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XII.

Konrad war durch die Worte seines Freundes von Ohr etwas beruhigt worden. Eben hatte er den Telephonhörer wieder in die Gabel zurückgelegt, als die Glocke sofort von neuem anschlug. Konrad schwankte. War es das verspätete mechanische Schlußzeichen vom Amt, oder war es ein neuer Anruf? Mußte er dann nicht von Flossie sein? Er wartete ein weiteres Anschlagen der Schelle nicht mehr ab, sondern hob den Hörer hoch, und mit einemmal durchdrang ihn eine so freudige Hoffnung, wie schon lange nicht, und er sprach in seinem festen Vertrauen auf das Schicksal: »Du bist es doch, Flossie?«

»Ja, Junge, natürlich bin ich es«, kam ihre vertraute Stimme aus der Muschel, die noch warm gewesen war von seinem Ohr und die er jetzt besonders fest an seine Schläfe preßte: »Du kannst doch jetzt kommen?«

»Wohin? Zu euch? Zu deinen Leuten? Gerade habe ich dir einen langen Brief geschrieben.«

»Was war denn los mit unserem Telephon? Eine Ewigkeit war es besetzt, und ich warte doch in der Halle, das Kind auf dem Arm und das Köfferchen zu meinen Füßen, und –«

»Wo seid ihr denn, Kinder? Vielleicht auf dem Bahnhof?«

»Natürlich, Junge, ich komme doch von deiner Mutter. Darauf warst du wohl am wenigsten gefaßt?«

»Du wartest jetzt im Wartesaal oder im Restaurant zweiter?«

»Ja!«

»Nicht ›ja‹! Entweder – oder!«

»Aber natürlich warte ich auf dich. Du hilfst mir das Kind tragen.«

»Und wo?«

»In der großen Halle, sagten wir doch. Oder lieber in der Restauration? Aber wir wollen doch sparen, und dort muß ich was nehmen. In der Halle wieder ist scheußlich viel Menschheit von den Ferienzügen –«

»Ich werde dich schon finden. Ich bin gleich bei dir.«

»So komm nur! Du bist doch gesund? Ja? Ich hatte soviel Bangnis um dich!«

»Gewiß, mein Liebes. Und du?«

»Ach, ich! Mich kennst du ja.«

»Soll Minna schnell etwas vorbereiten?«

»Wenn sie schon schläft, laß nur! Das Kind hat schon gehabt. Es ist dick satt. Sonst war es nicht so ruhig jetzt. Was es wieder zugenommen hat, da wirst du Bauklötzer staunen! Und ganz goldbraun ist der dicke Käfer. So war es noch nie. Ich habe ja soviel gute Nachricht für dich, Imme!«

»Und ich viele gute auch für dich, Flossiechen!«

»Was denn? Sag zuerst!«

»Sag du zuerst!«

»Nein, du zuerst, sag du zuerst, Imme!«

»Ich? Was soll hier gewesen sein? Du warst so lange Zeit fort.«

»Ja, furchtbar lange, mir kam es auch so vor! Aber deiner Mutter geht es ganz herrlich! Ja, prachtvoll geht es ihr, und alle in ›Waldfrieden‹ sind paff. – Ja, Fräulein, ich spreche noch! Und zwar mit meinem Mann. Wird man wohl doch noch dürfen! Für seinen ehrlichen Groschen? Wär ja noch schöner!«

»Flossie!«

»Ja, Immelein, bin noch da, war ja alles nur Quatsch. Jetzt komm nur ganz schnell. Noch etwas, hör! Schrecklich bange war mir nach dir! Und dir auch?«

»Aber Flossie!«

»Und weißt du noch, wie ich aussehe?«

»Was? Man hört den Lärm vom Bahnhof durch und versteht so schlecht.«

»Ach, es war wieder nur Unsinn! Jetzt komm aber wie der Wind, wie der Blitz!«

Flossie wartete aber weder in der Restauration noch in der großen Halle, sondern sie lief ihrem Mann, als er aus einer Autodroschke sprang, über die Stufen des Haupteinganges entgegen und fiel ihm um den Hals – oder wollte es tun. Ihre Hände waren ja nicht frei, in der rechten hielt sie ihr Köfferchen und auf dem linken Arm trug sie das schlafende Kind. Aber ihre Lippen preßte sie mit aller Kraft auf Konrads dünnen Mund, und mit jedem neuen Kuß hatte Konrad stärker den Geschmack nach Kirschen auf seinen Lippen, guten, warmen, in der Sonne gereiften.

Das Kind hatte sein gestricktes weißes Sonntagskleidchen an, mit den grünen Streifen an den Ärmeln und dem Rocksaum, und auf dem Kopf das ebenfalls weiße, aber durch die Bahnfahrt schon etwas schmuddelig gewordene Zipfelmützchen ohne Troddel. Und zwischen all dem weißen Zeug lag das tief goldbraune Gesichtchen mit den straffen Wangen und dem schönen, faltenlosen Hälschen. Unter dem Mützchen kamen die etwas feuchten, hellblonden Locken hervor, die sich über der glatten, weißen Stirn verbreiteten. Auch die langen Wimpern waren Flossies Wimpern oder Rudolfs Wimpern – in ihrem hellen Gold, wie sie Rudolf als kleines Kind gehabt hatte und die früher einmal vor vielen Jahren der ältere Bruder zart angefaßt und sogar angehaucht hatte, wenn der jüngere in seiner ganzen Schönheit in dem für das große Kind etwas zu engen Kinderwägelchen geschlafen hatte.

Flossie konnte lange nicht von ihrem Manne loskommen, immer wieder drückte sie ihre heiße, feste Wange an seine ausgemergelte, kühle, ihn dabei verstohlen betrachtend. Ihre blauen Augen glänzten wie in alten Zeiten, und doch lag hinter der strahlenden Miene ein Schatten von Sorge, und sie konnte die ersten Worte ebenso schwer finden wie er.

»Ein Auto?« fragte er stockend.

»Nicht doch, wir gehen das Stückchen zu Fuß. Wollen doch sparen, jetzt besonders, nicht?«

»Alles, wie du willst«, sagte er, mit seinen Gedanken anderswo und auf die Worte »jetzt besonders« nicht eingehend.

»Was habe ich altes Kamel doch immer für dumme Sorgen um dich gehabt die ganze Zeit! Das war das einzige Schlimme. Sonst war es ja ganz wunderbar und großartig. Nur daß du nicht da warst. Aber um mich hast du dir doch keine Sorgen gemacht? Es ist doch nicht meinetwegen, daß du so zusammengeschrumpelt bist, du armes Huhn?« – Er schüttelte den Kopf, von einem aus der Tiefe seines Herzens kommenden Drang zum Weinen ergriffen, wie er ihn bisher nie gekannt hatte. Aber er beherrschte sich. Er bemitleidete sich nie. Jetzt verzog er den Mund zu einem gezwungenen Lächeln und faßte nach dem Kind, um es seiner Frau abzunehmen. »Oder vertraust du es mir nicht an?«

»Dir? Doch! Alles!« sagte Flossie prompt. »Aber hier noch nicht. Lieber nimm das Köfferchen. Und dann mußt du gleich alles erzählen, ich bin ja gespannt wie ein neuer Flitzebogen! Los, erzähl mal alles, es gibt ja massenhaft Neues, nicht? Und nichts als Gutes diesmal! Daß es mit Rudolf eine gute Wendung genommen hat, das steht ja schon im Abendblatt.«

»Wo?«

»Im Abendblatt des Stadtanzeigers, ich habe ihn gekauft, als ich so lange gewartet habe auf unser Telephongespräch, und ohne Ankündigung wollte ich doch nicht zu dir kommen, auch wenn's mein eigenes Heim ist. Oder hätte ich doch sofort kommen sollen?«

»Und was ist mit Rudolf?«

»Du weißt es doch? Ich habe es ja auch immer gedacht, ich kenne doch den Jungen! Mit dem Makler hat er nie was zu tun gehabt, umgebracht haben ihn ganz andere, sicher! Jetzt sind sie endlich auf der richtigen Spur, und alles wird gut.«

»Und wer ist es?«

»Wer? Das weiß man noch nicht, oder ich hab' es wieder vergessen. Einen französischen Spitznamen soll er haben, der eine von den Brüdern, Crêpe de chine oder so, putzig, nicht? Hauptsache: Rudolf ist es nicht! Ich hätte am liebsten in die Hände geklatscht vor Freude, aber Ottochen schlief, und wecken wollt' ich sie nicht. Ich dachte nur an dich! An dich dachte ich nur. Das hat mir das Herz erleichtert. Um deinetwillen hab' ich aufgeatmet, hörbar ist mir ein Fünfzig-Pfund-Stein vom Herzen gefallen, und die anderen auf der Bahnhofsbank haben es sicher gemerkt, ich habe geseufzt oder, besser gesagt, ausgeschnauft wie eine Lokomotive auf der Endstation! Siehst du, so haben wir doch recht gehabt.«

»Ich danke dir! Ich danke dir sehr! Ich habe es immer gewußt, und jetzt ist alles anders für mich.«

»Wie anders? Es ist nämlich komisch, für mich ist es auch anders!«

»Was denn, Liebling, woran denkst du jetzt?«

»Ja, mit dem Raten bist du kein Held!«

»Nein, bin ich das nicht? Erzähl nur, Flossie, was dein Herz bedrückt.«

»Ja, im Ernst, was wird es wohl sein? Was glaubst du?« fragte sie mit einem reizenden Lächeln, während sie sich mit der freien Hand die Härchen aus der Stirne strich und dann das gleiche bei dem Kinde unternahm, wobei ihre Züge einen eigenartigen, fernen, abwesenden und sogar abweisenden Zug annahmen. »Ja, Konrad, das Herz bedrückt es mir«, sagte sie, und plötzlich blieb sie mitten auf dem Gehsteig stehen und umfaßte ihn, ganz verwandelt, wieder mit ihrem alten, strahlenden Blick, »aber anders bedrückt es mir das Herz, ganz anders, als du denkst! Fürchte dich nicht. Viel, viel besser, nicht wahr?«

»Nun?«

»Aber Konrad«, sagte sie, schnell weitergehend und mit ihrer trockenen, nicht ganz weichen Hand ihm über das Gesicht fahrend, »ja, was glaubst du? Zum Beispiel, wenn wir noch ein Kind bekämen? Mir ist so. Das wäre doch furchtbar ulkig, nicht? Wir kriegen nämlich wieder eins. Sicher! In sieben Monaten, etwas mehr, etwas weniger, aber bestimmt ganz leicht und zur rechten Zeit, nicht wahr? Einen Jungen, denk' ich wohl. Ich spüre nämlich gar nichts, nichts Beschwerliches, meine ich, und so soll es bei Jungens immer sein. Das weißt du ja besser als ich. Oder schlimmstenfalls wird es wieder ein Mädchen, unbedingt etwas ganz Entzückendes. Du freust dich doch auch darauf? Ich freue mich wahnsinnig. Sieh doch mal! Auch wenn du dich zufällig nicht besonders darauf freuen würdest, bekommen würde ich es auf jeden Fall, und«, mit der Stimme leiser werdend, als wolle sie sich entschuldigen, »ich, ich habe es mir doch so sehr gewünscht.«

»Ich auch, Flossie«, sagte er.

»Du auch, Junge? Mogelst du bestimmt nicht? Das wäre ja wirklich zu schön! Laß mich nur! Wir werden ja soo sparen! Sag nicht: zwei Kinder in nicht ganz zwei Jahren! Das ist doch gerade wunderbar und ganz ungeheuer praktisch. Da ist nämlich alles noch da, alles noch hochmodern, und die dummen Motten haben noch nicht das kleinste Löchelchen gebissen, wir brauchen nicht mal einen neuen Kinderwagen, wir setzen sie einfach beide hinein, das eine nach oben und das andere nach unten, die Kinder, oder übereinander, Hauptsache, man bringt sie genug an die frische Luft, und das wird ein Hauptspaß für mich! Und sieh, was Ottochen alles neu gehabt hat und was uns immer das größte Loch in den Geldbeutel gerissen hat, jetzt gehen wir stolz an den Kindersachengeschäften vorbei und sagen, bitte mein Herr, danke mein Herr, wir sind schon lange bedient, von den Windeln angefangen und den Häubchen und den Lätzchen um den Hals, ich könnt' das neue Kind schon jetzt fressen, Mensch, Geliebtester, das wird sicher etwas Unbeschreibliches, unbedingt ein Junge, ein Riesenkerl, so nach meinem Vater, nicht? Und sicherlich gibt dann Vater etwas dazu. Und die Kinderwaage haben wir auch noch, und das Wännchen hängt da oben an dem Nagel in unserem Badezimmer, und ich dummes Kalb hab' es vergessen. Hast du es gesehen? Mir hat es sehr gefehlt, Konradin, aber die große Waschschüssel im Gasthof hat unserer Ottolein auch ganz gut gefallen, war ihm so passend, so fein glatt für den Hintern, mit Verlaub. Und paß nur auf, Kamerad, jetzt erst werde ich richtig praktisch sein. Wenn ich nur erst wüßte, was aus uns allen wird. Aber laß nur! Neues brauchen wir nicht, absolut nicht, und ich kann vom Wirtschaftsgeld sicher etwas entbehren, sofern wir nämlich doch hier blieben und wenn du dem – Rudolf«, ganz leicht hatte sie doch gezögert, bevor sie den Namen aussprach, und sie sah mit Freude, daß ihr Mann dieses Opfer verstand und sie mit einem seiner alten, guten, eben »grundanständigen« Blicke ansah, von denen sie gefürchtet hatte, sie würden nach der großen Auseinandersetzung nie mehr auf seinem Gesichte erscheinen – »es ist ja leider Gottes immer nur eine Kleinigkeit«, sagte sie leiser, und sie fühlte jetzt, wie er mit seiner kühlen, etwas harten Hand ihren Nacken berührte, wo bei ihr ein leichter, ganz zarter, goldfarbener Flaum wuchs, »ja, das tut gut«, fuhr sie fort, »ich bin doch gottesfroh und selig, daß wir drei wieder beisammen sind, nicht wahr, du, und haargenau wie früher? Und weißt du«, fuhr sie fort, während er seine Antwort in dem immer zarter werdenden Streicheln ihres Halses kundgab und sie langsam wieder die ganze alte Sicherheit gewann, »laß mich nur, Junge! Nicht so, das meine ich nicht, du kannst mich immerzu kraulen, lassen sollst du mich, wenn ich die Haushaltsgeschichten alle auf mich nehme, es wird immer schöner und besser werden, mit uns allen dreien, und auch deinem – lieben Bruder wird es natürlich viel, viel besser gehen, denkst du nicht auch? Wir werden eben noch etwas mehr sparen, wenn du nur überhaupt trotz dem Mordsskandal hierbleiben kannst und willst, und wir werden Geld zusammenlegen, damit wir ihm eine Existenz einrichten können, wenn er mal aus dem Kittchen kommt – nein, wenn er freigesprochen wird, denn das kann, nein, das muß doch jetzt sicherlich so kommen, nicht? Auch an dem besten und teuersten Verteidiger soll's nicht hapern, ich bin's imstande und gehe Doralies um Geld an, sie hat massig viel auf der Sparkasse, die alte Jungfer mit ihrer vertrockneten Tugend. Soll es Rolfchen zugute kommen, und Geld vermag ja so viel, nicht? Was kann das zweite Kind schon kosten, Neues wird, wie gesagt, nicht angeschafft, auch die Kinderschuhchen können wir noch allemal nehmen, passen müssen sie, und kleine Kinder, das weiß jeder, tragen ja nichts ab, und die Leinwandsachen von Ottochen werden nur immer schöner und geschmeidiger durchs viele Waschen.«

»Mach dir keine Sorgen, liebe Flossie«, sagte Konrad, »es hat sich alles zum Besseren gewendet. Mehr weiß ich eben heute noch nicht. Ist dir Ottochen nicht zu schwer? Gibst du es mir jetzt nicht zum Tragen?«

»Später, sicher, wenn die Leute es nicht sehen. Gleich, gleich ist es soweit.«

Sie kamen an den »Schwedengängen« vorbei. Chiffons Speisekarte, die unter der Laterne jahrelang, von Glas überdeckt, gehangen hatte, war nicht mehr da, nur der Nagel noch, an dem sie befestigt gewesen war. – Vor dem Hause spielten blasse Kinder, hetzten einander im Vorgarten und schössen dann plötzlich auf die Straße hinaus, bis sie eine Frau aus den Fenstern zurückrief, hinter denen sich früher der Klub »Hera« befunden hatte. Jetzt standen die Fenster im Erdgeschoß offen, man sah eine ältere Frau darin herumwirtschaften und Möbel rücken, offenbar war eine der Flüchtlingsfamilien in die Räume eingezogen. Der Umzug war noch nicht ganz vollendet, und man hatte, während man die Möbel richtig stellte, die Kinder noch einmal zum Spielen auf die Straße gelassen, obwohl es schon gegen zehn Uhr abends war.

»Weg ist er, der Hund«, sagte Flossie. »Aber sie sind dem ausgekochten Schuft und seiner luftigen Frau schon bannig auf den Fersen, ich habe es heute abend im Blatt gelesen. Den müssen sie haben, unser alter Herrgott ist doch gerecht, denkst du nicht auch? Ihn und seine ganze Teufelsbande.«

»Und meiner Mutter geht es besser?« fragte Konrad, der noch immer nicht mit seiner Frau über den Bruder sprechen wollte, obgleich sich Flossie alle erdenkliche Mühe gegeben hatte, ihn dazu zu bringen.

»Gut?« wiederholte Flossie, stehenbleibend und das Kind beruhigend, das greinend aufgewacht war, »nicht nur gut, sondern herrlich, tadellos. Sie war nie im Leben so hell wie jetzt, und ich kenne sie doch schon lange, nicht? Am liebsten wäre sie gleich mitgekommen. Aber wie sollte ich sie hierherbringen? Ich wußte doch nicht einmal, wie du mich empfängst, und hatte ordentlichen Bammel, die ganze Zeit auf der Bahn und in der Telephonzelle auch, hast du wohl auch bemerkt!?«

»Du hast doch wohl nicht etwa Angst vor mir, Kind?«

»Nein«, sagte Flossie, während sie ihren Mann voll ansah, der schon lange die Hand von ihrem Nacken genommen hatte, »nein, Konrad, ehrlich gesagt, Furcht nicht. Dazu liebe ich dich eben zu sehr. Ich mag dich eben, das weißt du. Aber sieh mal, deine Mutter, ein wenig ist sie mir noch immer fremd, und ich war es ihr leider noch tausendmal mehr. Es sollte eine Strafe für mich sein, dachte ich mir, als ich den Plan faßte: jetzt fährst du mal hin! Daß es dann so reizend wurde, darüber war ich ganz baff. Und durch mich, wenn sie, das meine ich, wie soll ich's klar sagen, wenn sie dann durch meinen Mund die Schauergeschichte von ihrem Rudolf gehört hätte, so wäre ihr bißchen Liebe oder das ›Mich-in-Frieden-Lassen‹, wie du es nennen magst, im gleichen Augenblick fortgepustet gewesen, und sie hätte mich wieder gehaßt wie früher, als wäre ich schuld an allem Pech. Gott allein weiß, wie sie das wird tragen können. Aber ich bin doch ganz schuldlos an allem. So ist es doch, das müßtest du doch verstehen? Oder verstehst du es nicht, Immchen?«

»Ich verstehe dich – jetzt viel mehr als früher, Flossie. Ich kann es vielleicht nur nicht ausdrücken. Nur das eine kann ich dir sagen, du hast recht getan. In Waldfrieden und auch sonst. Komme es, wie es komme, so wie du es gemacht hast, so war's richtig.«

Flossie lächelte fragend ihren Mann an. Er sah sie an, und plötzlich trat das Bild seines Vaters ihm entgegen. Seit Jahren hatte er ihn in seinen Gedanken nicht so greifbar nahe vor sich gesehen. Er sah ihn, wie er ihn als kleiner Junge gesehen hatte, wenn der Vater der Mutter »Ja und Amen« auf eine wichtige Frage sagen sollte. Er hatte meist nur vor sich hingelächelt und leicht mit dem Kopf genickt. Daheim war immer Frieden gewesen, nie ein Streit zwischen den Eltern, nur manchmal zwischen den Kindern. Jetzt war er, Konrad, der Vater. Er sagte nichts mehr. Er nickte nur zur Bestätigung einmal leicht mit dem Kopf. Flossie verstand ihn. Sie wurde rot, und da sie fürchtete, man könnte im Licht des kleinen Platzes beim Kiosk, dem sie sich jetzt genähert hatten, ihr Erröten sehen, beugte sie sich mit dem Oberkörper über das jetzt unzufrieden vor sich hin quäkende Kind und versuchte es zu liebkosen, indem sie, mit dem Kinn zuerst, dann aber auch mit ihren vollen, festen Wangen an dem Mützchen des Kindes herumrieb und endlich mit ihren unter dem Hut hervortretenden goldfarbenen Löckchen das Kind so lange kitzelte, bis es zu lachen und die Augen weit zu öffnen begann.

Jetzt waren sie an dem kleinen Platze angekommen. Voll Neugierde und mit einem Schimmer von Verständnis blickte das Kind mit seinen großen blauen Augen um sich, plötzlich entdeckte es den Vater, jauchzte mit seinem hellen Stimmchen wild auf, und laut »Bappi« rufend, streckte es die dicklichen, rosig gefärbten, im Laternenlicht mattschimmernden Händchen mit den kleinen Grübchen auf dem Handrücken nach dem Vater aus. Es öffnete den etwas feuchten, korallenfarbenen Mund, wobei der Vater einen neugekommenen Zahn oben und zwei unten entdeckte, winzige, ebenmäßige Zähnchen, die kleinen, weißen Obstkernen glichen. »Was, Ottochen? Wer ist nur da? Wer? Ja, ich bin es!« sagte er mit der naiven Freude aller ernsten Väter, und Flossie, wieder strahlend wie früher, meinte: »Jetzt endlich! Jetzt sollst du sie bekommen und darfst sie tragen bis nach Hause! Darauf habe ich mich gefreut die ganze Reise, daß dich das Kind wiedererkennt. Geplappert hat es ja immer von dir, und alles war für sie Bappi, was sie sah und was sie anfaßte.«

Sie setzten sich, müde von dem langen, warmen Tag, auf eine Bank in der Nähe des Kioskes, und ihre Blicke hingen, während die Gedanken weit fort waren, an den aufregenden Schlagzeilen der Tageszeitungen und an den fleischfarbenen Gestalten und den süßlich lächelnden Gesichtern auf den Titelblättern der Magazine hinter den Glasscheiben des Zeitungsstandes. Über ihnen war das Laubdach eines Baumes, durch das der lauwarme Wind leise raschelnd hindurchging. Den Oberkörper des Kindes und das Köpfchen mit den sich bald schließenden, bald wieder neugierig aufguckenden Augen hatte der Mann im Schoß, und er fühlte, wie das Kleine, schon wieder im Einschlafen, das Köpfchen drehte, um ein noch bequemeres Plätzchen in seinem Schoße zu finden. Die dicken strammen Beinchen mit den von Flossies Hand gestrickten, hoch hinaufreichenden Strümpfchen und mit den kleinen, vorne stumpf abschneidenden Schuhchen aus braunem Glacéleder lagen auf dem Schoß der Frau und rührten sich nicht. Flossie hatte die Hände unter die Füßchen gebreitet, vielleicht, um ihr Musselinkleid (es war immer dasselbe, weiß mit Grün garniert) zu schonen.

Die Gatten schwiegen lange, vielleicht um in der Stille die gegenseitige Nähe noch mehr zu fühlen – dann begann Flossie mit ihrer etwas tiefen, raunenden Stimme leise, um das allmählich einschlafende Kind nicht zu wecken, von Konrads Mutter zu erzählen: »Der alte Professor in Waldfrieden ist seiner Sache bombensicher, und ich hab's ja auch mit eigenen Augen gesehen, die alte Dame geht jetzt großartig auf. Als du drüben gewesen bist, beim Bruder, hab' ich von hier aus telephonisch dort bei ihr angefragt, ob es ungefährlich ist. Nicht für mich hatte ich Angst, nur für die alte Dame und für das Kind natürlich auch. Ich habe von Papas Schreibtisch aus telephoniert, während er wieder mal in einer Versammlung gedrommetet hat wie das Jüngste Gericht, ihn kennst du ja, da habe ich leise nach Waldfrieden geflötet, und lange genug hab' ich gesprochen. Papa, der gute große Klaus, wird sich glatt auf seine Rückseite setzen, aber mächtig, wundern wird er sich über die Telephonrechnung, im Juli kommt sie, und sie knausern dort schon so mit jedem Stadtgespräch, aber es mußte ja sein, etwas mußte eben mit mir werden nach alledem, was du mir gesagt hast – und ich dir auch. Dabei wußte ich doch schon die Familienüberraschung, und wenn du ein winzig bißchen näher hingehorcht hättest, hättest du mich schon verstanden, du verstehst doch auch sonst alles so gut, auch ohne Pfählewinken. Aber –«

Sie schwieg und wartete, ob er etwas antworten werde. Er sagte nichts. Sein Blick hing an ihr. In sein sehr abgemagertes Gesicht kam ein Ausdruck, wie sie ihn nicht gekannt hatte an ihm, aber nicht noch mehr ernst und streng und fremd, sondern vielmehr leicht, heiter und ihr so sehr nahe, daß ihr noch viel wärmer ums Herz wurde. »Der Professor war sofort im Bilde, und er hatte gar nichts gegen mein Kommen, im Gegenteil, es war, als hätte er darauf gewartet, und er deutete schon an, daß es mit deiner Mutter jetzt wie im Mirakel gehe, und noch viel besser wird sie enden, und ich wollte meinem Immenpeter sofort die gute Botschaft bringen, rief an bei euch im Gefängnis, sagte aber nicht, wer ich bin, und da haben sie es dir wohl nicht bestellt, oder doch? Heranzukriegen warst du aber nun einmal nicht, fünfmal mindestens habe ich angerufen. Ja, ich lüge nicht! Dreimal war es sicher. Konntest wohl noch nicht fort von deinem Bruder?«

»Und meine Mutter war freundlich zu dir?« fragte Konrad, wobei sein Gesicht sich noch mehr aufhellte und er sich noch näher zu ihr setzte.

»Freundlich? Immenengel!! Selig war sie, als wir da eintrudelten in Waldfrieden, richtig überglücklich, daß sie endlich einmal wieder mit einem vernünftigen Menschenkind könnt' reden, und zwar über dich und natürlich ihn und auch mich. Und ganz besonders das Kind, das blabberte und quatschte immer mit, ich verstand es, ich las in meinem Kind wie in einem aufgeschlagenen Buch, den anderen wird es vielleicht wie Französisch geklungen haben, das viele Reden hat es vielleicht von mir, denkst du? Aber das wächst sich mit den Jahren aus, sieh, als kleines Kind, glaub' mir, war ich so stumm, wie wenn ich aus Marmorstein wäre, das ist doch ulkig, nicht? Aber wir verstanden uns himmlisch, deine Mutter und ich, und Ottolein natürlich immer mit, so kannte ich die alte Frau noch nicht, ich fürchte, sie war sogar zu nett zu mir, und später tut es ihr vielleicht leid – gerade das ist dann für mich scheußlich und eklig. Und wir sprachen so klug, richtig wie nur Frauen miteinander reden, das ist doch nicht übermütig, wenn ich das sage – wir sprachen über den Haushalt und so, aber nicht über die Wiedergeburt des deutschen Volkes und nicht über die großartigen Teufelskerle, unsere Todfeinde, die Juden, wie daheim bei uns immer die Rede geht zwischen meiner Mutter und Papi und Doralies im Bunde, und über deine Erhängten, Verbrannten und Verwesten verlautete zwischen deiner famosen Mutter und deiner dummen Frau kein Sterbenswörtchen. Und was sind mir gar erst die Juden der ganzen Welt? Mich interessiert nur mein Haus und meine Kinder, und du, mein Konrad, mein guter, verläßlicher Mann. Die anderen Leute dort in Waldfrieden, laß dirs im Vertrauen sagen, du großer, alter Immengeist, sind natürlich alle miteinander überdreht, nicht die Kranken nur, die leben ja davon, sondern auch der Professor mit seinen weisen Worten und die alte Oberschwester mit ihrem wonnigen weißen Stoppelbart und Schifferkrause. Und mein Kind, was haben sie mit dem hergemacht! Sie müssen schon seit Jahr und Tag kein kleines Kind gesehen haben, staunten es an als zehntes Weltwunder. Neun gibt es ja schon, oder sind es neuerlich bloß noch acht?« – Jetzt mußte er lachen, und es war nicht mehr sein bisheriges stummes Lachen, bei dem er lautlos die Luft aus dem offenen, mehr grinsenden als lachenden Munde ausgestoßen hatte, sondern ein richtiges, befreites Lachen, das durch den ganzen Körper bis in den Rücken ging und sich mit seinem Zittern der Bank mitteilte und das Flossie in ihrem dünnen Kleidchen voller Lust als Vibrieren im Rücken empfand. Flossie lachte mit, dann hörte sie plötzlich auf: »Den Koffer hast du doch?«

»Gewiß, da neben der Bank steht er.«

»Weißt du, was für Schätze ich in ihm mitbringe? Ach Unsinn, Schätze keine, nur mein arm bißchen Zeug, ich wollte doch nur auf zwei, drei Tage nach Waldfrieden, und dann wurde eine Woche draus und mehr, warum hat der böse Junge nicht geschrieben? Und dabei war ich so hungrig nach dir, und alle ihre Liebe und Zärtlichkeit war mir sogar lästig, wenn ich doch voller Sorge an dich und an unser Heim dachte. Ich könnt' auch nicht richtig essen, und als die Mutter mir Blumen heute morgen an die Bahn brachte, da hab' ich sie gleich nach der Abfahrt in den Koffer gepackt, denn richtig gefreut haben sie mich nicht, und wie sollte ich sie tragen? In der einen Hand den Koffer, im anderen Arm das Kind? Werden wohl ein bißchen in der Enge zusammengeschnurrt sein. Aber oben, ach, was freue ich mich doch auf unseren Tisch und alles, alles daheim, ja, weißt du, da gibst du mir ein Pyramidon, das lösen wir im Wasser auf, stellen die Blumen rein, und magst sehen, da blühen sie auf, Wunder wie. Und weißt', deine Mutter muß auch mit den Füßen in Pyramidonlösung gestanden haben, so jung ist sie geworden, und sogar schön, und das war sie doch nie, oder ich hab' sie nur so gekannt, so verhärmt und verknittert, verzittert, und immer auf den Knien und so oben raus, mitten in Himmel rein, ohne Rückbillett. Jetzt ist sie jung geworden, schneeweiß zwar, aber seidenweich und furchtbar voll das Haar, du wirst stolz sein auf sie, wenn sie herkommt. Und von der Frömmelei keine Spur. Nur im Blick mal etwas Fremdes! – Schöne, weiße Haare! Was hat das unser Ottolein gefreut! Sie war immer mit den dicken Patschhändchen drin in Großmutters Lockenwald, hat feste gerissen und hat ihr mehr als ein Härchen gekrümmt und gekreischt dazu aus lauter Wonne, der Bengel! Und die Alte war ja auch absolut hin mit dem Stück! ›Bengel‹ und ›Stück‹ und ›Alte‹, das soll ich ja doch eigentlich lieber nicht sagen!?«

»Sprich wie du willst, Bengel oder Engel, alles gleich.« Er war sehr glücklich, sie bei sich zu haben, und hätte sie immerzu sprechen hören mögen.

»Und wie kommen wir heim, Junge? Durch die Platanenallee? Das ist der kürzeste Weg?!«

»Warum denn nicht?«

»Weißt du nicht, Immlein?«

»Nun? Was für ein Geheimnis wird es denn jetzt sein, was du so wisperst?«

»Durch die Platanenallee? An des alten Rosenfinger finsterer Villa vorbei?«

»Ach Flossie, mich schreckt das nicht!«

»Und mich noch weniger. Also los! Und jetzt bekommst du das Kind, und das Köfferchen trag' ich.« – Sie bettete das schlafende Kind sorgfältig auf seinem Arm, auf dem linken, so daß dessen schlaftrunkenes Köpfchen mit dem weißen troddellosen Mützchen dem Vater auf seine rechte, etwas schiefe Schulter herabsank.

»Und weißt du, was sie gelernt hat, unsere Otto?« fragte sie, während sie von dem Platz mit dem Kiosk in eine der breiten, baumbestandenen, stillen und düsteren Parkstraßen abbogen.

»Doch nicht schon lesen und schreiben und in alten Büchern schmökern?« antwortete er.

»Nein, lachen hat es gelernt, und zwar so, wie ich es noch nie bei einem so kleinen Kinde gesehen habe, und vorher war Ottochen doch nie dazu zu bringen.«

Sie hatten die ersten Schritte in die »Kastanienallee« gemacht, dann waren sie links abgebogen, dann wieder rechts. Die Laternen waren hier ziemlich weit voneinander entfernt, aber in den meisten Villen war Licht, aus den geöffneten Fenstern drang Radiomusik, aus jedem neuen Fenster die Fortsetzung der alten Melodie. Die Bäume standen dicht und voll gegen den enzianblauen, sternfunkelnden, aber mondlosen Nachthimmel, und von den Kastanienbäumen lösten sich die späten Blüten und fielen sacht knisternd, im Licht der Laternen aufschimmernd, zur Erde hinab, getragen von dem lau über die Dächer hauchenden Nachtwind. Die Villa Rosenfinger war die einzige in der Straße, die ganz dunkel in ihrem massigen, grauen, prachtvollen, steinernen Bau dalag. Vor den Rasenflächen war ein herrliches schmiedeeisernes Portal, auf dem sich schon Rost angesetzt hatte, den Konrad, mit dem Finger vorbeistreifend, abnahm, dabei der Nacht gedenkend im Herbst 1918, als sein Bruder durch dieses Tor gegangen war, in der Hand Veras militärisches, feldgraues, blau gefärbtes Mäntelchen mit den Metallknöpfen schlenkernd. Zwischen den Eisenstäben schaukelte ein Karton mit einer durch Wind und Wetter schon stark hergenommenen Inschrift: Zu vermieten, im ganzen oder geteilt, oder zu verkaufen. Näheres durch Jakob Zollikofers Erben.

Unwillkürlich war ihr Schritt schneller geworden, der Atem ging ihnen unruhiger, an der Ecke blieben sie stehen, jetzt atmeten sie wieder auf, ihr Schritt kam in ein und denselben Takt. Das Kind schlief nun sehr tief, man hörte es langsam und sehr regelmäßig atmen, plötzlich aber nieste es, eine der herabfallenden Kastanienblüten mußte es gekitzelt haben. Die Eltern sahen hin und beide lachten, bald wieder in ihre Gedanken versinkend. Das Kind schmiegte sich, im Schlaf die Kühle der Nacht empfindend, trotz seinem gestrickten Kleidchen und den festen langen Strümpfen, noch enger an den Vater und dessen Wärme. Alle Gliederchen waren willenlos gelöst, die Füßchen baumelten im Takt der Schritte, sich ab und zu in der Uhrkette des Vaters verfangend, das Köpfchen war so tief hinabgesunken, daß sich das Licht der Laternen auf seinem bloßen, auch schon mit winzigen Flaumhärchen besetzten Nacken brach, der Atem strömte mit dem leisen Schnarchen des Kindes regelmäßig über Konrads Schulter hinab. Für seine Händchen, die für sein Alter etwas groß waren, hatte es sich in der Nachtkühle ein besonders gutes Plätzchen gesucht, alles ohne richtig aufzuwachen: die rechte Hand hatte in dem Raum zwischen dem Westenausschnitt und dem Hemd des Vaters Unterkunft gefunden, die andere war aber, genauso wie die seines Onkels Rudolf in dessen Kinderzeit, in der Ellenbogenbeuge seines Trägers untergeschlüpft. Hier ruhte sie, sich wärmend und zu einer festen Faust geballt.


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