden die Preise sehr annehmbar finden, ich zweifle gar nicht daran,« damit bekomplimentierte ich ihn zur Thüre hinaus.

Er trat auf den Vorplatz und ich folgte ihm. Langsam wie ein Mensch, der ganz in seine Gedanken versunken ist, ging er die Treppe hinunter, während ich oben stehen blieb und ihm nachsah. Auf einem Treppenabsatz hielt er zögernd inne und zog, wie es mir schien, halb mechanisch ein weißes Taschentuch aus der Brusttasche seines Rocks und fuhr sich sachte damit über die Augen. Mit dem Tuch hatte er einen grauen Briefumschlag aus der Rocktasche geschleudert, der nun mit leisem Rascheln zu Boden glitt. Ich, der ich ein Dutzend Stufen höher stand, hörte das Geräusch, das dem Geistlichen entgangen zu sein schien, denn er ging langsam weiter.

Meine erste Regung war, ihm nachzurufen, ich unterdrückte sie aber herzhaft und hielt den Atem an. Ein Brief! Wer weiß, was er enthalten kann! Lauernd, wartend blieb ich auf meinem Posten.

Harvey kehrte nicht um.

Gierig waren meine Blicke auf das Stück grauen Papiers geheftet, ich liebäugelte damit, als ob ich es magnetisch an mich ziehen, es fremden Augen unsichtbar machen könnte – wenn er es aber nun vermißte?

Wie deutlich es sich von dem roten Treppenläufer abhob! Wenn irgend jemand die Treppe heraufkäme und dem Herrn nachriefe! Zum Beispiel ein Kellner! In einer Sekunde durchzuckten mich all diese Gedanken! Darauf hinzustürzen wagte ich nicht, aus Furcht, er könnte sich nach der Ursache des Geräusches umsehen.

Nun griff er mit der Hand nach der Brusttasche, und schon hielt ich mich für verloren, doch er hatte nur sein Taschentuch hineingesteckt.

Jetzt bog er in der Vorhalle um die Ecke, und im nämlichen Augenblick war ich schon unten, meine Hand zielte nach der Beute, wie ein Geier, der auf seinen Raub herniederstößt.

Ich rannte hinauf in mein Zimmer und schloß mich ein; ich legte den Briefumschlag auf den Tisch – er war quadratisch, von grauem Papier, mit dem Poststempel Dover und der Aufschrift an den Vikar Austin Harvey im Hotel de la Paix in Paris.

Ob der Umschlag leer war, oder ob noch ein Brief darin steckte?

Dem Anfühlen nach war das Couvert nicht leer; ich drehte es um, und meine zitternden Finger berührten ein darin liegendes Briefblatt, dessen Inhalt – das hatte bei mir von Anfang an festgestanden – mich auf die richtige Spur bringen mußte.

Ich zog das Blatt heraus – der Brief begann: »Mein lieber Austin,« rasch warf ich einen Blick nach der Unterschrift auf der nächsten Seite; sie lautete »Philipp«.

Kaum hatte ich Zeit gefunden, den Inhalt zu überfliegen, als hastig und ungestüm an meiner Thüre gepocht wurde. Ich schleuderte den Brief in eine Schublade, verschloß sie, zog rasch den Rock aus, um damit einen Vorwand für meine verriegelte Zimmerthüre zu haben, und ging in Hemdärmeln hin, um zu öffnen.

Es war Harvey. Ehe ich mich recht besinnen konnte, hatte er mich ins Zimmer hineingedrängt und war selbst eingetreten. Sein Aussehen und Gebaren verrieten ungeheure Aufregung.

»Ich habe hier soeben einen Brief aus der Tasche fallen lassen,« rief er, »ich muß ihn wieder haben.«

»Wirklich?« sagte ich voll Gelassenheit.

»Ich muß ihn wieder haben, sage ich Ihnen. Auf der Treppe muß er mir herausgefallen sein, Sie standen oben am Geländer, Sie müssen es gesehen haben.«

»Ich werde mich auch gar nicht mit Lügen befassen – ja, ich sah es.«

»Und Sie haben ihn aufgehoben?«

»Allerdings.«

»Dann ist alles gut, und nun geben Sie mir sofort den Brief. Bedaure, Sie gestört zu haben.«

»Das ist nun wieder ganz etwas andres. Ich fürchte, ich kann Ihnen den Brief nicht wiedergeben, Herr Harvey.«

»Sie können mir den Brief nicht zurückgeben? Ja was soll denn das heißen? Weshalb nicht?«

»Weil ich ihn aufheben muß, mein Herr.«

»Unsinn, Sie haben kein Recht dazu. Dieser Brief ist vertraulich, und ihn zu behalten, ginge weit über Ihre Befugnisse hinaus.«

»Ich habe den Brief noch nicht gelesen, aber so viel habe ich schon wahrgenommen, daß sein Inhalt von größter Wichtigkeit ist. Wenn ich in Ihrem Auftrag handeln soll, so muß ich ihn behalten, und wenn Sie Ihren Auftrag widerrufen, dann –«

»Dann?«

»Muß ich ihn der Polizei ausliefern.«

»In beiden Fällen weigern Sie sich demnach, ihn mir zurückzugeben?«

»Ja.«

Im nächsten Augenblick lagen wir beide am Boden. Der Geistliche war auf mich losgefahren, hatte mich niedergeworfen, und ich hatte ihn im Fall mit mir herabgerissen. Es war eine völlige Ueberrumpelung, und ich hatte mich bei seinem Stand und ganzen Wesen eines thätlichen Angriffs nicht versehen gehabt, aber der Mann war offenbar in Verzweiflung und wollte seinen Brief wieder haben, einerlei, ob in Gutem oder in Bösem.

Ebenso war ich aber auch entschlossen, ihn zu behalten.

»Sie haben ihn in der Tasche,« hörte ich ihn zwischen den Zähnen hervorstoßen, »und wenn ich Sie erdrosseln müßte, ich will ihn haben.«

So kollerten wir nun am Boden herum, und wo wir an ein Möbel stießen, gab es einen Höllenlärm, so daß ich in Todesangst war, die Kellner könnten herbeistürzen. Zum Glück lag mein Zimmer in einem Seitenflügel und dauerte der Kampf nur eine Minute. Des Geistlichen Kraft schien viel rascher verbraucht zu sein, als ich bei seinem athletischen Körperbau erwartet hätte, und nach dem ersten wilden Anprall fehlte es ihm an aller Ausdauer. Ich griff mit verdoppelter Energie an und hatte im Nu seine Hände von meiner Kehle losgemacht, und im nächsten Augenblick stand ich, noch atemlos, auf meinen Füßen und schob den Tisch zwischen uns.

»Das sind verfehlte Mittel,« rief ich, nach Luft ringend. »Geben Sie es auf, Sie bekommen den Brief nicht. In der nächsten Minute werden die Kellner hereinstürzen, machen Sie sich aus dem Staub, ehe es so weit ist.«

Er stand an der Thüre und kämpfte sichtlich mit einem Entschluß.

»Soll ich für Sie oder gegen Sie arbeiten?« fragte ich. »Was ist Ihnen lieber?«

»Ich weiß es nicht,« stotterte er. »Warten Sie, bis ich Ihnen schreibe. Unternehmen Sie nichts, ehe Sie Nachricht von mir haben.«

Damit erklärte ich mich einverstanden, und er ging. Kaum war er fort, als ein Kellner an der Thüre herumschnüffelte, klopfte und sehr wißbegierig die Nase hereinstreckte.

»Ich hatte den Sofa ans Fenster gerückt, um besseres Licht zu haben,« sagte ich, »er steht aber doch besser am alten Platz.«


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