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II.

Von diesem Tage angefangen wurde es langsam besser.

Gegen Ende Mai stand sie eines Morgens ruhig auf der Waage. Es war Sonnabend, der Tag, an dem sich die Kranken auf einer kleinen Waage wogen, bei der man sein Gewicht von oben selbst ablesen konnte, da mit der Waage ein Spiegel verbunden war. Mit leiser, aber klarer Stimme rief sie dem Professor ihr Gewicht zu, damit er es in sein Büchlein eintrage: 100 Pfund, das beste Gewicht, das sie jemals hier oben aufzuweisen gehabt hatte. In guten Zeiten vor dem Kriege hatte sie, eine ziemlich hochgewachsene Frau, über 145 Pfund gewogen. Mehr als 130 waren es beim Abgang ihres Mannes in die Etappe. Bei seinem Kriegsanleiheurlaub waren es noch 115, bei Kriegsende 111, vor ihrer Abreise nach Waldfrieden nur 94. Jetzt erst, nach vier Jahren, hatte sie die 100 wieder erreicht. Der Professor freute sich: »Nun wird es endlich, gnädige Frau, Gott sei Dank!« Er wollte noch etwas sagen, wurde aber abgerufen und ging aus dem Zimmer.

Die Frau stand noch immer auf der leise vibrierenden Waage, den bläulichen Zeiger betrachtend, wie er zu ihren Füßen um die glückbringende 100 hin- und herschwankte. Zum erstenmal seit erdenklicher Zeit hatte sie den Wunsch, sich selbst zu sehen. Sollte sie es jetzt wagen? Würde sie nicht zu sehr vor sich erschrecken? Durfte sie sich selbst wiedersehen, bevor sie ihre Angehörigen, ihren Rudolf, ihre Hilda, ihre Minna, ihren Konrad wiedergesehen hatte? Sie hätte nur schnell vor der Waage niederzuknien brauchen – ihr Gesicht unten an das Glas halten, schnell, bevor der alte Professor wiederkam, dem es vielleicht nicht recht war, denn in keinem Krankenzimmer befand sich ein Spiegel. Aber sie war ihm zu dankbar. Sie mochte ihn ein wenig. Sie beherrschte sich, sie stand ruhig da. Ohne Angst. Sie befühlte ihr Knie, ihre Stirn, hinter der es seit der letzten Schreckensnacht vor dem Kreuz so herrlich frei war, sie betastete das Haar, das bereits viel weicher geworden sein mußte, denn es wellte sich so zart zwischen ihren dünnen Fingern, es knisterte so fein; sie strich sich über die hageren Wangen mit den breiten Backenknochen, die immer noch etwas hervorstanden, aber lange nicht mehr so scharf wie in früherer Zeit, sie sah auf ihre Hände herab, die sie vom Kopf herabgenommen hatte und die sie langsam vor sich in die starke goldene Frühlingssonne hinhielt und in denen oben und unten viele feine, wie mit einer Nadel eingeritzte Runzeln und Fältelchen liefen – und plötzlich stand in Gedanken wieder ihr Sohn vor ihr. Als Kind hatte er ja so feines Haar gehabt, so zart hatte es sich in goldenen Naturwellen gelockt zwischen ihren Händen, wenn sie ihn mit einem echten Schildkrötkamm, einem Geschenk ihres Mannes, gekämmt hatte. – Aber noch früher, gleich nach seiner Geburt, hatte sie sich törichterweise Kummer wegen seiner vielen Falten gemacht, sie sahen an seinem kleinen krebsroten Gesichtchen wie Kummer-, wie Schmerzensfalten aus. Aber die alte Hebamme und ihre erfahrene Minna hatten sie beruhigt, das sollten ja Glücksfalten sein, Zeichen einer besonders feinen Haut, Hinweise auf seine künftige Schönheit. Und hatte sich nicht alles bewahrheitet?

In dem, was man sah, darin war Wahrheit. In den Träumen aber nur Krankheit. Sie hatte dem armen Jungen unrecht getan, denn sie hatte ihn in ihrer bösen Krankheit als Dieb vor sich gesehen, wie er von der Polizei verfolgt wurde. Jetzt lächelte sie vor sich hin. Ihr Rudolf – und eine gestohlene Chronometeruhr! Wie oft hatte Konrad ihm Uhr und Kette des Vaters angeboten, aber der Junge in seiner Bescheidenheit hatte sie nicht gewollt, und jetzt sollte er einen Fremden um eine Uhr bestohlen haben?! Alle ließen ihre bösen Gedanken an ihm aus, einmal hatte sogar Hilda von ihm als von einem Dieb gesprochen, und er, der stolze, reine, vornehme Junge hatte sich nicht einmal verteidigt.

Sie sehnte sich heute nach langer Zeit so sehr nach ihm, sie hätte ihn da bei sich haben mögen, nur eine halbe Stunde lang, nur während einer Minute, nur so lange, bis der Professor zurückkam, der gute, dessen Schritte sie schon über die Holztreppe herabtapsen hörte – und jetzt merkte sie, wie etwas auf den schön geplätteten Umschlagekragen ihres Morgenkleides hinabtropfte. Es waren Tränen, wirkliche Friedenstränen, wie sie sie seit dem Kriege nicht geweint hatte.

Glücklich und erleichtert, wie schon lange nicht, kam sie dem Professor entgegen, und was sie noch nie gewagt hatte, seitdem sie hier war, sie hielt ihn am Ärmel seines Kittels fest und fragte:

»Werde ich noch lange hierbleiben müssen?«

»Es gefällt Ihnen also hier oben nicht mehr besonders?« fragte der Professor.

»Nein, sagen Sie mir heute die Wahrheit! Ich möchte noch einmal nach Hause zurück!«

»Das sollen Sie auch. Es wird nicht mehr so lange dauern, als es gedauert hat. Aber so einfach ist es nicht. Wir sprechen bald mehr darüber. Und jetzt gehen Sie in das Frühstückszimmer, trinken Sie Ihren Kakao, und dann können Sie tun, was Sie wollen, Briefchen schreiben zum Beispiel.«

Auf dem Tische in ihrem Zimmer lagen schon die Miniaturbriefchen vorbereitet, wie sie sie an ihre Freundin, Frau v. Ohr, zu schreiben pflegte. Aber diesmal räumte sie alle wieder fort. Sie durfte sich vielleicht noch nicht auf die Heimkehr und auf ihre Kinder freuen – aber sie wollte auch nicht mehr klagen und nie mehr verzweifeln. Ganz bescheiden, ganz still wollte sie warten. Ohne an etwas Bestimmtes zu denken, bloß so, im Frieden des Lebens, zog sie mit ihrem Zeigefinger auf der Tischplatte die vertrauten Buchstaben: I. E. A. In Ewigkeit Amen. Dann schrieb sie neue Buchstaben, auch drei, K. R. H. Konrad, Rudolf, Hilda. Die Buchstaben lange nicht mehr so kleinwinzig wie bisher, das H von Hilda sehr groß, voll von Hoffnung, den Schlußdurchstrich nach oben gewendet ... Aber sie konnte sich des Gesichtes ihres Töchterchens nicht mehr deutlich entsinnen, nur ihr Herzenssohn stand immer unverlöschlich vor ihr ...

Sie wurde jetzt so schnell müde. Der Frühling kam mit Macht nach dem vielen Regen. Aus der Küche im Souterrain drang das Klirren der Teller, die dröhnenden Kommandos der Oberschwester, dann wieder das Lachen der Küchenmädchen und das Summen der Geschirrputzmaschine und das Brausen der Dusche aus einem der »Wasserzimmer«.

Jetzt legte sie ihren müden alten Kopf über die spiegelnde Tischplatte, welche undeutlich ihr Bild wiedergab, das weiße Haar und im helleren Gesicht die dunklen Augen ... Ob wohl noch viele Falten und Runzeln gekommen waren in den letzten Jahren?

Sie entzifferte die Linien nicht, die Augen schlossen sich ihr. Von draußen kam das aufgeregte Zwitschern der Vögel, es war, als stritten und versöhnten sie sich, dann schwirrten sie auf und davon. Sie schlief ein.

Mitte Juni bekam sie als einzige unter den Kranken die »große Freiheit«, das war die Erlaubnis, ohne Begleitung in den Park und sogar in den tiefen, dichten Wald zu gehen, der jenseits der Landstraße begann. Es war gemischter Forst. Neben vielen Kiefern und seltenen, edlen Tannen gab es viele Birken, meist Niederholz auf schlechterem steinigem Boden, man sah sie von weitem im dunklen Walde eingestreut, mit ihren auch jetzt noch, im Frühsommer, etwas wässerigen, ganz hellgrünen Blättern und ihrer zarten, seidenartigen Rinde. Dazwischen, in dunklere Gruppen gesammelt, Buchen mit ihren braunen, samtartig weichen, fugenlosen, ganz aufrechten Stämmen und ihrem tief smaragdgrünen, schwer beweglichen Laub. Gräser von besonderer Höhe zitterten auf schönen gesunden Wiesen im lauen Wind, Glockenblumen, weiß, hellblau und lila, schwankten, auf kahlem Boden sprossen zwischen den Steinen auch prall purpurne, winzige Steinnelken, an den feuchten Stellen des Waldes schöne, saftstrotzende Farnkräuter mit großen, alles verdeckenden Wedeln, die an der Unterseite heller gefärbt waren und kleine Wärzchen trugen, scharfrandige Schilfgräser oben an den vielen Rinnsalen, die jetzt noch, reichlich gespeist von den starken Regengüssen her, sich im stillen Waldgebiet weither durch ihr tiefstimmiges Murmeln anzeigten.

Weiter oben, wieder den Serpentinenweg entlang, aber tiefer im Bergwalde, sah sie ein Stück hellblau-weißen Himmels über einer schmalen, aber hoch hinaufreichenden Waldblöße. Am Rande standen, vom Heger in zinnoberroter Farbe und mit sonderbaren Zahlen und Buchstaben bezeichnet, viereckige, mannshohe Holzschläge. Und von dem derben Duft des geschnittenen, in der Sonne gelblich-weiß strahlenden, rindenlosen Holzes umwittert, ging es sich ihr auf dem mit Nadeln teppichartig belegten Boden so voller Kraft. Sie fühlte sich leicht – die Brust weitete sich ihr. Silbrig blinkten auf dem federnden Boden zwischen den braunen Nadeln und den dicken Moosballen die abgeschälten, eingerollten Stücke der Rinde noch vom letzten Herbste her. Es duftete nach Gras und erhitztem Gestein. Seit dem letzten Regen (wie gut hatte sie in dieser Regennacht geschlafen, eingemummelt von dem sprießenden Tropiengeriesel an den Fenstern) waren die Pilze sicherlich überall hochgeschossen, und das Holz hatte überall die reiche Feuchtigkeit eingesogen. Jetzt, gegen Mittag, stieg der reine warme Brodem empor aus dem ganzen Bergwald, der bald im Winde aufrauschte, bald wieder nach säuselndem Rieseln verhauchte. Das Harz begann überall stärker aus den kreisrunden Schnittwunden der abgesägten Bäume mit den fünfzig und hundert Jahresringen herauszuquellen. Es hatte Form und Farbe von dicken, klaren Honigtropfen, an die sich kein Insekt heranwagte, und doch war es nicht giftig, es war Kolophonium, dasselbe wie das Geigenharz ihres lieben Mannes. Bienen summten, nahe dem Waldboden, sich dann in der helleren Luft der Lichtung, in den freien, sonnenerfüllten Räumen verlierend. Im Schatten bohrten dickliche Hummeln brummend ihre plumpen Köpfchen in die Kelche der blaßblauen Glockenblumen, die sich unter dem Gewicht drehend senkten, um sich dann wieder, wie verwundert, zu erheben. Schwarze, wie Pech glänzende Käfer rannten zwischen ganzen dahinwuzelnden Ameisenzügen auf dem Boden dahin, und kleine Eidechsen züngelten in der grellsten Sonne, beim leisesten Laut erschreckend und wie im Boden versinkend.

Seit ihren Kinderjahren hatte sich die Frau nie mehr so an den vielen Geschöpfen gefreut. Jetzt, erst in diesen langen Tagen und Wochen, sah und hörte sie alles, und Hören und Sehen taten ihr gut, und langsam wurde sie sehr froh in ihrem Innern, bloß darüber, daß sie noch lebte.

Seit undenklichen Zeiten war sie nicht so unbeschwert wie heute den Abkürzungsweg emporgestiegen, der zwischen zwei Schlingen der Serpentinenstraße verlief. Sie fühlte, wie gut ihr altes Herz arbeitete. Die neue Kraft war bis in die Fingerspitzen, in die Knie und die Knöchel zu spüren, in raschem Takte schlug es bis an die Schläfen, wie lange schon nicht mehr, eigentlich seit den Kinderjahren ihres Rudolf nicht mehr, damals, als sie ihn, im Anfang ungeschickt bei aller ihrer Liebe, auf dem Arm getragen hatte. Wie klar sah sie ihn jetzt vor sich, den Schmeicheljungen, den langen, schlanken – das hellblonde Köpfchen mit dem dunkelblauen Mützchen und den seidenen Bändern war ihr oft auf die linke Schulter hinabgesunken, wo sie es ganz leicht mit ihrem gesenkten Kinn festhielt. Denn er war immer eingeschlafen, kaum daß sie ihn aufgenommen hatte. Seine Füßchen in den vorne stumpf geschnittenen kleinen Kinderschuhchen aus grauem Glaceleder hatten sich manches Mal in den Gürtel ihrer überhängenden Seidenbluse verfangen, wie man sie damals trug. Ihren linken Ellbogen hatte sie eng an sich gezogen und dort, im Ellbogen, suchte sich sein rechtes, etwas großes Händchen immer sein Plätzchen, zur Faust geballt, während die Hauptlast seines warmen, weich atmenden Körpers auf ihrem rechten Unterarm ruhte. Stundenlang konnte sie ihn so tragen, ohne müde zu werden. Aber auch nur ihn. Flossies Kind hätte sie nicht so lange getragen. War sie heute zu schwach dazu? Oder schonte sie sich nur zu sehr? Hätte sie nicht viel gewissenhafter den Pflichten gegenüber den Ihren während der letzten Jahre nachkommen sollen? Aber ihre großen Kinder brauchten sie ja nicht mehr. Kaum daß Konrad einmal in vierzehn Tagen schrieb, Hilda einmal im Monat und Rudolf nie. Nur Flossie schrieb oft, aber diese Briefe las sie nie. Wäre es sein Kind gewesen, Rudolfs Ebenbild, von dem ihr alle so dumm entzückt geschrieben hatten! Selbst die kühle schöne Frau v. Ohr fand dieses Kind ungewöhnlich lieblich, nur etwas zu ernst, denn es lachte sonderbarerweise nie ... Hatte es dies von ihr, der Großmutter? Es klang ihr so komisch, wenn sie sich vorstellte, daß man sie »Großmutter« nannte. Sie hatte ja eben erst zu leben begonnen ... Vielleicht hätte sie auch dieses Kind, nein Enkelkind, ebenso mit Freude und mit kräftiger sicherer Hand auf ihre Arme nehmen sollen, vielleicht hätte sie auch dieser verhaßten, heidnischen Flossie mit demütiger christlicher Liebe entgegenkommen sollen, denn es hieß, daß Flossie eine ganz gute Frau sei, eine wahre Stütze für ihren Mann. Was war ihr aber dieser Mann, ihr erstgeborener Sohn? Doch war er ihr etwas. Sie fühlte jetzt etwas viel Wärmeres in ihrem Herzen für ihren armen Konrad, etwas wie Dankbarkeit, als hätte er, der gute und allgemein geachtete Arzt, sie gesund machen wollen, mit dem alten Professor im Bunde, vielleicht hätten sie beide die Arznei gesucht, ihr zur Unzeit klein und hart gewordenes Herz wieder stärker und größer zu machen. Aber die eigentliche Wunderkur hatte niemand anderer als ihr Rudolf vollbracht, er hatte, bei ihr im letzten, tröstenden Augenblick wie ein Engelchen im Traume erscheinend, den Grund im bösen Knie behoben. Sie war ihm sehr gut. Sicherlich lebte er glücklich! Das Schwerste lag schon weit hinter ihr und hinter ihnen allen.

Lächelnd und tief aufatmend sah sie durch den flimmernden Dunst der Sommerluft hindurch das mit bläulich-grauen, schimmernden Schiefertafeln gedeckte Dach von »Waldfrieden« tief unter sich am Rande der hellbraunen, vom Nachttau noch glänzenden Straße, und die weißen Mäntel gleißten aus dem saftigen Grün der großen Parkwiese zwischen den rotgestreiften Liegestühlen mit ihren Armstützen aus honigfarbenem Rohr. Vielleicht waren es der Professor und seine rechte Hand, die alte Dame, die erfahrene Oberpflegerin mit ihren weißen Bartstoppelchen um den eingesunkenen, aber noch kräftig roten Mund ...

Hier kam, wenn sie weiterstieg – und sie konnte jetzt so gut steigen und wandern, und sicherlich würde sie das Kind und die andern Kinder ihres Konrads gut betreuen können, wenn man sie ihr anvertrauen wollte –, hier öffnete sich eine zweite Waldblöße, die sie noch nicht recht kannte. Sie war ja früher, während ihrer Krankheit, neben der geduldigen Oberpflegerin immer wie mit verbundenen Augen trübselig durch den Wald gestockert. Hier oben waren die Wurzelklötze meist schon ausgerodet. Man hatte sie mit Dynamit schon vor bald einem Jahr aus dem Boden gesprengt. Sie hatte es, sich im Bette voller Furcht und Angst zusammenrollend und die Hände um ihr böses Knie pressend, bis in ihr Zimmerchen unten in »Waldfrieden« gehört. Jetzt aber ging es ihr gut, es ging sich ihr so leicht über die freie, prachtvoll duftende Fläche, von der sich die Feuchtigkeit der Nacht in weichen, wallenden, halb durchsichtigen Schwaden erhob. Alles war hier längst mit dichtem blütenreichem Rasen überwachsen. Bloß kleine, wie alte Gräberchen eingesunkene Stellen zeigten, wo früher große Stämme mit ihren ausgreifenden dicken Wurzeln gestanden haben mußten.

Solch eine kleine, eingesunkene, dicht übergrünte Stelle mochte es sein, wo ihr geliebtester guter Mann in Frieden ruhte. Er hatte sicher den Frieden gefunden, sie wußte es jetzt, wo sie selbst diesen Frieden gefunden hatte. Es tat ihr wohl, zu leben, und sie glaubte auch, es würde ihr wohltun, dereinst, nicht zu bald, zu sterben, nachdem sie zu den Ihren zurückgekehrt war und sie alle, so gut es ging, versorgt gesehen hatte. Sicherlich war Rudolf, der schönste und liebste und der klügste und beliebteste unter allen, schon in einer angesehenen Stellung, er hatte immer gute Freunde und viel Glück bei Menschen gehabt, und Lernen war ihm nie schwergefallen, und ihr erster Weg, wenn sie zurückdurfte, sollte der zu ihm sein. Er hatte doch nicht geheiratet? Sicherlich noch nicht, man hätte es ihr sonst geschrieben. Vielleicht konnte sie mit ihm leben, ihm das Haus besorgen, abends bei der Lampe bei ihm sitzen und mit ihm eine Partie Halma spielen, ihm die Socken ausbessern und ihm – helfen, die Briefe an seine Braut zu beantworten, denn er, Rudolf, war immer so zart, so scheu Mädchen gegenüber gewesen ... Sie sah sich auf der Waldblöße um, wo sich die Feuchtigkeit schon ganz im strahlenden, kristallklaren Licht verloren und im Mittag aufgelöst hatte. Zahllose weiße sternförmige Erdbeerblüten schimmerten, von den großen, dreigliedrigen Erdbeerblättern (hl. Dreifaltigkeit hat doch geholfen) umgeben, wie die weißen, ausgezackten Fittiche des Täubchens über dem Auge Gottes in der Dreieinigkeit. Stachlige Brombeerranken faßten mit ihren lila Dornen nach ihrem langen schwarzen Rocke, ihre elfenbeinfarbenen Blütenblätter jetzt bei der geringsten Bewegung ohne weiteres abschüttelnd.

Und wenn sie genau durch das Pflanzengewühl im ungebrochenen Sonnenglanz hindurchsah, erkannte sie einen kleinen, von goldbraun blühenden, lebhaft winkenden, hohen Gräsern fast ganz überwachsenen Weg. Über diesem Weg standen zwei große irisierende Libellen mit zartem Surren, fast unbeweglich in der heißen Luft. Dann wiegten sie sich mit ihren schlanken, zugespitzten, durch eine feine Taille unterbrochenen Körperchen und begannen sich in immer höheren Zirkeln zu umkreisen, das Licht ging durch ihre durchsichtigen, bläulich-golden funkelnden Flügelchen hindurch, deren Farbe plötzlich in violett-grünlich umschlug, sie bewegten sich, wie von der warmen, vom Erdboden aufsteigenden Luftwelle gehoben und gesenkt ohne Sorgen, auch sie.

Noch weiter oben kam das Bett eines kleinen Baches, bis weit in den Rasen hinein lagen viele Steine umher, abgeschliffene, mit sanften, grauen, matten Farben, über denen die stille Sonnenluft flirrte.

Frau Lucie legte sich hin, das Gesicht über den Uferrand, die Augen geschlossen, unter ihrer Brust und ihrem Leib und den ausgebreiteten Armen die glatten Steine, die sie bis in die Tiefe ihres Wesens erwärmten. Das Wasser rieselte tief versunken, voller Ruhe, voller Stille, voller Dauer, aber immer anders, einmal aufglucksend, einmal wie versickernd und dann wieder ganz eintönig, die Erde war in ihrem Grund nicht ausgetrocknet, es rauschte von untenher. Sie atmete mit vollen Zügen ein, es gab ja soviel Luft, sie öffnete den Mund, die Nasenflügel angelegt, die Zunge zwischen den kühl und trocken werdenden Zahnreihen, die Finger weit auseinandergespreizt, den Pfefferminzgeschmack der strotzenden, dunkel steingrünen Gewächse im Gaumen als wunderbares Labsal – immer wollte sie so frei atmen bis an ihr Ende!

Aus dem Walde kam das Zwitschern der Vögel, das tiefe, traurige Flöten einer Amsel, aber sie wollte nicht traurig sein, sie hatte ja nie geglaubt, daß sie noch einmal so werden würde wie jetzt, es mahnte sie etwas an früher, an ihren Mann, an ihre verlassenen Kinder, aber wenn sie tief einatmete, berauschte sie es immer von neuem, selbst der Duft des Wassers und der dicken Minzen unter ihrem Gesicht wurde stärker, das traurige Lied des Vögleins hatte aufgehört, und die anderen Vögel musizierten voller Freude, einander in die Rede fallend, eines das andere übertönend, dann wieder still und zart, schüchtern ansetzend mit Werben und Fragen, vielerlei Stimmen, oft im Verein, im Fluge, hinter den Stämmen, von überallher – auch menschliche, zwei hellere und eine tiefere, und als sie zwischen den Büschen am Bachrande hindurchsah, bemerkte sie auf der Landstraße, immer nur einen Augenblick lang zwischen den Bäumen die Konturen, die hellen Kleider erhaschend, drei junge Menschen, zwei Jungen und ein Mädchen.


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