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Achtzehntes Kapitel. Die Sache bekommt ein andres Ansehen

Im nächsten Augenblick mußte Austin aus der Thür treten, ich schlüpfte darum hinaus, indem ich den Riegel zurückschob. Seit ich die Brüder miteinander eingeschlossen, hatten Auffassung und Absichten bei mir wesentlich andre Gestalt angenommen, und ich beschloß nun, doch erst ein wenig zuzuwarten, ehe ich Philipp bedrohte. Jedenfalls stand fest, daß von einem vorsätzlichen Mord bei ihm nicht die Rede sein konnte, und daß die That unter ganz andern Verhältnissen vollbracht worden war, als ich bisher angenommen hatte. Notwendig mußte ich noch eine Unterredung mit Philipp haben.

Austin kam jedenfalls noch einmal in das Zimmer, das ich mir angeeignet hatte, denn er mußte ja seinen Ueberrock holen, deshalb ging ich rasch wieder in meine Stube im ersten Stock und wartete, bis der Geistliche an meiner Thür vorüber war. Kaum hatte er das Haus verlassen, als ich spornstreichs hinaufrannte, die Seitenthür aufriß und ohne alle Förmlichkeit zu Philipp Harvey ins Zimmer stürmte.

Er saß, den Kopf zwischen den Händen, auf einem niederen Lehnstuhl vor dem Kamin; als er aufblickte und mich erkannte, schreckte er mit dem Ausdruck namenlosen Entsetzens zusammen.

»Herr Harvey,« begann ich rasch, »ich bin Fahnder in Diensten eines Privatbüreaus und bin mit Ihrem Fall beschäftigt. Gestern abend begegnete ich Ihnen unhöflich – ich bitte Sie um Entschuldigung. Ich hielt Sie damals für einen Mörder, heute früh glaube ich das nicht mehr, und ich stelle mich Ihnen zur Verfügung, um das Geheimnis zu entwirren. Wir müssen zusammen arbeiten, einem allein wird es niemals gelingen.«

Philipp Harvey murmelte einige unverständliche Worte und anfangs erschien es mir völlig unmöglich, etwas aus ihm herauszulocken. Er war von Mißtrauen erfüllt und sah in mir nur den Fahnder und natürlichen Feind, und erst allmählich gelang es mir, ihn davon zu überzeugen, daß ich zu seinen Gunsten Anteil an dem Fall nahm.

»Erstens müssen Sie mir rückhaltlos vertrauen, was Sie über die Angelegenheiten Ihrer Tante wissen,« begann ich, als wir uns schließlich friedlich nebeneinander vor dem Kamin niederließen. »Sie erwähnten gestern, daß ihr Tod Ihnen keinen materiellen Vorteil brächte – ist dem wirklich so?«

»Ganz gewiß! Ihr Vermögen fällt nur Austin zu.«

»War sie reich?«

»Reich eigentlich nicht, aber sie hatte jährlich etwa neunhundert Pfund zu verzehren, und das Kapital hat sie Austin, als dem ältesten, in Bausch und Bogen vermacht.«

»Es war nie die Rede davon, auch Ihnen etwas zu hinterlassen oder ihn zu enterben?«

»Nein, das heißt ernstlich nie. Ich glaube –« er stockte.

»Wenn ich Ihnen Hilfe leisten soll, ist es unbedingt nötig, daß ich haarklein in alles eingeweiht werde,« sagte ich.

»Meine Tante hatte mich nicht so lieb wie meinen Bruder, denn er war von jeher ein Musterknabe gewesen und meine Wildheit erregte ihre Mißbilligung. Erst in allerletzter Zeit war sie in einem Punkt auf meine Seite getreten. Austin und ich wir waren beide in die nämliche junge Dame verliebt; die Mutter des Mädchens wies mir die Thür und bevorzugte meinen Bruder, weil er der Erbe dieser Tante war. Fräulein Raynell, die eine sehr durchtriebene alte Person war, hatte sich aber in Kopf gesetzt, daß das junge Mädchen und ich weit besser füreinander paßten und daß wir uns wirklich lieb hätten. Sie wollte mich verheiraten und hat sicherlich in letzter Zeit häufig zu Austin gesagt, sie wolle ihr Testament ändern und auf diese Weise die Gefühle der jungen Dame prüfen. Das Mädchen selbst war der Ansicht, daß ich sie in unwürdiger Gesellschaft vergessen hätte, während ich in Wahrheit in solchen Ausschweifungen nur Betäubung für mein bitteres Weh suchte. Sie aber wandte sich darum meinem Bruder zu und es fand eine Verlobung statt, wenn auch nur auf Geheiß der Mutter. Meine Tante war wütend darüber.«

»Wann hat diese Verlobung stattgefunden?« fragte ich.

»In letzter Woche; sie wurde aber noch nicht veröffentlicht, denn meine Tante war, wie gesagt, sehr dagegen. Trotzdem sie eine alte Jungfer geblieben, dachte sie sehr streng und hoch über Ehegelöbnisse.«

»Und sie wollte also, Sie sollten das Mädchen heiraten?«

»Ich glaube, ja.«

»Trotz all Ihrer Uebelthaten?«

»Sie dachte, Edith könnte einen andern Menschen aus mir machen und – hol's der Teufel – ich glaube es selbst.«

»Alles zusammengenommen liegt also gar kein Grund vor, der Ihnen den Tod der Tante wünschenswert gemacht hätte? Im Gegenteil, dies frühe Ende ist Ihnen nachteilig?«

»Gewiß, gewiß. Ihr konnte man auch immer wieder etwas abbetteln, wenigstens ich verstand mich darauf. Austin wird nicht so leicht 'rumzukriegen sein.«

»Und doch haben Sie Drohungen gegen sie ausgestoßen.«

»Ach, das war nie mein Ernst. Manchmal wurde ich wütend, wenn sie mich abkanzelte, und einmal sagte ich zu der jungen Dame, die mit meinem Bruder verlobt ist, ich werde der Tante noch einmal ein Leides zufügen.«

»Das hörte die junge Dame? Daraus erklärt sich vieles.«

»Sie wollen mir damit sagen,« versetzte er bitter, »daß Fräulein Simpkinson Bei der Entdeckung der Leiche ohne alles Besinnen angenommen habe, ich hätte meine Drohung wahr gemacht? So sagte mein Bruder.«

»Sie können ihr das kaum zum Vorwurf machen,« bemerkte ich mit Strenge. »Was sollte irgend jemand sonst denken?«

»Allerdings,« räumte Philipp stöhnend ein. »Ich muß es ja gethan haben. Nicht, daß ich es je im Sinn gehabt hätte, aber wahr ist, daß ich in jener greulichen Nacht mich mit ihr zankte. Austin hat ganz recht, ich muß es gethan haben. Jetzt sieht er in Southend nach den Büchern: sind die noch da, so ist die Geschichte sonnenklar. Ich habe es gethan, es hilft alles nichts.«

Er sprach mehr mit sich selbst als mit mir, aber sein Vertrauen hatte ich gewonnen. So elend und verlassen wie er sich fühlte, war er froh an mir.

Diese letzten Worte stimmten vortrefflich zu der Theorie über den Mord, wie ich sie mir seit heute früh ausgearbeitet hatte. Offenbar war ich von anfang an auf der richtigen Fährte gewesen: Philipp Harvey hatte die That vollbracht, und zwar ohne Mitschuldige. Und doch, konnte man ihn einen Mörder nennen? Ich glaubte unverbrüchlich an seine Offenheit und Wahrheitsliebe, und er mußte das Verbrechen in einem Zustand von Bewußtlosigkeit begangen haben, einem Zustand, in den ihn Alkohol und Chloral versetzt hatten. Diese Erklärung war allerdings etwas seltsam, aber nicht unglaublich. In meinem Beruf hatte ich die Trunkenheit in den verschiedensten Gestalten kennen gelernt und wußte sehr genau, welch wunderliche Erscheinungen der Alkoholgenuß bei nervös erregbaren Naturen und Leuten von starker Einbildungskraft hervorrufen kann. Auch einen Fall von ganz unregelmäßiger Gehirnthätigkeit, die durch Chloral hervorgerufen war, hatte ich erlebt, und hatte einen Mann in diesem Zustand Handlungen begehen sehen, von denen er am nächsten Tag keine Rechenschaft geben konnte. Darum fand ich Austin Harveys Auffassung ganz einleuchtend, umsomehr, als er verwandte Fälle aus seines Bruders Vorleben angeführt hatte. Auf der einen Seite war ich also vollständig überzeugt, daß Philipp seine Tante umgebracht hatte, auf der andern glaubte ich unbedingt, daß er sich der That nicht bewußt war. Irgend eine Erklärung mußte ja gefunden werden, und diese erschien mir immerhin annehmbar.

Gleichzeitig mußte ich mir sagen, daß englische Geschworne schwerlich bereit sein würden, darauf einzugehen. In Frankreich wäre viel mehr Aussicht auf Freisprechung vorhanden gewesen; man hätte Charcot Ein berühmter Pariser Arzt und Dozent, Spezialist für Nervenkrankheiten. Anm. d. Uebers. als Sachverständigen berufen, und die Franzosen glauben an jedes psychologische Wunder, wenn Charcot es ihnen mundgerecht macht. Und für Charcot, der sich all den mesmerischen und magnetischen »Schwindel«, an den kein Arzt glauben wollte, bis ein Arzt ihm den zünftigen Stempel aufgedrückt hatte, so geschickt angeeignet und zurecht gemacht hat, für den gibt es auf dem Gebiet der Psychologie keine Wunder mehr, und das »Unmögliche« geschieht da alle Tage. Aber zwölf nüchterne, vierschrötige Engländer, wie sollte man denen beibringen, es habe einer einen Mord begangen, ohne selbst darum zu wissen? Ueberdies war dieser Philipp ja so thöricht ehrlich, zuzugeben, daß er mit seiner Tante Streit gehabt und sie aus dem Zimmer gestoßen habe. Ich war ganz Austins Meinung; das beste, was der Arme thun konnte, war, die Flucht zu ergreifen. Heute früh beim Erwachen war ich entschlossen gewesen, ihn sofort verhaften zu lassen. Der Familie Geld abzuzwacken, das hatte ich längst aufgegeben, ich wollte mich nur mit Ruhm bedecken, indem ich den Behörden und der Welt Bericht abstattete über meine Nachforschungen und meine Erfolge. Nun entschloß ich mich, auch darauf zu verzichten, und zwar kostete mich das einige Ueberwindung, aber ich fühlte mich unwillkürlich zu dem unglücklichen Mörder hingezogen, wenn er auch ein leichtsinniger Mensch und ein Trinker war, oder vielmehr, mein Gerechtigkeitsgefühl ließ mich wünschen, daß der Mann nicht über Gebühr gestraft werde. Ich wollte alles dran setzen, ihn zu retten; die Familie konnte hernach meine Dienste lohnen, wie es beiden Teilen angemessen erscheinen würde.

»In Beziehung auf die Bücher kann ich Sie jetzt schon aus der Ungewißheit reißen,« sagte ich. »Sie sind da. Ich habe sie mit eignen Augen gesehen. Ein Wandschrank im Zimmer Ihrer verstorbenen Tante ist gänzlich damit angefüllt.«

Ich hatte nicht erwartet, daß diese Mitteilung den jungen Mann so gänzlich aus dem Gleichgewicht bringen werde, und seine Aufregung machte mir zur Genüge deutlich, daß er mit allen Fasern seines Wesens an der Möglichkeit hing, seine Unschuld beweisen zu können, und sich nur mit äußerstem Widerstreben der von seinem Bruder aufgestellten Theorie unterwerfen würde.

»Dann ist alles aus,« stammelte er. »Dann hat Austin recht und ich muß fort.«

Mühsam erhob er sich; auf seiner Stirn stand der Schweiß in dicken Tropfen.

»Doch nicht jetzt. Wo wollen Sie denn hin?« sagte ich. »Sie müssen die Rückkehr Ihres Bruders abwarten.«

Schon war er in der Nähe der Thür, obwohl er sich wie ein Blinder vorwärts tasten mußte; mit einemmal blieb er stehen.

»Wird meine Flucht den Verdacht gegen Edith erschweren?« fragte er mich. »Hundertmal lieber den Strick, als sie in Not bringen.«

»Fräulein Simpkinson schwebt in keiner ernsten Gefahr, denn man kann keine greifbaren Beweise ihrer Schuld aufbringen, und sobald Sie drüben sind, können Sie auch jeden Schatten eines Verdachts von ihr nehmen. Aber jetzt können Sie nicht fort; das Tagschiff ist bereits abgefahren. Heute abend können Sie bis Calais kommen, von dort gehen Sie nach Marseille und machen den Versuch, sich nach irgend einer der südamerikanischen Republiken einzuschiffen, wie Ihr Bruder Ihnen vorschlug.«

»Es wird ihm nicht gelingen,« sagte ich mir im stillen mit einem Seufzer. »Wenn die Polizei nur halbwegs die Augen offen hält, gelingt es ihm nicht.«

Er ließ sich wieder auf seinen Sitz zurückführen und bat mich, ganz zerschlagen und hinfällig wie er war, ihm etwas Geistiges zu verschaffen.

»Nein,« erklärte ich rundweg, »Sie müssen Ihre fünf Sinne und all Ihre Kraft beisammen haben, und Kraft verleiht der Branntwein nicht, wenn Sie sich das auch einbilden. Sprechen wir die Sache noch einmal durch: zehn Stunden Zeit haben Sie noch bis zur Abreise, und je ruhiger Sie sich bis dahin verhalten, desto besser.«

Zu meinem eignen Befremden hatte ich mich mit einemmal in den Freund und Beschützer des Menschen, dem ich seit vier Tagen nachjagte, verwandelt, und seine Flucht lag mir, so gering meine Hoffnung auf ihr Gelingen auch war, wirklich am Herzen.

»Wir müssen Sie fortschaffen,« sagte ich, »und Sie selbst müssen das Ihrige dabei thun.«


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