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IV.

Am nächsten Morgen, Sonnabend, erwachte Konrad dadurch, daß die alte Magd an seine Tür pochte. Sie brachte ihm ein Telegramm und eine Zeitung. Das elektrische Licht funktionierte nicht. Es war gegen acht Uhr, ein ebenso düsterer Tag wie der vorhergegangene. Konrad trat in seinem aus Mischgewebe verfertigten Nachtanzug frierend an das Fenster und öffnete das Telegramm. Die Adresse war die gleiche wie an der Hiobsbotschaft vom gestrigen Tag: »Konrad D., Königin-Augusta-Allee 54 in B.« Text: »Oberleutnant Ludwig D. heute vormittag ohne Todeskampf entschlafen, von Ohr, Hauptmann.« Das Datum war das des vergangenen Tages, das Telegramm war am Abend vorher aufgegeben worden, vielleicht hatte es die Post, nicht ohne Absicht, nicht noch in der gleichen Nacht austragen lassen. Auch die Zeitung hatte, aber offenbar infolge des Rückzuges, ungewöhnlich lange gebraucht.

Die Zeitung, von der Konrad jetzt das Kreuzband löste, zeigte auf der Adresse die Handschrift seines Vaters, eine kleine, harmonische, sehr deutliche Hand. Auf dem Umschlag waren keine Marken, sondern nur der Stempel des Truppenteils, bei dem der Vater zuletzt Dienst getan hatte, und der Vermerk: Kaiserlich Deutsche Feldpost. Es war eine über vier Monate alte Feldzeitung, wie solche damals von fast allen Korps gedruckt wurden. Der Vater hatte im Innern der Zeitung, die der Sohn jetzt mit beiden Händen entfaltete, an die ziemlich breiten Ränder rechts, links und über dem gedruckten Text seine eigenen Sätze, Wort dicht an Wort, hingekritzelt. Das Datum der Zeitung war der erste Mai 1918, das Datum des Briefes der 11. November.

Ein Gefühl des Schauders ergriff den Sohn, als er die Schrift des »ohne Todeskampf entschlafenen« Vaters vor sich sah. Als formalem Juristen fiel ihm die Ungenauigkeit des Ausdruckes auf. Es hätte heißen müssen »ohne langes Leiden« oder »ohne das Bewußtsein erlangt zu haben« oder »gegen jedes menschliche Recht und internationale Gesetz«, der Todeskampf selbst aber blieb keinem Menschen erspart, so sah er es als klar, logisch denkender Mensch, der früher eine starke Neigung zur Medizin gehabt hatte.

Er zitterte vor Kälte, schlotterte am Fenster, das er, um besser lesen zu können, geöffnet hatte, in seinem dünnen Schlafanzug. Er war in diesem Augenblick noch nicht gefaßt genug, um die letzte Botschaft, die ihm sein toter Vater sandte, zu entziffern, er überflog zuerst den alten Heeresbericht vom I. V. 1918, der durch die Ereignisse längst überholt war:

»Großes Hauptquartier, 1. Mai 1918. Westlicher Kriegsschauplatz. In Flandern lebte der Feuerkampf in den Abschnitten von Dranoeder zu größerer Heftigkeit auf. Frisch in den Kampf geworfene amerikanische Truppen versuchten vergeblich gegen Dranoeder vorzudringen. Ihre mehrfachen Angriffe brachen in unserem Feuer zusammen. Auf dem Schlachtfeld beiderseits der Somme führten wir erfolgreich Erkundungen durch. Vorstöße in die feindlichen Linien südwestlich von Noyon und über den Oise-Aisne-Kanal bei Varennes brachten uns fünfzig Gefangene ein. An der Balkanfront erfolgreiche Plänkeleien unserer Verbündeten.«

An den Seiten dieses und anderer aktueller Berichte hatte der Vater mit seiner winzigen, jetzt in der trüben Morgendämmerung auch für den Sohn schwer leserlichen Hand folgendes geschrieben: »Mein lieber großer Junge! Ich schreibe Dir wahrscheinlich zum letztenmal aus dem Feld. Wir sehen uns bald wieder. Eben wurde uns der Radiospruch von Marschall Foch telephonisch durchgegeben. Die Feindseligkeiten wurden in der ganzen Front am II. XI. um elf Uhr – also jetzt vor einer Stunde war der große Augenblick – eingestellt. Die alliierten Truppen dürfen, bis ein neuer Befehl eintrifft, die an diesem Tage und zu dieser Stunde erreichten Linien nicht überschreiten. Mit diesem Funkspruch hat der Krieg für uns praktisch ein Ende gefunden. Ich schreibe lieber Dir als der Mutter, denn ich habe so ein komisches Vorgefühl. Wundere Dich ferner nicht, daß ich Dir auf diesem alten Wisch einer Feldpostzeitung schreibe. Erstens ist die Marketenderei und Feldbuchhandlung, die uns mit Papier (zu sehr verschiedentlichen Zwecken) und anderen Annehmlichkeiten des Frontlebens versorgt hat, wie so manches andere seit einigen Tagen spurlos verschwunden. Aber daran liegt uns jetzt natürlich nichts mehr. Es hat vielmehr noch einen anderen Grund, daß ich mich jetzt endgültig von diesem alten Wisch von einer Zeitung trenne, den ich bis jetzt immer in der inneren Tasche meiner Litewka mit mir durch dick und dünn herumgeschleppt habe. Ich habe an einer der anbei mit einem Pfeil gekennzeichneten, ziemlich dreckigen Aktionen – (dabei natürlich nur eine winzige Episode im Kriege) – teilgenommen und mir dabei das E. K. I. und unseren Hausorden zugezogen. Gleichzeitig habe ich aber auch die mich erstaunende Erfahrung gemacht, daß Dein Vater letzten Endes genauso verrückt, abgestumpft und verbiestert geworden ist wie tausend andere, indolent bis zum Einschlafen und zugleich hasenhörig. Trommelfeuer, besonders die großen Kalibers, wenn es länger als drei Stunden ununterbrochen dahingeht wenn es länger als drei Stunden ununterbrochen dahingeht – dann kann einer ebensogut dösen als wahnsinnig werden. Es heißt aber ja nicht das eine und ja nicht das andere tun. Du verstehst. Wer das nicht an sich erlebt hat, versteht es nicht. Und wer es erlebt hat, möchte es so bald wie möglich vergessen und tut alles dazu. Ich aber nicht. Denn zum ewigen Andenken an diese Stunden, deren Einzelheiten ich meinen zwei lieben Söhnen, oder besser nur Dir, getreuer Konradin, in alter Kameradschaft mündlich demnächst berichten werde, und zwar unter Ausschluß der holden Weiblichkeit, habe ich mir diese Zeitung aufgehoben, und sooft ich den Rock anzog oder auszog, was zum Waschen manchmal doch notwendig war, bekam ich sie unter die Hand, ebenso wie die geweihte Medaille, die mir Deine liebe Mutter mitgegeben hat. Jetzt kann ich ja alles sagen. Vielmehr kann ich gar nichts sagen. Denn man hat allmählich das Sprechen verlernt, was soll man sprechen, und ich wundere mich, daß ich so fließend schreiben kann. Also. Bin unberufen gesund, mit den jüngeren Herren vom Bataillon verstehe ich mich natürlich, weil es sein muß, oft aber kann ich mit ihren modernen Ideen nicht mehr mit. Hoffentlich kannst Du das winzige Geschreibsel entziffern. Es sind eben hundsjunge liebe Menschen, sie tun, was sie können, aber Kinder! Von Ohr, mein lieber alter Zeltgenosse vom Wigwam, ist furchtbar überarbeitet, er vertritt den Major, dem sich die Sauerei auf den Magen geworfen hat und der, sit venia verbo, dauernd k... Aber er harrt aus, alle Achtung! Dagegen hatte ich unlängst mächtigen Spaß an dem Divisionspfarrer, dem prachtvollen Vater Deiner kleinen Flossie, leider beides Protestanten. Er hat sich einen Vollbart stehen lassen, ist zu merkwürdig in seiner Vorliebe für Jagd etc. Daher heißt er Ulanenchristus. Ein paar von unseren jüngeren Herren, aus Berlin natürlich, nannten ihn so. Wider Willen mußte ich aber diesmal von Herzen lachen. Man lacht ja wahnsinnig gern mal. Mit der Verpflegung geht es so und auch anders. Es gibt auch oft Cognac, öfter als anständiges Fleisch. Durchgebackenes, schönes, leichtes Brot gibt es gar nicht. Aber ich gewöhne mich immer noch nicht recht an den Suff. Bei mir ist es eben G. s. D.! damit vorbei. Der Ulanenchristus ist übrigens neuerdings todtraurig, seitdem er vor der Kavalleriedivision fort ist und beim Etappenkommando steht, Gräberfürsorge oder Gefangenenseelsorge etc. Seither habe ich ihn aus den Augen verloren. Wenn es nach ihm ginge, wäre er bis zum letzten Schuß bei einem MG, natürlich einem berittenen. Wer möchte das der zarten blonden Flossie ansehen, daß sie so einen Prachtkerl zum Vater hat! Aber ich erinnere mich, sie wollte ja auch so gern als Schwesterlein fein in ein Etappenlazarett, doch gnade Gott denen, die in den Sündenpfuhl hineingeraten. Dieses ist kein Ort für eine Rheintochter. Es soll in der Etappe, Büro und Lazarett, von der Etsch bis an den Belt keine Jungfrau mehr geben. Dies ist natürlich nur ein Witz. Ich war zufällig da, nämlich in einem Etappenlazarett, und habe mir eine kleine Sache, die mich schon lange belästigt hat, einen Wasserbruch, Diskretion unter Männern, vor einigen Monaten in einer Operationspause, im wahrsten Sinn des Wortes, wegmachen lassen, absolut schmerzfrei und nach drei Tagen ohne Verband. Warum bist Du nicht Chirurg geworden, Herzensjunge? Du hast doch früher einmal Arzt werden wollen, vielleicht sind Ärzte, von allem anderen abgesehen, notwendiger als Richter und Verwaltungsbeamte. Es hat mir mächtig imponiert, schon vor allem diese Ordnung und Sauberkeit. Ziel klar. Methode fest! Die Ruhe! Jetzt und hier!! Sie lassen alles an sich herankommen und sie erledigen, was sie müssen, ohne viel Gerede. Auch die Schwestern machten tipptoppen Eindruck, die älteren Semester ebenso wie die jungen, so daß ich besonderen Respekt vor ihnen und ihrer oft furchtbaren Arbeit und Aufopferung empfand. Da war die Disziplin noch absolut unerschüttert, aber sie war auch nicht übertrieben, deshalb ging alles so fabelhaft am Fädchen, oder an den 7 Fädchen, die man mir aus meiner ›prima – prima‹ Wunde zog.«

Auf der nächsten Seite las Konrad in der Feldzeitung vom I. Mai 1918 folgenden Text: »Unruhen in Rußland? Stockholm, 27. IV., verspätet eingetroffen. Seit gestern laufen hier aus verschiedenen Teilen Finnlands Meldungen der dort verbreiteten Gerüchte ein, denen zufolge in St. Petersburg Unruhen ausgebrochen sein sollen. Über den Ladogasee sind Nachrichten gelangt, daß sich in St. Petersburg schwere Straßenkämpfe zwischen Monarchisten und der Roten Armee abspielen. Heute früh wird aus Åbo telegraphiert, daß nach dort umlaufenden bestimmten Meldungen der frühere Thronfolger Alexej Nikolajewitsch wieder zum Zaren und Großfürst Michail Alexandrowitsch wieder zum Regenten in Petersburg ausgerufen sein sollen. Ein Brief, der vom 29. IV. datiert ist, besagt, daß man in Petersburg ein monarchistisches Pronunziamento (Ausrufung des neuen Herrschers, Anmerkung der Redaktion) erwartet. Auch der frühere Präsident der alten Duma soll sich in der Nähe von Petersburg befinden. Zahllose Flüchtlingsscharen aus Petersburg befinden sich derzeit auf dem Wege über Konowetz und Walaam (Inseln im Ladogasee, Anmerkung der Redaktion), die sich vor den in Petersburg bevorstehenden Straßenkämpfen retteten.«

Mitteilungen des Chefs des Admiralstabes der Marine. »28 000 Tonnen versenkt. Im Sperrgebiet um England wurde der Handelsverkehr unseres Feindes durch Versenkung von 28 000 Bruttoregistertonnen geschädigt.«

Am Rande dieser Mitteilungen hatte der Vater in seiner winzigen Schrift seinen langen Brief fortgesetzt:

»Wir sehen uns also, wenn unser lieber Herrgott und die heilige Muttergottes es wollen, sehr, sehr bald wieder. Natürlich kann es auch Wochen dauern. Es sollten ursprünglich stündlich zehn Züge die parallelen Strecken bis nach Köln geleitet werden, jetzt ist, wie so vieles, auch dies umdisponiert worden, es heißt, daß wir per pedes Apostolorum, sowohl die Angriffstruppen aus dem Grabendreck als auch die Etappenschweine, bis an die Landesgrenze kommen sollen oder wenigstens weit nach Belgien hinein, von wo dann größere Truppentransporte zusammengestellt werden. Das hängt von der Ordnung ab, ob sie nämlich unter diesen alles auf den Kopf stellenden, jeden Deutschen tief beschämenden, geradezu unnatürlichen Verhältnissen noch aufrechterhalten werden kann. Wird Vater Hindenburg bleiben?

Hat unsere kleine Hilda weiter abgenommen? Ich hoffe, nein! Deine Mutter schweigt sich leider darüber aus! Ist Rolf wieder einmal auf die Walze gegangen? Ich hoffe nein. Wir müssen froh sein, daß er bisher immer noch prompt zu uns zurückgefunden hat. Ich fahre fort: Bis jetzt geht es ja, und wir merken bei der braven, bloß blödsinnig verhetzten und schlecht verpflegten Mannschaft von russischen Methoden verhältnismäßig wenig. Wir hatten immer nur gesiegt, und dabei hatte ich immer größere Angst! Wie ist nur alles so gekommen? Aber jetzt, da ich weiß, daß das Schwerste überstanden ist, denke ich mit besonderer Liebe und Sorge an Euch daheim. Habt Ihr ordentlich zu essen? Ich konnte neulich mit dem alten Urlauber außer dem Sohlenleder, das ich mir am Munde absparte, nichts mehr schicken, weder Zucker noch Tabak als Tauschmittel fürs Hamstern; Urlaub war danach gesperrt, mit der Lebensmittelzufuhr haperte es von wegen Truppenverschiebungen und Munitionstransporten, wir vorne hatten dabei selbst auch nur das Nötigste. Und erst Ihr! Ich kann mirs ja denken! Das wird nun alles sofort wieder besser, sobald die feige, hundsgemeine Blockade hinfällig wird, wir nehmen bestimmt an, noch in diesem Monat. Es soll daheim sofort die Brotrate erhöht werden, hieß es unlängst aus ganz sicherer Quelle. Kümmere Dich, liebster Konrad, besonders um Rudolf, um den ich mich törichterweise sehr viel sorge. Er ist ein prachtvoller Junge, das sieht man ihm an, man kann ihm nicht böse sein, aber er leidet unter Angst! Sie ist unsinnig, das siehst Du jetzt an mir, und wenn die Krise vorbei ist, lachen wir selbst darüber. Aber sage ihm das nicht, er weiß es vielleicht selber nicht, und das Sagen allein nützt nichts, wenn man nicht auch ändern kann. Komme ihm auch nicht als Jurist und Rechtsphilosoph mit dem »Rechtsstandpunkt«! Das bringt ihn nur auf, fördert aber nichts! Es sind verstörte, erbärmliche, abnorme Zeiten für alle, ich habe das jetzt erst recht begriffen, und manches hat mich daher nicht ganz so überrascht wie Euch, nehme ich an. So erklärt sich zum Teil die Herumtreiberei, über die Mutter und Du klagen. Er braucht vielleicht mehr den Arzt als den Richter! Auch für die kleinen Eigentumsdelikte.

Es kommt sicher wieder besser, für uns persönlich wie auch für unser armes Land. Wir dürfen nicht verstört sein. Jetzt adieu! Hoffentlich kommt meine nächste Nachricht schon aus dem ›Ort, weit in Belgien drinnen‹. Heute hatten wir Rast, das heißt, die Straßen sind derartig verstopft, daß marschieren keinen Sinn hat. Die Bevölkerung des Landes, durch das wir passieren, verhält sich kühl, aber korrekt. Mir hat die Ruhe hier sehr wohlgetan. Deshalb hatte ich Zeit zu diesem ellenlangen Brief, bitte sage aber unserer Mutter noch nichts von ihm. Das alles würde sie (ich weiß selber nicht warum, aber ich habe das dumpfe, sagen wir ehrlich, das dumme Gefühl), er würde sie beunruhigen, sie würde sich um das Wohl ihres alten Esels, verzeih das harte Wort eines von Schmutz starrenden, aber in Gedanken an seine liebe Familienbrut seelenvergnügten Frontschweins, mehr sorgen, als es Sinn hat. Hauptsache, ich bin bald wieder bei Euch, und ich umarme Euch alle, Mannsvolk wie Weibervolk. Mit wärmstem Gruß, in alter Liebe Euer Vater. Unser alter Gott und die heilige Jungfrau werden mich bewahren und Euch alle! Vater.«


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