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Dritter Teil

I.

An dem Morgen des 17. VI. 1926, an dem um vier Uhr Rudolf bei Chiffon verhaftet worden war und an dem gegen sieben Uhr Vera vergeblich versucht hatte, den Gefängnis- und Gerichtsarzt Konrad D. von dem Schicksal seines Bruders zu unterrichten, hatte sich der ahnungslose Konrad wie gewohnt um neun Uhr in das Gefängnis begeben. In seiner Aktentasche hatte er wichtige Akten von Untersuchungsgefangenen, über die er Gutachten abzugeben hatte, und zwischen den Aktenbündeln, in wasser- und fettdichtes Papier verpackt, Butterbrote, die ihm seine Frau Flossie eingepackt hatte.

Schon am Portal des großen Gefängnisses, das wie Moabit in Berlin Untersuchungs- und Strafgefängnis in einem war, empfingen den Arzt seltsame Blicke des Personals. Er bemerkte sie sofort, war etwas betroffen, konnte sie sich aber nicht erklären. Er fragte nicht und begann seinen Montagsrundgang durch die Einzelzellen. Er ging die auch jetzt im Juni düsteren und säuerlich riechenden Korridore entlang, die totenstill waren. Nur selten hörte man die Schritte eines Sträflings schlurren oder die Blechdeckel auf die Eimer niederklappen, während aus den oberen Räumen, den Fabrikationslokalitäten, das Geräusch der arbeitenden Maschinen, das Schnurren und dann das Aufheulen der Marmorschleifmühlen, das quetschende Stöhnen und Klirren der Kartonagepresse hinabklang. Er war bei seinem Inspektionsgang noch nicht weit gekommen, als ihm ein Kalfaktor nachkam und ihm, ihn mit dem hündischen Blick des »verwendbaren« Sträflings von unten herauf anhimmelnd, meldete, der Herr Major ließe ihn sofort zu sich bitten.

»Herr Major« wurde der Gefängnisdirektor Herr v. Ohr, zu Ende des Krieges Hauptmann der Landwehr i. R., von den besonders unterwürfigen Untergebenen und Gefangenen genannt. Er leitete das Gefängnis seit 1919, hatte verschiedene Fabrikationszweige mit verhältnismäßig gutem Gelingen eingeführt, so daß zu seinem Stolz die Aufwendungen des Staates, auf den Kopf des Gefangenen umgerechnet, von Jahr zu Jahr gesunken waren.

Sofort nach der Beendigung seines Studiums war Konrad, der Sohn seines nach Kriegsende in Belgien gefallenen Freundes, zuerst aushilfsweise, dann etatmäßig als Gefängnisarzt unter ihm tätig gewesen. Die zwei Männer verkehrten außer Dienst auf dem Duzfuße, die Familien sahen einander häufig, trotz der gesellschaftlichen Isolierung, in die Dr. Konrad D. durch seinen Bruder gekommen war.

Die kinderlose Frau v. Ohr hatte der Mutter Konrads in den ersten Zeiten ihrer schweren Depression Gesellschaft geleistet. Es war eigentümlich, daß die Mutter, nun schon seit Jahren in einem offenen Sanatorium, »Waldfrieden«, untergebracht, auf winzigen Blättern Briefe ausschließlich an Frau v. Ohr schrieb und sie in kleine Kuverts hüllte, wie sie Kinder zum »Postamt und Briefträger«-Spielen verwenden. Meist waren es nur wenige Worte, die vor allem die demütige Entschuldigung enthielten, wegen Raummangels könne sie nicht mehr schreiben, auch wenn sie sich noch so mit ihren winzigen Buchstaben einschränke. Daß sie zuviel Platz einnähme, sei zu traurig; daß sie anderen Menschen die Luft wegatme, daß sie eigentlich gar nicht mehr leben dürfe, das war ihr Wahn nach dem Tode ihres Mannes, mit dem sie sich nie abgefunden hatte. Sie betete, von einer furchtbaren Angst befangen, oft von Morgen bis Abend, aber sie war harmlos und geduldig. Unter den anderen, zum Teil ungefährlichen Kranken war sie beliebt, obgleich sie niemals direkt mit ihnen sprach und nur für sich in ihrer düsteren Ideenwelt lebte. Ihre Briefe begannen immer mit der durch die Anfangsbuchstaben gekennzeichneten Formel »G. s. J. Ch.« (Gelobt sei Jesus Christus!) und das Schlußwort »I. E. A.« stand meist schon auf der Rückseite des winzigen Kuvertchens statt des Absenders: In Ewigkeit Amen! Sie schrieb, sie warte nur auf den Tag, wo ihre durch eigene Schuld nur zu sehr verdiente, schwere Krankheit, »Herzverkleinerung«, geheilt sein würde, um zu ihren geliebten Kindern zurückzukehren. Aber sie fragte nie nach ihnen, selbst dann nicht, als von Rudolf, ihrem Lieblingskind, seit dem Herbst 1923 alle Nachrichten ausblieben. Was hätte man ihr schreiben sollen? Sie hatte aber auch nach der Geburt von Konrads Kind nicht Glück gewünscht. Der behandelnde Arzt, der emeritierte Leiter einer großen Anstalt, beurteilte ihren Zustand optimistisch, es würde Heilung eintreten, man möge die Kranke aber inzwischen nicht besuchen, sie äußere ihm oft ihre alte Angst vor den Menschen und ganz besonders vor sich, sie esse wenig und mit Mühe, werde aber doch aufrechterhalten. In der letzten Zeit waren übrigens ihre Briefe ausgeblieben, bloß die guten Berichte des Professors gingen weiter.

Im Zimmer des Direktors v. Ohr befand sich außer einem riesigen Schreibtisch mit der »im Hause« aus Kunstmarmor verfertigten, monumentalen Luxusschreibgarnitur nur das notwendigste Mobiliar, und an den dunkelbraun tapezierten Wänden war kein einziges Bild, bloß eine etwas hellere, viereckige Stelle auf der Tapete: es war der Platz, den früher das Kaiserbild eingenommen hatte. Und unter dieser geweihten Stelle, an einem in die Wand geschlagenen Nagel, war angehängt der Degen des Reserveoffiziers, das vor Alter schwärzlich gewordene Offiziersportepee um den verbogenen, stählernen Degengriff gewunden.

Als Konrad kam, traf er den Direktor sehr erregt. Seine sonst lederfarbene, derbe Haut war jetzt burgunderfarben gerötet, die Stirn unter dem dichten, eisfarbenen, bürstenartig emporstehenden Haar war finster, voller Furchen und er, der sonst stets »sein Personal« hinter dem großen Schreibtisch sitzend empfing, ging ruhelos die Wände entlang, bisweilen mit seinen starken, quadratischen Schultern den Nagel streifend, an dem der Offiziersdegen hing, und im Vorbeigehen mit der Troddel spielend. Den Gruß des Arztes beantwortete er mit der gewohnten knappen Verbeugung, ließ sich dann krachend in den schweren, ledergepolsterten Eichenstuhl fallen, bot dem Besucher einen stoffgepolsterten, ebenfalls braunen Stuhl an und starrte ihn lange mit seinen kleinen, festen, stahlgrauen Augen an. Konrad erwiderte sehr ruhig diesen Blick. Aber dann schlug der Direktor mit seiner geballten Faust auf den Tisch voller Akten und »Journale«. Der Arzt, der mit dem Direktor hier nur streng dienstlich verkehrte, fragte immer noch nicht. Aber plötzlich entsann er sich des sonderbaren, noch ungeklärten Anrufs von sieben Uhr morgens und der sonderbaren Blicke der Gefängnisangestellten, und er begann zu ahnen, was kommen sollte. Unvermittelt stand der Direktor auf, kam hinter seinen Rücken und, schwer atmend, zeigte er ihm eine Stelle in dem Aufnahmejournal, indem er mit seinem dicklichen, an den Gelenken höckerigen Zeigefinger auf drei Zeilen hinwies.

Nr. 189. Rudolf D., geboren 12. April 1901 in B., ledig, unbestraft, verhaftet am 17. Juni 1926, siehe Blatt 875/9672/23 des Fahndungsblatts.

Wortlos starrte Konrad das Blatt an. Fünf Minuten lang herrschte Schweigen. Wiederholt meldete sich der Hausapparat mit seinem schnarrenden Laut, aber der Direktor hob nicht ab. Er hatte sich stöhnend hingesetzt, war dann nochmals aufgestanden, hatte das Journalheft, hinter dem Konrad sein Gesicht stumm zu verbergen suchte, an sich genommen. Dann traten sie an das offene Fenster. In dem kleinen, wohlgepflegten Spezialgärtchen des Direktors blühten die ersten Rosen, man hörte eine ferne Amsel tief und in endlosen schluchzenden Kadenzen schlagen, dann plötzlich verstummen. Dann setzte das auf- und absteigende Maschinengeräusch in den oberen Etagen, durch die sehr dicken Mauern gedämpft, wieder ein. »Was sagst du jetzt, mein Sohn! Und dabei war es doch schon Jahr und Tag zu erwarten...«

»Was war zu erwarten?«

»Lies nur, Alter, lies! Steht doch alles hier. Du kennst ja das Fahndungsblatt. Hast du es denn nicht begriffen? Mehr weiß ich selbst noch nicht. Gesehen haben wir ihn, sofort, als die Meldung kam. Der Mensch ist in einem seltsamen Zustande. Nicht krank, etwas anderes. Scheinbar verrückt. So etwas habe ich im Leben noch nicht gefrühstückt. Wie wenn im Oberstübchen nicht alles klar wäre. Da haben wir zuerst an den Doktor aus der Weiberabteilung gedacht, haben sofort angerufen, der sollte nach oben gehen.«

»So, den Kollegen Fabrizius? Warum denn nicht mich? Warum erfahre ich das alles erst hier?«

»Eben den Fabrizius. Ich wollte es so. Du wirst auch das bald begreifen.«

»Ich hätte ja doch...«

»Ach, nicht doch!«

»Ich soll ihn wohl noch nicht sehen? Bitte, sei ganz offen.«

»Wir sind immer offen, manchmal vielleicht zu sehr. Sehen? Ob Sie ihn sehen können? Jetzt nicht. Unmöglich. Und niemals, lieber Doktor, solange Sie hier in Amt und Würden sind, das verträgt sich nicht, das geht nicht an. Nicht der Welt wegen. Der Sache wegen. Manchmal begreife ich Sie nicht. Also nein. Sie sind hier etatmäßiger Arzt.«

»Da werde ich Urlaub nehmen. Nein, ich werde gehen. Solange ich im Amt bin, werde ich nichts tun können. Ich werde um meine Entlassung einreichen.«

»Entlassung? Heute doch nicht?«

»Doch! Sofort!«

»So! Sofort? Wie? Und ohne die Frau zu fragen? Auch Ihr Schwiegervater wird Ihnen vielleicht raten können. Ist ja eine schauerliche Situation. Keine Frage! Konrad! Doktor! Aber wie soll's erst weiter werden?«

»Was kann ich anderes tun, als alles daranzusetzen, ihn freizubekommen?«

»Mensch! Halt! Frei? Frei! Das ist außer aller Möglichkeit. Frei wird dieser Mensch, der nach einem unbegreiflichen Ratschluß der stupiden Natur der Sohn Ihres Vaters und Ihr leiblicher Bruder ist, nicht so bald wieder werden. Unterbrechen Sie mich nicht! Konrad, nein! Wo bleibt Ihr Gerechtigkeitsgefühl? Wo haben Sie Ihren Verstand gelassen, Ihren Blick? Nur sein Feind kann wünschen, dieses verlorene Subjekt wieder auf die Menschheit loszulassen. Ich sage dies nicht aus Haß, Sie wissen, Haß ist mir fremd. Wer Menschen haßt, wird ein Haus wie dieses nicht auf sich nehmen. Ich habe den Willen und die Mittel, den Willen eines Verbrechers zu brechen. Dazu bezahlt mich der Staat. Was aber dieser Rudolf ist, den ich besser kenne als Sie, der mein Mündel war, Gott sei's geklagt und gepfiffen, und von dem ich alles weiß, was ein Mensch vom andern wissen kann...«

»Und wenn er trotz allem nicht schuldig ist?«

»Ja, und eben kommt ein Telephonanruf aus dem Kirchhof, daß Herr Jakob Zollikofer, genannt Rosenfinger, und Herr Max Birkholz, Polizist, ihre Grabstätten Arm in Arm verlassen haben und demnächst als Entlastungszeugen für Ihr Brüderchen an Gerichtsstatt erscheinen werden. Menschenskind! Wollen Sie sich denn ein Wunder vom Himmel bestellen?! Zu spät! Zu spät! Ja, daß er ohne bewußten Willen und klares Ziel in diesen schauerlichen Morast hineingeraten ist, das ist sein und unser aller Pech. Und wenn man den Burschen ansieht, merkt man ja, daß auch jetzt noch das gottverfluchte Kokain aus ihm spricht. Aber eben deshalb steht man da, ringt die Hände und macht schließlich ein Kreuz über ihn. Das mußt auch du tun, Konrad. Du mußt. Denn sieh, was soll es nützen, daß du seit Jahr und Tag die Augen vor dem schließt, was kommen muß. Hat er gemordet? Geschossen hat er. Menschen hat er ums Leben gebracht. Warum? Warum nicht? Kein böser Wille? Ja, wo nicht einmal ein böser Wille da ist, da ist auch nichts zu brechen. Gegen Wurstigkeit, was Menschenleben anbetrifft, dagegen gibt es keinen Strafvollzug, der fördert und an den man glaubt. Hier steht dein Bruder. Genau dort. Was rede ich da viel? Schade um den guten Knotenstock, den man an solchem Kaliber zerschlägt. Schade um alles.«

»Und hätten Sie tausendmal recht, Herr Direktor, mich wird nichts davon abbringen, ihn zu ...«

»Ihn ... was? Was mit ihm? Ich warte. Also was? Wovon soll Sie der »Herr Direktor« nicht abbringen? Nun sehen Sie, sehr verehrtester Herr Gefängnisarzt und Gerichtsgutachter. Ihnen fehlen sogar die Worte. Nein, nicht um ihn hat es zu gehen. Jetzt seid ihr an der Reihe, du, Flossie, und dein reizendes Kind. Türmt! Ziehet aus, aus diesem gelobten Lande. Zu lange schon habt ihr hier gewartet. Fort. Einem tüchtigen, arbeitsfrohen, ungebrochenen Menschen wie Ihnen steht die Welt auch heute noch und selbst in diesem traurigen Lande offen. Sie sind von anderem Schlag. Sie kennen diese Wurstigkeit Menschenleben gegenüber nicht. Sie haben Gerechtigkeitsgefühl, ich hoffe es wenigstens? Hier haben Sie dann nichts mehr verloren. Und wenn Sie Ihr Blut Tropfen für Tropfen für das arme Brüderlein vergießen, vergebens! Ihm wird immer Unrecht geschehen. Und er wird immer Unrecht tun. Habe ich nicht selbst, ein alter Erzieher der abgebrühtesten Zuchthäusler, die Hände lassen müssen von ihm, als ich sein Vormund war? Und was soll's jetzt mit ihm? Kommt er ins Zuchthaus – in unseres hier aber nicht, solange ich was zu bestimmen habe –, so wird man sagen, warum nicht in eine geschlossene Anstalt für Geisteskranke, für Degenerierte? Kommt er aber ins Irrenhaus, dann wird er durchbrennen, und man wird sagen, warum hat man den Knallfritzen nicht im Zuchthaus einquartiert? Ja, die Klassenjustiz. Ich kenne es ja. Nichts Neues unter der preußischen Sonne. Aber, wäre es nur darum, ich zerrisse mir mein Maul nicht deswegen. Solcher Menschen gibt es ja, oben und unten, mehr als uns lieb ist. Um Sie geht es mir. Da will ich Ihnen ganz zart etwas in Erinnerung bringen. Vielleicht dämpft dann dies etwas Ihren Eifer für den verlorenen Sohn?«

»So? Und was könnte das sein?« fragte Konrad, in seinem empfindlichsten Punkt getroffen. »Bitte, sprechen Sie nur! Was könnte man mir vorhalten?«

»Ja, das habe ich mich auch gefragt. Aber setzen Sie sich nur schön wieder hin, und lassen Sie mir mein gutes Tintenfaß in Frieden! Ein gewisser Dr. Konrad D. hat vor Jahr und Tag einem abgefeimten Halunken, von dem wir heute leider nichts wissen und nichts in Händen haben als seinen Spitz- und Spitzbubennamen Chiffon, ein gerichtsärztliches Sachverständigenzeugnis ausgestellt, Herzschwäche und Blutarmut, und hat ihn vom persönlichen Erscheinen zu einem bestimmten Termin befreit. Nur eine Kleinigkeit, gewiß. Chiffon hat Zeit gewinnen wollen, gewisse gute Freunde in höheren Regionen für sich interessieren wollen, was weiß ich? Aber das eine weiß ich, Doktor, Sie müssen weg von hier!«

»Gerade nicht! Das Attest über Manfred von G. habe ich korrekt, nach bestem Wissen und Gewissen ausgestellt.«

»Gerade nicht! Es ist nämlich sehr die Frage. Noch einmal, Kind, wo ist dein Gerechtigkeitsgefühl? Du schreibst akute Herzschwäche. Akute Herzschwäche, auch Bammel oder Sch... genannt, hat manch ein Gaunerstrick vor Gericht. Da wackelt das Herzchen und schlägt dreizehn statt zwölf. Und Blutarmut? Ja, eure Hilda hatte Blutarmut, aber ein Chiffon ... Wen hast du da gedeckt? Heißt der Kerl überhaupt so, wie er sich nennt? Hat er seine Hände im Mustopf gehabt? Mit dem Rosenfinger war er ja verdächtig dick befreundet, und manche sagen manches. Er, das ist bombensicher, er hatte seine Gründe, und du, mein Bester, auch. Es hat eben alles seine Gründe. Jetzt hat es sich ausgegründet, das Herzchen schlägt bei dem Schurken in gutem Takt, und seine Blutarmut hat ihn an nichts gehindert. So blutarm wie der arme Rosenfinger ist er jedenfalls nicht geworden. Wo seid ihr alle hingeraten? Dein Bruder, mein ehemaliges Mündel, du, der Sohn meines Herzens, dein Schützling Chiffon – und schließlich ich, der ich hier mit dir in dienstlicher Angelegenheit spreche, was ich nicht müßte und nicht sollte. Schweige soviel du willst und bohre deine Blicke auf meinen alten wackeren Kriegsdegen, es bleibt alles doch so, wie es ist. Schweige stundenlang, deshalb ist die Presse doch dahinter her, hinter euch allen und bald vielleicht auch hinter mir, jeder hat seine Feinde, wir beide stehen so exponiert, daß wir Feinde haben müssen. Aber bis jetzt hatten wir ...«

»Lieber ... Herr ... Direktor, ich war doch korrekt.«

»Korrekt! Korrekt! Korrekt genügt nicht. Für unsereinen nicht. Der Betreffende, von dem Euer Gnaden wußten – still jetzt, still –, daß er seine mehr oder minder losen Bande mit dem armen Brüderchen hat, jetzt brauchen wir ihn, und er ist über alle Berge. Wir interessieren uns für ihn, und seine Personalakten hat ein Mäuschen im Präsidium oben gefressen. Alles fort. Nur ein Dokument ist geblieben. Das Ihre. Nein, korrekt? Das ist nicht die Frage. Sie hätten es nicht ausstellen dürfen. Sie hätten die abgebrühte Kanaille nicht decken dürfen. Andere haben es getan. Ihre Sache. Sie hätten nicht zu ihnen gehören müssen. Alles war falsch an dem krummen Hund. Wußten Sie das nicht? Wo bleibt der Gutachterblick, das ärztliche Auge? Sie hätten irren können. Das dürfen alle, selbst ein preußischer General kann irren. Aber Sie hätten sich nicht in die Gefahr begeben dürfen, daß man Ihren Irrtum falsch deutet – oder richtig. Ablehnen hätten Sie müssen. Ja!«

»Nein. Das erlaubt die Vorschrift nicht.«

»Ach, Sch... Die Vorschrift erlaubt alles. Hättest du mich gefragt! Du fragst doch sonst oft genug. Schweig! Hättest du mir gefolgt! Es gibt immer Mittel und Wege, um als sauberer Mensch einer solchen klebrigen Geschichte auszuweichen. Und jetzt, Schluß mit dem Palaver. Aufgepaßt, die ganze Kompanie hinhören! Im Ernst, Kamerad! Die vergangenen Sünden, pascholl. Erledigt, geschenkt, laß fahren dahin. Zuviel Worte haben wir jetzt schon an diesen Mist gewendet. Aber von jetzt an, 17. Juni 1926, zehn Uhr und soundsoviel. Jetzt kannst du noch mit Ehren heraus. Jetzt gibt dir das Gesetz, die Vorschrift, wie du es nennst, die Möglichkeit, dich der Aussage zu entschlagen. Ja oder nein?«

»Nein!«

»Doch! Ja und ja und nochmals ja, zum Teufel hinein! Du hast dich jetzt mit Mann und Maus und Kind und Kegel aus dem brennenden Sodom und Gomorrha zu drücken und eine Frontverkürzung vorzunehmen. Es werden sich Leute finden, die den Rückzug decken. Darauf kannst du mein Wort haben, Mann. Was soll's denn sonst? Was soll es denn, heraus mit der Sprache! Ich will dieses verbiesterte Gesicht nicht sehen, rück heraus mit deinem Gegen ... wie soll ich's sagen? Ach was, es ist, wie es ist. Höre, oder besser, hören Sie. Mag sein, daß man auch hier von einer der vielen Kreaturen dieser Bande belauscht wird, wir wollen mehr als korrekt sein, und wir können es doch noch, was? Wir können es. Ihn können und werden Sie nicht retten, Rudolf meine ich, das Schmerzenskind, den Wurm im Apfel. Aber doch sich?! Die kleine Familie? Alles, was ihr euch in dem scheußlichen Schlamassel der letzten Jahre mühsam aufgebaut habt, zu zweien. Laß ihn! Stoß ihn nicht mit dem Fuß, aber geh ihm aus dem Weg! Er steckt an! Wo bleibt dein ärztlicher Blick, ich frage dich es noch einmal? Ich will nicht tranrotzig werden, aber sag, ist eine einzige Flossie nicht tausendmal mehr wert als hunderttausend solche Rudolfs etc.? Er hat ausgespielt. Er ist das Plakat von gestern. Er hat keinen Sinn mehr.«

»Du verstehst ihn nicht. Du tust ihm Unrecht!«

»Wie denn das? Das ist doch heller Wahnsinn?! Ist er denn nicht krank, ist er nicht wurzelfaul wie die Zeit, aus der er kommt? Leichenfaul. Mir graute es heute morgen, als ich ihn sah, ja, heute, und er spielte noch den Gent! Mir ekelt es vor ihm. Über uns alle sah er hinweg. Wo war der Kerl? Betrunken war er. So etwas kommt ja aus dem Rausch gar nicht heraus. Beim Proleten ist es Schnaps, bei ihm ist es Kokain, das ist die Art des Gents. Kokain ist ärger als Schnaps. Unheilbar. Ich habe noch keinen geheilten Kokainisten gesehen. Sie ja? Nun meinen Segen! Eher noch tausend gebesserte, zu weißen Lämmchen gewordene Raubmörder. Was sagst du jetzt? Lieber! Guter! Altes, gutes Rindvieh! Haben wir uns gefunden? Zieh deine Hand aus der Maschine, Mann Gottes, glaub mir, es ist keine Sekunde zu früh. Ich sage es dir als alter Freund deines Vaters.

Hier an diesem Tische hat vor einer Weile Fabrizius, Ihr Vertreter im Amt des beauftragten Gerichtsarztes, Ihr Attest über Manfreden gelesen. Sehr stillschweigend hat er es gelesen. Nun der nächstwichtigste Punkt: Der Staatsanwalt, der wie ein hungriger Wolf hinter der Sache her ist, obwohl, unter uns gesagt, das Hauptobjekt, Rosenfinger, an sich keinen Pfifferling wert ist, ein Schieber, Schwein und Seelenfänger – darüber sind wir uns ja einig, aber die Staatsanwaltschaft wird spätestens in einer Viertelstunde hier anrufen bei mir und dich an den Apparat bitten und dich formell fragen, ob du aussagen willst oder nicht. Ich will's auf mich nehmen. Ich will für dich antworten. Wir sagen nicht aus. Ich habe den Kopf deines Vaters gehalten, als er an seinem Halsschuß in einer Scheune starb. Zucke nicht die Achseln! Sei ein Mann. Du brauchst ihn nicht mehr zu sehen. Wir andern tun, was wir sollen und was wir können, für ihn. Reiß das Auge aus, das dich ärgert. Was liegt an mir? In ein paar Jahren gehe ich in meine königlich preußische Pension. Meinetwegen heute schon, hols der Satan von Weimar. Du weißt, wie schwer ich diesem herzensgut gemeinten, aber von Anfang an leider völlig verkorksten System subordiniere. Genug, übergenug. Man hat die dumme Masse mit Freiheiten gefüttert, so wie du deinen Bruder mit Verzeihung und Liebe, bis alles allen zum Kotzen wurde, mit Verlaub gesagt. Wo soll das einmal hinaus? Du jedenfalls mußt einmal da raus. Ganz heraus. Einmal muß jeder ins Feuer. Es muß sein. Sag selbst, Bruder! Hat nicht die Welt seinesgleichen schon genug gesehen? Hat nicht mancher seinen Bruder an seiner Seite verloren, und auf ehrenhaftere Weise als du deinen Rudolf? Ja oder nein? Was sagst du, du wortkarger Junge? Du liebst ihn, willst du sagen? Du bist ihm treu? Treu magst du sein, soviel du willst. Hündisch nicht. Hündische Liebe ist keine Liebe, es ist nur Hundesitte. Verteidigen? Du hast ihn nicht zu verteidigen. Du hast ja auch andere Spießgesellen seiner Art nie verteidigt. Da warst du Vertreter des strengen Buchstabens, und recht war es so. Und was bist du ihm? Hat er dich gebeten, daß du ihn verteidigst? Überlaß das dem Rechtsanwalt, den wir ihm bestellen und der bezahlt wird für seinen Dienst. Beteilige dich an den Kosten, recht so. Damit hast du deinen Bruderpflichten genügt. Was will er denn von dir? Was weiß er von dir? Hat er dir die ganzen Jahre hindurch jemals ein gutes Wort gegeben? Hat er dich aufgeklärt? Hat er gebeichtet, hat er dich gebeten: Bruderherz, nimm dich meiner an, hilf mir aus dem Schlamassel, verschaffe mir Arbeit – oder auch nur das eine: hab Mitleid mit mir, und gib mir Brot? Von alledem – nichts. Sieh mich nur an. Ich sage, wie es ist. Was sieht er an dir? Nicht einmal die Mücke am Hintern, ich sage es ganz offen, nicht einmal die Mücke, die ihn kitzelt. Er schlägt nicht mal nach dir. Und wenn du ...«

Das Telephon klingelte. Diesmal nicht mit dem hölzernen, schnarrenden Lautsignal der »Haus«verbindungen, sondern durchdringend metallisch, wie alle Verbindungen von Amts wegen. »Sind wir also einig, Herr Doktor D.?« fragte der Direktor. »Verzichten wir auf die Aussage?«

Er hielt den Hörer in der Hand, den höckerigen, gichtigen Finger auf die bläuliche, dünne Stahlmembran gepreßt, damit man am andern Ende der Leitung nichts von dem Gespräch hier hören könne. Er war aufgestanden, ein großer, vierschrötiger, trotz der Last der Jahre und des verlorenen Krieges und eines unbefriedigten kinderlosen Lebens noch ungebeugter Mann und hatte sich so eng an den viel kleineren und zarteren Doktor gedrückt, daß dieser die gute Wärme spürte, die von dem alten Offizier zu ihm drang.

Die Lippen nach innen gepreßt, den Blick fest auf den langsam mit dem Hörer zur Wand zurückweichenden Direktor geheftet, stand der Arzt völlig beherrscht da, er nahm ihm, ohne zu zittern, den Hörer ab und sagte dem Untersuchungsrichter zu, daß er in Sachen seines Bruders jederzeit aussagen wolle.

Die Hände hinter dem Rücken gefaltet, ließ ihn v. Ohr gehen.

»Ein Glück, daß man keine Kinder hat! Hol der Teufel die ganze Bredouille!«

Das Geräusch der Maschinen im Obergeschoß hatte sich verstärkt, die Arbeit war in vollem Gange.


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