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VII.

Am Morgen des 17. Juni wollten Vera und Chiffon abreisen. Chiffon hatte angenommen, daß seine Frau mit jedem Ort einverstanden sein würde. »Also Köln? Vera, ja? Wir bleiben nicht lange dort. Es soll nur die Zwischenstation sein für Paris, die schönste aller schöschönen Städte.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber wir müssen uns entschließen. In zwanzig Minuten geht der Zug, das große Gepäck muß aufgegeben werden!« Sie schüttelte immer noch den Kopf, diesmal mit immer kleineren, aber schnelleren Bewegungen, so daß es zum Schluß aussah, als zittere ihr Köpfchen.

»Was willst du also?« fragte er.

»Hier bleiben!«

»Hier?«

»Bei meinem Rudolf bleiben! Wo wirst du wohl jetzt sein, Rudolf, mein Baby, mein Schöner, ach, wenn ich nur daran denke, er und in einer Zelle!«

»Hast du dich denn nicht endlich damit abgefunden? Er braucht dich nicht. Er hat doch seinen Bruder!«

»Aber mich hat er nicht! Rudolf, wo bist du? Rudolf, Udolf, Rolf, Olf!« sagte sie, die Worte ohne Anfangsbuchstaben mit erlöschender Stimme wiederholend, und plötzlich entsann sie sich wieder des Lyzeumspanisch, das zu der gleichen Zeit unter den Backfischen aufgekommen und besonders von ihr damals zur Meisterschaft gebracht worden war, als sie die beiden, Chiffon und Rudolf, kennengelernt hatte.

»Erstehst U ich, Iffon? Ummes Ind?«

»Natürlich verstehe ich. Aber was soll das jetzt? Bist du mit Paris einverstanden?«

»Aris? Etersburg? Reußisch Renzlau? Ufterle? Iffon? Anfred? Oder Rag? Ja, Rag! Rag, eißt U, o as ist? Nein, jetzt habe ich ›ist‹ gesagt, die Partie hat diesmal unser Veralein verloren! Veralein üde ein, Äugelchen zu! Rag ich ort! Rag ich ort!«

»Wohin also, Vera?«

»Ach. Rag?«

»Meinst du Prag?«

»Trag mich fort!« sagte sie leise und tief.

Sie streifte die Wildlederhandschuhe ab, und lächelnd ihre eigenen Hände mit dem weichen Leder liebkosend, sagte sie, während sie ihre großen Augen mit einmal voll zu ihm aufschlug und unvermittelt in ein gurrendes Lachen überging: »Manfred, Anfred, Fred, Red, Ed und du! Wir können ja gar nicht fort!«

»Warum?«

»Ich habe ja alle Flammen in der Wohnung brennen lassen!«

»Ach, du Kindsköpfchen, deshalb hältst du mich auf? Es ist die höchste Zeit, wenn wir fortwollen. In zehn Minuten ist der Kölner Zug da! Ich muß zur Kasse.«

»Eh icht ort! Nein! Oder ja! Lieber doch ja! Ja! Laß Verachen allein! Ich will dableiben. Verachen immerzu weinen, dableiben, ihrem Mann immerzu nachwinken, auf der Hutschachtel einschlafen. Nicht mehr aufwachen. Zur Strafe!«

»Vera, Närrchen, ich bitte dich!«

»Nein, ich bitte dich, Kuschelchen! Laß mich da. Ich bin dir nur eine Last.«

»Nein, keine Last! Ich brauche dich! Wir werden deshalb den Rudolf nicht vergessen.«

»Wir werden ihm gleich aus Prag eine Ansichtskarte schreiben?«

»Ja, alles, was du willst. Nun, bitte ich dich, erhebe dich schnellstens von deiner Hutschachtel und komm mit mir zur Kasse.«

»Ill icht!«

»Laß doch die dumme Babysprache!«

»Früher hast du immer gesagt, sie ist süß! Und Rudolf hat sie auch immer gefallen.«

»Ich habe das nie gesagt.«

»Aber Rudolf. Ja, er! Ich gehe nicht fort von hier.«

»Dann bleibe auch ich. Ich verlasse dich nicht. Leider muß ich dann gegen ihn aussagen. Sieh meinen Hals an. Die Würgespuren lasse ich sofort konstatieren vom Gerichtsarzt. Du weißt, was das für ihn bedeutet. Nimm doch Vernunft an, Liebes! Du warst doch schon heute morgen soweit ...« Er faßte sie fest am Handgelenk, um sie emporzuziehen.

»Icht ehe uhn, ösewicht!«

»Also bleib da.«

»Ausschlafen? Darf ich? Ein bißchen?«

»Gut!«

»Und Prag?«

»Gut!«

»Und zwei zweiter Klasse!«

»Wir haben aber so wenig Geld! Veralein, weißt du das nicht? Wir konnten doch nichts Rechtes mitnehmen?«

»Also dann erster, ja?«

»Nein!«

»Ein? Oeser Ann ein Erz ür Aedylein aben? Nein, Manfred, ich bin schon stille. Aber du wirst bereuen, daß du mir nicht gefolgt hast. In der Luxusklasse bist du vor der Polizei am sichersten! Und dort paßt du hin, Muschelchen, überall haben sie da Samt und Seide. Und du bist mein liebster Chiffon. Ich habe es mir immer so gewünscht, sooo!! Wir waren ja nie zusammen fort. Ich will dich auch – furchtbar, urchtbar liebhaben. Nur bleib jetzt hier!«

»Komm doch mit! Wir müssen sehen, wie wir am besten den Anschluß nach Prag bekommen!«

»Sag, Manfred, Mandily, Andily, warum können wir nie in Frieden und in Ruhe leben wie gute brave Eheleute mit einem guten braven Geschäft?«

»Ja, das sage ich dir später. Jetzt muß ich an die Kasse.«

»Ich lasse dich aber nicht fort. Ich bleibe nicht allein! Putziliy, meines! Mandily, süßes! Allein bleibt Vera nicht! Ich fürchte mich ja so. Gestern nachmittag nach Tisch hat mir noch von dir geträumt ...«

Laß mich fort. Ich muß mich doch um alles kümmern. Wir fallen auf. Wir können doch nicht hier auf dem Bahnsteig bleiben. Wir müssen ...«

»Nein, hör nur zu! Mir hat gestern von dir geträumt, ganz schauerlich, und doch – weißt du, tief ins Mark, dreißig Meter tief ... Tiefe Keller gibt es wohl in den Gefängnissen nicht mehr, wo sie den armen Rudolf hintun können? Nein, das haben sie doch mit der Revolution abgeschafft?«

»Laß mich doch nur auf fünf Minuten fort!«

»Liebst du mich denn nicht mehr? Jetzt redest du von fünf Minuten, das hat auch Rudolf immer gesagt, und dann ist er jahrelang fortgeblieben. Und geschossen hat er auch. Wenn es ihm gerade mal durch den Kopf geht! Und dabei ist er so lieb! So ritterlich! So zart! Aber den guten Paletot hat er doch kaputtgemacht! Neben der Naht ist er entzweigegangen. Ach, ich habe ja soviel Pech mit den Männern!«

»Was soll denn nur jetzt geschehen?« fragte er ganz verzweifelt. »Draußen wartet unser Gepäckträger bei der Gepäckkasse mit den großen Sachen, und hier ...«

»Komm, Manfred«, sagte sie, »ach, ulkig, wie du aussiehst, grau in grau, was ist dem armen Mann über das Leberlein gelaufen? Bist doch auch müde?! Komm setz dich neben mich, auf die Hutschachtel, die ist aus Sperrholz und fest wie Eisen. Die zwei Eisen haben sie dem armen Jungen wohl gleich abgenommen, wie sie ins Gefängnis gekommen sind? Mit dem Auto gehts ja schnell. Hättest mich doch nur mit seinem Bruder telephonieren lassen! In zehn Minuten wäre es erledigt gewesen. Und meine Mutti hätte ich doch auch ein Wort wissen lassen müssen. Und meine Kusine auch! Mit leichtem Herzen wäre ich abgereist ...«

»Ich hole alles nach. Von Prag rufen wir ganz bestimmt an!«

»Icht ügen! Anfred, icht ügen! Ersprichst u as?«

»Ach, doch, alles!« sagte er.

»Ich bin wohl dumm? Warum bist du so kalt?«

»Ich?«

»Freust du dich nicht auf unsere Hochzeitsreise?«

»Doch, nur laß mich jetzt das Notwendige erledigen. Und inzwischen rühre dich nicht fort von hier, ich bitte dich!«

»Ach Eralein, as ist u üd!« sagte sie. Sie gähnte laut, ihr rosiges Mäulchen mit den hübschen, scharfen, bläulich weißen Zähnchen machte sie möglichst weit auf, dann setzte sie sich, den Kopf bis an die Öhrchen tief in die schwarzweiße Federboa hineingekuschelt, bequemer auf der bedenklich knarrenden Holzhutschachtel zurecht, zündete sich aus ihrer goldenen Damentabatiere (auch dies war eines der Pfänder der spielwütigen Emigranten aus O. S. gewesen) eine Zigarette an. »Veralein, was bist du müd!« Als ihr Mann abgehetzt und noch fahler als sonst zurückkehrte, fand er seine Frau, auch sie im Gesicht fast ohne Farbe (bloß die winzigen Sommersprossen, über der Nasenwurzel quer hingestreut, zeichneten sich etwas deutlicher ab), friedlich schlafend wie nach Tisch daheim. Und so ruhig, daß die kleinfingerlange Asche von ihrer Zigarette noch nicht abgefallen war. »Kind! Kind!« sagte er leise zu ihr und machte sie wach. Sie schüttelte den Kopf, blickte ihn plötzlich groß an, als hätte sie von etwas ganz anderem geträumt. Die kleinen Gepäckstücke nahm der Träger, und nach fünfzehn Minuten kam der Zug, mit dem sie einen bequemen Anschluß nach Prag hatten. Prag war für Chiffon viel gefahrloser als Köln.

Mittags kamen sie an eine größere Station, stiegen aus und aßen beide mit großem Appetit, und Chiffon, heute von seinen Magenschmerzen befreit, Vera an seiner Seite, fühlte sich zuversichtlich wie schon lange nicht. Am Nachmittag ging die Reise weiter. Erst spät am Abend schlief sie ein, noch Schokoladenreste auf den üppigen, kirschroten Lippen und das weiße Seidenmäntelchen voller Kuchenkrümel. Es wehte kühl durch das herabgelassene Fenster. Ein paar von den Krümeln hatten sich über ihrer kleinen, runden Brust in den Knopflöchern des Mantels versteckt, und er sah, wie sie sich mit jedem Atemzuge hoben und senkten. Die Deckenlampe, in blauen Stoff gehüllt, sandte ein einschläferndes Licht hinab. Seine Frau kuschelte sich noch enger an ihn, sie duftete sehr süß, jetzt anders als früher, er wußte nicht wie...

Er mußte kurze Zeit, aber ungewöhnlich tief und schön geschlafen haben, als ihn der wilde Schmerz im Magen wieder erweckte. Nur zu gut kannte er ihn. Seine Frau schmiegte sich noch inniger an ihn, aber er konnte es nicht mehr ertragen, leise erhob er sich und schlüpfte aus dem dämmerigen Abteil heraus. Er drückte sich schwankend den Korridor entlang, er suchte die Toilette auf, wollte ein Taschentuch mit Wasser tränken und sich das feuchte Tuch auf den Leib legen. Aber irgendein Unverschämter hatte schon alles Wasser aus dem Reservoir verbraucht. Wie konnte jemand so gemein sein? Vielleicht hatte der Unverschämte aus Schadenfreude so gehandelt. Was war zu tun? Es kamen nur kärgliche Tropfen. Er preßte die Magengegend fest gegen die Kante des Waschbeckens und hielt den Atem an.

Aber ein verrußter, etwas schmieriger Spiegel zeigte ihm, der gerade jetzt nicht darauf vorbereitet war, sein eigenes Gesicht. Niemals hatte er es besonders gern gesehen, aber jetzt, im Krampfanfall, nach dem jäh unterbrochnen Schlaf, in seiner Wut über das ihm »gestohlene« Wasser, erkannte er es kaum wieder. Er, der Schönheit und gepflegtes, erfreulich anzusehendes Wesen so sehr liebte, sah einen frühzeitig verwelkten, fahlen, bei aller Intelligenz häßlichen Menschen unbestimmbaren Alters mit verzerrten Zügen ohne jeden Reiz. Ja, wegen dieses Schimmers von Intelligenz waren die Züge vielleicht besonders abstoßend. Er sollte das sein? Diese hochgetriebene Stirn voller Querfalten, die widerliche, höhnische Partie um den Mund? Alles »echt Chiffon«, der reinste Chiffonismus? Auch wenn er lächelte, voller Hohn über sich selbst, hellte sich das Gesicht nicht auf, selbst wenn er auf seine Lippen biß, von einer neuen Krampfwelle geschüttelt, er gewann keine gute Farbe, kein kräftiges jugendliches Rot, wie es die Lippen seiner Vera gezeigt hatten. Sollte er sich vielleicht schminken, wie es ein anderer älterer Herr getan hatte? Er sah seine Haare, die an den gelblichen, eingefallenen Schläfen schon etwas spärlich zu werden begannen, zerrauft, in dicken, schnurartigen fettigen Zotteln zu beiden Seiten des noch immer haargenau (wenigstens in diesem Punkte noch echter Chiffon) gezogenen Scheitels zurechtgestrichen. Die Ohren fledermausähnlich dünn, das linke, vom Schlafen gedrückt, süßlich erdbeerrot und, wie es schien, noch stärker abstehend als das rechte. Auch das war »Chiffonismus«, daß er sich nicht damit abfinden konnte. Denn er tat das, was seine Mutter ihm als Kind immer getan hatte und was ihn schon damals zu furchtbaren Zornausbrüchen gereizt hatte, er preßte das abstehende Ohr mit der Hand fest an die Schläfe, als könne es dann besser anliegen und aus ihm einen schönen, prachtvoll aussehenden Menschen machen, aus dem elenden Lumpen Chiffon ein edles, wunderbar gewebtes und sublim gefärbtes Stück Seide. In B. redete er den »Kindern« ein, Chiffon bedeute Seide, aber in seiner Heimat hieß es Lumpen! Wer hatte ihm immer den Spitznamen nachgetragen? Vielleicht gar er selbst? Freute er sich über den eigenen Schaden, den eigenen Spott? Und wenn er auch die Augen von diesem schauderhaft häßlichen Bilde abwenden wollte, sein eigener Blick hielt ihn fest, es war ein unbezwingbarer Drang in ihm, sich selbst zu beobachten, ja, jetzt noch den Mund aufzusperren und die Zähne, diese häßlichen, trotz aller Mühe des Zahnarztes nicht zu bleichenden, langen, vorstehenden Zähne zu betrachten.

Wohl sah er jetzt in seinem Geiste seinen Todfeind Rudolf mit verkehrt aufgesetztem Hute, fahl wie die Wand, den Korridor der »Hera« passieren, sich umwenden, um die Räume noch einmal zu sehen, aber er konnte nicht fahler gewesen sein, als jetzt er selbst. Voller Mitleid strich er sich über die Stirn. Er hatte das arme linke Ohr zu brutal an die Schläfe gepreßt, es war noch viel röter geworden, jetzt streichelte er es, er fuhr den heißen, schmerzhaften Rillen mit dem Zeigefinger nach, er faßte das Ohrläppchen zwischen die Fingerspitzen – und jetzt ließ er den gepreßten Atem in seiner beengten Brust sich lösen und ließ sich seufzen, soviel er wollte – – und mit einemmal, ganz allmählich, aber doch merkbar, verzog sich der bohrende, fressende Schmerz aus dem Magen, und die bittere Säure, die eben in seinem Munde aufsteigen wollte, versiegte, als er das Fenster öffnete. War ein Rudolf das alles wert?

Langsam erhellte sich vor dem offenen Fenster die Landschaft. Es fehlte nicht viel auf vier Uhr. Sanfte Hügel, reifende Felder, noch unter dünnen, sich am Boden hinwindenden Nebelschwaden halb verborgen, junge Wälder, die Baumkronen triefend von Nässe, unter dem goldigen Widerschein von den beleuchteten Zugfenstern, dann Landstraßen durch einen dicken Schlagbaum vom Zuge getrennt, dann wieder bebautes Gelände, die ersten Arbeiter, den Kopf zwischen den Schultern, den hohen Rechen auf der linken Achsel, eine alte Frau, einen Knotenstock in der Linken, mit der Rechten eine kleine Ziege hinter sich her zerrend ...

Plötzlich lebte eine Erinnerung in ihm auf an die blutjunge, mit langen Zöpfen einherschlenkernde Vera in ihrem schottisch karierten Lyzeumskleid, das sie damals immer getragen hatte. Wie knisterte es um ihre dünne, nicht ganz reife, elfenschlanke und vom ersten Tage schon aufregende Figur, als sie es endlich errötend fallen ließ und ihre Händchen, ineinander verschränkt, auf den Rücken legte, sich ihm entgegenbiegend mit allem, was sie hatte, die Kleine, das Kind! Noch einmal lieben können! Aber war es denn zu spät? Er wollte und konnte nichts bereuen. Aber er konnte vielleicht etwas mehr Mitleid haben mit sich selbst, sich selbst mehr gönnen, den anderen mehr gönnen, das Gelübde, das er gestern gemacht hatte und das zu brechen ihm ein teuflischer Spaß gewesen wäre, nun doch halten, noch mehr in seiner Vera aufgehen, sie noch mehr lieben, und zwar in ihrer Art, so wie sie es brauchte, nicht nur so, wie er es immer für sich gebraucht hatte! Vergessen, so wie jetzt das Magengeschwür in seinem Innern ihn vergaß ... Rudolf war doch das alles nicht wert.

Mit einemmal lächelte er über sich. Er begriff das Komische seiner Erscheinung, den alten, abgebrühten Chiffon in einem Eisenbahnklosett über die moralischen Güter dieser Welt philosophierend. Jetzt sah er sich tapfer an. Er fand sich nicht mehr so abstoßend häßlich. Mit einem Male verstand er, daß sich Vera trotz ihres Rudolfs und trotz tausend solcher Rudolfe nicht von ihm getrennt hatte. Er besaß sie doch. Er konnte doch versuchen, ihr noch näher zu kommen. Er konnte ihr erzählen, was er um ihretwillen getan hatte. Hatte sie gestern viel um seinetwillen getan, warum sollte sie nicht verstehen, daß er auch um ihretwillen viel aufgegeben hatte?

Er atmete schnell. Und während sonst bei schnellen Atemzügen sich die Wunde im Magen immer bemerkbar gemacht hatte durch Reißen und Zucken und Würgen bis in den Hals, jetzt konnte er so schnell atmen, wie er wollte, und er fühlte sich nur freier und sorgenloser und leichter darnach.

Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte sie in so schnellen und kräftigen Zügen, daß sie knisterte.

Die Sonne brach jetzt immer mächtiger zwischen dem dichten Morgengewölke durch. Man war in einer Mittelgebirgslandschaft, in einem enger und dann plötzlich wieder breiter werdenden, wenig bewohnten Tal, magere Wiesen, wenig Felder. Felsen aus glatten, großartigen, mauerartig aufeinandergetürmten Sandsteinquadern erhoben sich aus dichten, steingrünen Nadelwäldern zu beiden Seiten des von leichten Nebelschwaden verhangenen Flusses, auf dem jetzt bei einer Kurve der Strecke die Silhouette eines massigen, schwarzen Remorqueurs auftauchte, der eine lange Reihe dunkelgrauer Lastkähne hinter sich herschleppte.

Er erinnerte sich der Lebensgefahr, in der er gestern nacht geschwebt hatte. Daß es die Welt doch nicht ganz so schlecht mit ihm meinte, tröstete ihn darüber hinweg, daß er sein warmes Nest bei den Kindern hatte aufgeben müssen. Der neue Tag kam wunderbar und herrlich auf, aus Veras Abteil strömte ihm leiser Parfümgeruch entgegen und ihr ihm so vertrautes Aroma, das immer stärker wurde, je näher er kam.

Im Schlafe sah Vera bezaubernder aus denn je. Etwas Unberührtes, Jungfräuliches mischte sich unter dem zerrauften Gewimmel ihrer rotblonden, gelösten Locken mit dem Ausdruck ungebrochener Sinnlichkeit. Aber zum erstenmal sah Manfred, ganz nahe über sie gebeugt, zwei wie mit einer Nadel gezogene Linien von der Nasenwurzel sich zu den Mundwinkeln ziehen. Sie erwachte unter seinem Blick, ihre großen graugrünen Augen öffneten sich, ihre Mundwinkel verzogen sich, halb wie zum Weinen, halb wie zum Lachen, und am Ende gähnte sie, ihre Arme weit ausstreckend und sie dann um Manfreds dünnen Hals zusammenschließend. Er fühlte noch die von Rudolfs Manöver an der Kasse zerkratzte Stelle vorn über der Kehle, aber selbst über der wunden Stelle tat ihm die Umarmung seiner Vera wohl.

»Hast du wohl auch geschlafen, Manfred?« fragte sie. »Ist es nicht märchenhaft in der ersten Klasse? Die kleidet uns, ja? Du siehst so jung heute aus. Weißt du, wenn wir in Prag sind, lassen wir dir die Haare färben, schön dunkel, willst du?« Er lächelte nur still vor sich hin mit seinen dünnen Lippen und sagte nichts.

Der Schaffner trat ein und sagte, daß man in einer halben Stunde an der Grenze sein würde. Immer war es Manfreds Sorge gewesen, wie er mit seinen vielen Rauschgiften über die Grenze kommen würde, denn es hieß, daß man zwar oft unmethodisch, aber manchmal sehr streng alles revidiere, und er hatte sich früher nie von seinem Vorrat trennen wollen, der ihm soviel Gewalt über die Kinder gab und so leichten, schönen Gewinn. Aber heute, in der Nähe seiner Vera, die ihn gar nicht aus den Armen lassen wollte und seinen grauen Kopf sogar an ihre Brust betten wollte, faßte er den Entschluß, die Rauschgifte zu vernichten. Er holte den Koffer, in den vor 24 Stunden die Pulver eingepackt worden waren, aus dem Gepäcknetz, nachdem er sich mit sanfter Gewalt von Vera freigemacht hatte. Sie sah ihn erstaunt an. Er öffnete den Koffer und begann die Pulver, die roten zuerst, zum offenen Fenster hinauszuwerfen. »Was fällt dir ein, Manfred, nicht doch! Weißt du denn, was du tust?« Er nickte mit dem Kopf. »Ach heb doch wenigstens ein paar für mich auf! Hast du es mir denn nicht versprochen?« Er schüttelte den Kopf. »So liebst du mich! O iebst u ich?!« wiederholte sie.

»So und noch viel mehr!« sagte er. »Wiwiwiwillst du wiwiwissen, wie?« Mit einem Male war er wieder in sein Stottern geraten. War es ihm schon so zur zweiten Natur geworden und war die zweite Natur stärker als die erste? »So und noch viel mehr«, setzte er fort, glücklich, daß er das Stottern überwunden hatte, »soll ich dir sagen, wie? Soll ich dir sagen, was ich alles für dich getan habe? So allerhand, aber nur um deinetwillen, Vera, soll ich? Nun?« Sie antwortete nicht, die scharf eingeritzte Linie um den Mund vertiefte sich. Er verstand nicht, daß er sie bis jetzt nie bemerkt hatte. Einige Stäubchen waren auf die weißschwarzen Federchen ihrer Straußfedernboa geflogen, sie blies sie fort. »Sieh nur, wie wenn es schneit! Nicht? Aber was tust du jetzt? Auch die grünen Pulver tust du weg? Die Mocks? Warum denn? Was ist denn in dich gefahren? Die tun doch keinem mehr etwas, die sind doch nur zum Geldverdienen da?«

»Wir werden jetzt auf ganz andere Weise Geld verdienen«, sagte er.

»Wir? Ich auch? Ich kann doch nichts, ich bin so dumm wie ein Kind, ein Ind, ein Baby, ein Aby, ein Alg? Oder doch, eins kann ich, Lyzeumspanisch! Da kann ich Tunden geben, was glaubst du? Sag, Rudolf wird doch nicht glauben, daß ich ihn an die Grünen verraten habe? Er hat mir doch immer ganz vertraut?!« Und plötzlich auf ein ganz anderes Thema übergehend: »Was hast du da? Was ist in dem Glasröhrchen drin? Laß mal sehen! Veronal? Ja, was ist das? Ve-ro-nal? Was kann das?«

»Das ist nur ein einfaches Schlafmittel. Wenn man das in etwas Wasser nimmt, schläft man tief ein und wacht nicht so leicht auf.«

»Warum?«

»Warum? Das weiß ich nicht!«

»Ummer Nabe! Lödes Aby! Da, hast Hunger? Iß!« Sie reichte ihm ein Stück weich gewordener Milchschokolade. »Armer Irrer, friß! Nein, Liebling, erkläre mir alles, du bist ja klug! Warum heißt das ›Veronal‹? Heißt das nach mir? Nach Vera, meine ich?«

»Sicher!« sagte er lächelnd, das Röhrchen in der Hand haltend, dessen Glashülle in der Morgensonne stark glänzte. »Sieh nur, Manfred, die bunten Vögelchen draußen, da!« Während er sich erstaunt zum Fenster hinausbeugte, hatte sie ihm durch einen geschickten Trick von untenher das Röhrchen aus der Hand geschlagen und hatte es sofort versteckt. Es war der gleiche Trick, mit dem gestern in der Unglücksnacht die Polizisten Rudolf entwaffnet hatten. »Nicht suchen!« sagte sie, ihn mit einem sonderbaren Blick ansehend, »es ist unter den Fußbodenbelag gerollt. Laß es dort, wozu brauchen wir es? Kinder sind wir, lafen ut, räumen üß?! Icht? Aber Rudolf, der war gestern nacht wie irr! So schön – wie verrückt! Er schläft sicher nicht richtig, was? Was kannst du dafür? Oder gar ich, ich dummes Balg? Ach was! Denk daran, jetzt sind wir bald in fremdem Land? Fließt hier das Meer? Ich meine, ein großes Wasser? An der deutschen Grenze sind wir doch!«

Die Grenzkontrolle war sehr oberflächlich. Zum erstenmal hörte Vera eine fremde Sprache. »Wie ulkig die da allesamt quatschen! Phantastisch! Wie im Negerland! Aber untereinander, da verstehen sie sich doch! Sicher, sie verstehen sich, ich habe es gleich gemerkt.«

»Jetzt sind wir glücklich über die Grenze«, sagte er.

»Ja, erkennst du das an den Feldern? An den Kirchen? Ich sehe noch keinen Unterschied, aber glücklich bin ich doch. Sag, freust du dich auch ein bißchen? Ich will von jetzt an ganz anders zu dir sein. Wir hätten schon längst von dort fort sollen.« Nach einer Pause: »Sagt, ihr beiden, ihr habt mich wohl mächtig geliebt?« Als er schwieg, sagte sie: »Ich wäre ja so glücklich, wenn er wieder freikäme! Kannst du nichts dazu tun? Ich vergesse ihn dann. Ganz sicher! Telephoniere deine Aussage an die Polizei! Laß ihn frei! Bitte, tu's! Du kennst doch die vielen Herren im Polizeipräsidium, du konntest sogar Ulk mit ihnen treiben am Telephon. Und du bist doch so klug. Er ist dumm. Ich bin auch dumm. Ich habe nicht einmal ein klein weniges kochen erlernen können von dir. Auch in der Schule saß ich fast immer in der letzten Bank. Flossie, das blonde Pastorenduttchen, die saß auf der ersten. Ich hatte aber die schlankesten Beine, die kürzesten Höschen aus Seide, um dir zu gefallen, die längsten Zöpfe, nach denen waren alle verrückt. Bin ich immer noch etwas hübsch, übsch? Weißt du, ich fürchte, ich werde alt. Das macht aber alles nichts. Lieber Manfred – alt werden muß schrecklich sein, direkt ekelig. Rudolf und ich, in unserer Jugend, weißt du, wollten nur 50 zusammen alt werden. Hilf ihm doch. Manfred, sieh zu! Mach! Wenn einer auf der Welt, du kannst es! Du bist ja mehr als schlau. Und er hat nichts Böses gewollt, so etwas Weiches und Feines wie ihn erlebt man nicht mehr. Das siehst du doch auch ein und hilfst ihm?!«

»Wie soll ich denn das? Gestern nacht hat er mich zwischen Kassenwand und Kasse zerquetschen wollen!«

»Aber doch nur im Tran! Genau so dun wie damals, als er geschossen hat.«

»Vielleicht. Vielleicht glaube ich es. Was nützt es ihm?«

»Viel, Manfredily! Halte nur ein wenig fest zu ihm. Verzeih ihm. Du mußt ja nicht zurück in den Hexenkessel. Aber du schreibst an das Gericht. Oder du rufst schnell den scheußlichen alten Steffie an. Auch aus unserm Zug kann man telephonieren.«

»Da kann man nur schwer verstehen.«

»Aber von der nächsten größeren Stadt aus. Denk, wenn er noch heute herauskönnte ...«

Chiffon schüttelte den Kopf. Sie kam zu ihm, faßte seinen Kopf zwischen ihre weichen, mit kostbaren Steinen geschmückten, parfümierten, nicht ganz sauberen Händchen und ließ ihn mit seinem Kopfe nicken. »Vielleicht!« sagte er leise.

»Nein, sag jetzt klar und laut ja! Wie damals auf dem Standesamt. Denke nur nicht, daß ich zurückwill zu ihm. Es wäre zu himmlisch. Es darf nicht sein.«

»So liebst du mich doch auch ein wenig?«

»Hätte ich dich sonst geheiratet, üßes Ummchen? Hätte ich sonst die phantastischen Geschenke angenommen von dir? Hätte ich mich ...«

»Nein, Vera, sag klar und deutlich. Du weißt es. Sonst niemand.«

Sie hatte ihre Hände sinken lassen, hielt sie dann zu ihren Lippen, küßte sie, ganz in Gedanken verloren, und verschränkte sie zu einem rosigen, edelsteinglitzernden Knäuelchen über ihrem Schoß. Ihr blasses, reizendes Köpfchen schwankte im Rütteln des Zuges auf dem schmalen, perlmutterfarbenen Halse. Die schöne lange Perlenkette schaukelte hin und her. Er drängte nicht in sie. »Wenn ich nur nicht solche Bange hätte vor dir! Vielleicht ... Sag, hast du nicht doch bei dem armen alten Rosenfinger mitgespielt? Hast du nicht absichtlich Rudolf in der Nacht beim Kiosk aufgeputscht mit Koks? Hat nicht jemand eigens die Grünen auf ihn gehetzt, daß sie ihn knallen lassen? Auch Steffie wollte mir nie gefallen. Warum heißt er denn Kleckschen? Pfui! Rudolf aber heißt nur Rudolf, nicht? Ihr beiden mögt einander wohl gar nicht mehr? Und doch wart ihr einmal dicke Freunde. Echte Freunde? Und jetzt nichts als Gift und Galle? Sei nicht so! Nein?! Kannst du denn nicht anders? Warum? Er kommt zu dir, und du –? Hast du ihm nicht gestern ein Bein gestellt, hast du den Kripos nicht den Trick gegeben mit dem Teppich, hast du ihn nicht mit dem Hut gehöhnt im Korridor?« Er sah sie starr an und antwortete nicht. »Wenn du nur NEIN sagen könntest! Manchmal habe ich so schreckliche Gedanken. Ich habe euch kein Glück gebracht. Besser vielleicht, du kümmerst dich nicht mehr um ihn, nicht so, nicht so ... Aber das geht doch nicht. Aber um meinetwegen war es doch keinesfalls, ich könnte es mir nicht verzeihen. Manchmal hat es so scheußliche Gedanken in mir, dumme, glaube ich, aber so schwere, phantastische! Ich und dann auf der einen Seite du und auf der anderen Brücke er, wir drei, und es reimt sich nie. Vera, Manfred, Rudolf. Und diese eklige Denkerei, an ihn und an dich natürlich noch mehr, weißt du, die hatte ich auch an unserem hübschen Kochherd. Und da habe ich bisweilen alles ganz falsch zusammengerührt.« Er lächelte. »Es muß ja vielleicht schrecklich zu essen gewesen sein.« »Aber dein Mann hat es doch gegessen, nicht? Sogar gestern nacht die Omelette.«

»Du mit deinem schwachen Magen, mit der scheußlichen Wunde innen. Guter! Armer! Kindlein! Indlein! Siehst du, Lyzeumspanisch, das konnte die gute Flossie nie erlernen... Und was denkst du, ob sie mir meinen Rudolf im Untersuchungsgefängnis ordentlich verpflegen? Und ohne Koks kann er nicht lange sein. Er ist hörig. Er muß es haben, sonst geht er ab. Aber der Bruder, der hat doch alles, kann es auch leicht durchschmuggeln. Ich aber... du! Jetzt haben wir es allesamt aus dem Zuge auf die leeren, öden Felder hinausgeschmissen! Woher neues nehmen? Sag doch schnell! Er muß es haben, unbedingt! Er tut es ja nicht aus bösem Willen. Ich könnte es sicher bringen, in Briefpapier zwischen dem Kuvert und der Seidenpapiereinlage oder so ...«

»Willst du nicht doch noch zu ihm? Sprich ohne Furcht!«

»Wie schön rein du jetzt sprichst! Ganz ohne Stottern und Stolpern.«

»Willst du nicht doch noch einmal zurück zu ihm, Vera?«

»Ich weiß es nicht mehr. Vor der Schießerei am Kiosk, sicher. Jetzt kaum mehr. Ich war wohl sehr schlecht gegen euch? Richtig gemein? Sag, Manfred! Hier hast du meine Handschuhe. Schlag mich auf die Hände, ins Gesicht! Aber nur mit den Fingerspitzen. Nicht mit den Knöpfen. Nicht in die Augen. Tu's doch!«

»Wie kannst du so etwas von mir verlangen? Ich schlage dich nie.«

»Nein? Wie soll das nur alles werden? Ich bin dir doch auch sehr gut. Ich bin immer nur mit dir allein richtig zusammengewesen. Ich habe, als ich Rudolf zum erstenmal gesehen habe, gleich gesagt: ›Manfred ist mein Mann.‹«

»Dann mußt du noch viel mehr Vertrauen zu mir haben. Stehst du auf alle Fälle felsenfest zu mir?«

»Was willst du denn wissen? Wir sollten gar nicht so reden. Wir müssen jetzt auch die Sachen zusammenpacken, wir werden gleich da sein.«

»Du hast eben doch kein Vertrauen zu mir.«

»Aber was soll ich denn noch tun? Habe ich vielleicht heute nacht im Schlaf geschrien? Mit Absicht nicht. Und den Paletot mußte ich ihm ja gestern nacht geben, dem Armen. Du kannst dir einen neuen kaufen.«

»Was liegt an dem Paletot? Willst du alles – wissen? Ich will dir alles sagen. Du kannst dann tun, was du willst. Soll ich?«

»Ich fürchte«, sagte sie leise, kaum ihren vollen, roten, blühenden Mund öffnend, »ich fürchte, ich liebe dich doch ein bißchen.« Die Tränen rannen ihr aus den großen grünblauen Augen.

»Soll ich dir beichten? Soll ich dir alles beichten, Kind? Von Rosenfinger bis heute?«

Sie schüttelte den Kopf. Die Tränen flogen auf die Federchen ihrer schwarzweißen Federboa, wo sie wie winzige Edelsteinchen glänzten.

Der Zug fuhr eben im Prager Wilsonbahnhof ein.


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