Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

Konrad war sehr froh, als gegen elf Uhr Flossie erschien, und doch hätte er etwas Angst, seine Schwester könne durch ihre Freundin etwas vom Tode des Vaters erfahren. Flossie war ein Mädchen von fast 17 Jahren; sie war trotz des Unterschiedes im Glaubensbekenntnis seit langer Zeit mit den Geschwistern D. befreundet, ebenso wie ihre Schwester Doralies, die auf dem Lehrerinnenseminar studiert hatte. Flossie war nicht besonders hübsch, sie war groß und etwas vierschrötig trotz ihrer jungen Jahre, aber sie hatte ein offenes Gesicht mit prächtigen Farben, besaß wunderbare Zähne und Haare und hatte durchgearbeitete langfingrige Hände, auf die sie besonders stolz war. Sie arbeitete viel in der Wirtschaft mit, aber nie ohne Handschuhe. Sie hielt sich für sehr musikalisch, hatte aber weder ihren Vater, jenen in dem Feldpostbrief als »Ulanenchristus« gekennzeichneten Divisionspfarrer, noch weniger aber die Mutter ihrer Freundin Hilda von ihren Leistungen in der Musik überzeugen können. Doralies sang. So musizierten die Schwestern auch gemeinsam mit großem Genuß. Flossie übte täglich mit glühenden Wangen und feuchten Augen, in einem abgelegenen Zimmer einherstapfend, ihre drei bis vier Stunden und erhoffte von der Zeit eine Meisterschaft. Ihr Traum war, das Violinkonzert von Bruch spielen zu können.

Jetzt klagte sie (sie hatte zum Glück noch keine Ahnung von dem, was hier vorgefallen war), daß ihr der letzte Rest Kolophonium ausgegangen sei. In fünf Geschäften sei sie schon gewesen, in vieren hätte man überhaupt nichts Derartiges mehr gehabt, nur noch Ersatzsaiten aus Spezialfaden oder Draht, im fünften einen angeblich »erstklassigen Kolophoniumersatz«, teuer genug, der aber die Haare ihres allerbesten, allerliebsten Fiedelbogens so zusammengekleistert hätte, daß er bei dem ersten Allegro mit Schwung auf den Saiten vollkommen irrsinnig herumgerutscht sei und bitterböse »au! au!« gequietscht habe. Mit größter Mühe habe sie mit grüner Seife und lauwarmem Wasser ihren Herzensbogen wieder sauber bekommen und ihn dann wieder von den Seifenresten befreit, ihn auf dem Heizkörper getrocknet, aber seitdem, das heißt seit vorgestern abend, sei der Ton heiser, die G-Saite, das Herz ihrer Violine, klinge wie Stroh, »und du kannst dir denken«, sagte sie zutraulich zu Konrad, mit ihren feinen Fingerchen seine kühle, knochige Hand fassend und ihn mit ihren blauen Augen verzweifelt ansehend, »nein, Junge, du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für mich bedeutet – und gerade jetzt! Wir wollen doch nicht immer ›daran‹ denken! Lieber, lieber Gott! Doralies hat es die Stimme verschlagen. Sie ist heiser wie Papa nach einem Liebesmahl. Hast du die Punkte vom Waffenstillstand gelesen? Hat Gott die Preußen ganz verlassen? Und daß so etwas bei uns nicht einfach konfisziert wird! Aber ich glaube an das ganze Gerede nicht! Unser Kaiser in Holland?! – Die Geschütze sollen wir selbst vernichten, vielleicht sogar auch unsere dicke Berta, die bis London funkt, die Gefangenen laufenlassen, aber unsere armen gefangenen Landsleute sollen wir noch lange nicht wiederbekommen, unsere himmlischen Schiffe mit den prachtvollen Unterseebooten sollen wir zerstören lassen – sagt, sind sie nicht irrsinnig? Unsere großartigen Zeppeline sollen wir ins Blaue fliegen lassen, Schluß machen, unser russisches Gold abliefern? Hundert Millionen! Ja, das möchten sie alles wohl, aber wir tun es nie! Das ist ja alles nur Unsinn! Das ist nur für die Arbeiter bestimmt, verlaß dich darauf! In Wirklichkeit ist das nur eine Kriegslist der Heeresleitung! Verstehst du das auch, liebe Hilda? Du mußt nämlich wissen, wo wir stehen! Wir –«, sie flüsterte und nahm jetzt auch die schlaff daliegende Hand der blassen zarten Hilda in die ihre, »das wissen nur die Eingeweihten, wir gehen noch einmal los, aber wie! Und dann wehe ihnen! Wir haben noch unseren deutschen Glauben! Dann wirds blutiger Ernst! Allen, allen, den Amerikanern und Negern am meisten, wird es noch einmal ungeheuer dämmern! Denn wir wollen nicht unterliegen! Das muß noch kommen, das wissen wir! Papi hat uns geschrieben, er hat das alles nur durch die Blume angedeutet, die Roten halten jetzt Briefzensur wie früher wir, aber Mutter und ich und unsere alte Doralies verstehen schon, was er sagen will. Wir sind Deutsche. Deutsche dürfen nicht verzweifeln. Papi soll in ein paar Tagen kommen«, setzte sie naiv hinzu, ohne zu merken, wie sehr sie sich widersprach, »vielleicht bringt er mir ein Stück Kolophonium mit! Im vorigen Jahr hat er für mich in Russisch-Polen meinen Fuchs hier geschossen. Ich habe ihm vorgestern noch um das Kolophonium in die Etappe geschrieben. Dort gibt es noch alles, sicher! Der Brief muß ihn doch noch erreichen, bevor unsere Feinde kommen, nicht wahr?«

Ihr kindliches Geplauder tat Konrad wohl. »Du brauchst nicht so lange zu warten. Flossie, was dein Vater kann, kann ich auch.« »Ach! Glaubst du?« fragte Flossie.

Konrad ging in sein Zimmer (früher war es das Arbeitszimmer des Vaters gewesen) und holte aus dem Geigenkasten das Stück Geigenharz heraus, kam zurück und drückte es ihr in die Hand. Sie errötete und erblaßte abwechselnd vor Freude, fiel ihm um den Hals, küßte ihn auf die Wange, indem sie seinen Kopf zwischen ihre feinen langen Hände nahm und erst die linke Wange und dann die rechte abküßte, um schließlich seinen Kopf ein Stück von sich fortzuschieben und ihn mit leuchtenden Augen zu umfassen, als habe sie ihn noch nie im Leben gesehen. Dann riß sie sich ein paar von ihren langen, weizenblonden Haaren aus und ließ sie an dem Geigenharz vorbeigleiten. Die Haare nahmen, schlaff herabhängend, nichts von dem alt und trocken gewordenen Harz an. Nun knotete sie die Haare an einem Rockknopf Konrads mit dem einen Ende fest, an dem anderen Ende hielt sie sie zwischen zwei Fingern und spannte die Haare an, und jetzt fuhr sie, strahlend lächelnd und ihre kleinen Zähne zeigend, mit dem Geigenharz darüber, es gab einen feinen, singenden Ton, und das Harz haftete fest. Auf Flossies unregelmäßigem Gesicht mit den wunderbaren Farben strahlte reines Entzücken.

In Konrad stieg der Wunsch auf, Flossie alles zu sagen. »Ich muß dir etwas Furchtbares –«, begann er impulsiv. Aber als er die von Schrecken geweiteten Augen seiner Schwester mit dem Ausdruck fassungslosen Entsetzens auf sich gerichtet sah, faßte er sich sofort und setzte nach einer unmerklichen Pause, durch dieses Wort seinen Beruf wechselnd und die Linie seines ganzen Lebens ändernd, fort: »– etwas furchtbar Wichtiges muß ich dir sagen, ich werde umsatteln, ich will Medizin studieren. Es ist eine andere Zeit, es kommt eine soziale Zeit, denkst du nicht auch?«

»Sozial? Quatsch! Aber Medizin ist auch herrlich. Besonders operieren. Ein Schnitt – und der Mensch wirft seine dummen Krücken fort und ist gesund! Es dauert zwar zwei Jahre länger, das Medizinstudieren, aber das macht mir gar nichts, wir heiraten dann eben später, und ich bin dann deine erste Assistentin.«

»Du redest heute nur Unsinn, Flossie, wie kannst du Konrads Assistentin werden?« – Hilda war durch ihre ziehenden Schmerzen im Kreuz und durch die Eifersucht auf ihren liebsten Bruder und die Eifersucht auf ihre liebste Freundin gequält. Nervös knäulte sie die Enden der roten Schlafrockschnur zusammen. Sie hatte den alten Schlafrock des Vaters, ein dick wattiertes, aus schokoladefarbenem Kamelhaarstoff gefertigtes Stück, als Überdecke auf dem Leib und den Knien, denn es fror sie noch immer. Das elektrische Heizkissen wollte sie nicht, es verursachte ihr Herzklopfen. »Und bitte, Flossie, mach die Haare von Konrads Jackett schnell wieder ab, bevor Mutti kommt!«

Flossie errötete und zupfte die Härchen Stück für Stück von dem Knopf ab, aber nur, um sie in einen kleinen Zopf und den Zopf zu einem noch kleineren Knäuel zusammenzuflechten und diesen Talisman ihrem »treuen Konradin« heimlich in die Rocktasche zu schmuggeln, als er das Zimmer verließ.

Ein Auto rasselte so schwer vorbei, daß die Fenster dröhnten. Vielleicht war es ein Panzerauto, das in den Arbeitervierteln Ordnung machen sollte? Es war von Soldaten gelenkt, neben und hinter dem Chauffeur hielten sie sich aufrecht, fünf oder sechs hagere, dunkle, große Gestalten, die mit aufgestellten Bajonetten und an der Koppel baumelnden, schwärzlichen Handgranaten bewaffnet waren und über ihren fahlen, scharfen Gesichtern den grauen Stahlhelm trugen. Aber der offene Lastwagen, der da unten vorbeifuhr, war nicht mit Maschinengewehren beladen, sondern mit gewichtigen Mehlsäcken. Kam das Mehl aus den roten Kasernen oder brachte man es hin? Wer hatte gesiegt? – Etwas enttäuscht kehrte Flossie vom Fenster zu ihrer Freundin zurück.

Die Mutter trat ein. Flossie machte einen Knicks und wartete eine Weile, Frau Lucie und ihre Hilda ansehend. Dann, ohne sich von den ruhelosen, irren, ganz verstörten Augen der blassen, abgezehrten, dunkelhaarigen, leicht ergrauten Frau stören zu lassen, fuhr sie fort, zu plaudern.


 << zurück weiter >>