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VIII.

Man suchte nun mit dem Aufgebot aller Kräfte des Revolverhelden und, wie man jetzt fast allgemein glaubte, des Raubmörders Rudolf D. habhaft zu werden. Aber weder von ihm noch von seinen Begleitern war eine Spur zu finden. Es hieß, daß sie sich in der Bahnhofsrestauration eine Lage Bier und Korn hatten geben lassen und daß sie dann mit einem Arbeiterzug ins Industrierevier gefahren wären. Aber die Angaben waren zu undeutlich. Es war auch möglich, daß sie die nahe Grenze ohne Kontrolle überschritten hatten. Denn die Grenze war unübersichtlich, sie verlief oft mitten durch die Ortschaften, so daß die eine Häuserreihe deutsch war, die gegenüberliegende nicht mehr.

Bis jetzt hatte sein Bruder (der Gefängnisarzt und Assistent am Institut für gerichtliche Medizin, das im Jahre 1922 neu errichtet und der medizinischen Fakultät angegliedert worden war), der Dr. Konrad D. es durch Vermittlung seines sehr angesehenen Schwiegervaters verhindern können, daß der Steckbrief seines Bruders, der schon im Jahre 1923 nach dessen rätselhaftem Verschwinden ausgestellt worden war, an den Litfaßsäulen der Stadt befestigt würde. Jetzt aber, 1925, mußte der Arzt verstehen, daß man von Seiten der in so brutaler Weise angegriffenen Polizei auf kein Fahndungsmittel verzichten würde.

Was der Bruder aber nicht verstand, war, daß sein Rudolf sich niemals gegen diesen Mordverdacht gewehrt hatte. Und doch war es unausdenkbar, daß er ein solches Verbrechen sollte begangen haben. Je öfter er die Photographien seines Bruders ansah und die Züge mit fast wissenschaftlicher Gründlichkeit studierte, desto fester wurde in ihm der Glaube, daß sein Bruder an der Mordsache unschuldig sein müsse.

Er wollte die Bilder nicht an den Litfaßsäulen reproduziert sehen und entschloß sich, sie alle zu vernichten, angefangen von den Kinderbildern (eines davon, Rudolf und der Vater, beide auf einem weißen Schaukelpferd sitzend, war besonders niedlich, und der Vater war nirgend so gut getroffen wie auf diesem) – bis zu den Amateurbildern aus späterer Zeit, wo Rudolf, ein schöner, oft photographierter Mensch, sich bei seinem alten Freunde Zollikofer, aber niemals auf ein und demselben Bilde zugleich mit ihm, sondern immer nur in Gesellschaft von seinem Sportkameraden Manfred oder seinem Jiu-Jitsu-Lehrer Steffie hatte aufnehmen lassen.

Ein Glück war noch, daß weder Manfred noch Steffie Exemplare dieser Bilder besaßen. Aus dieser Gegend wehte kein guter Wind für Rudolf, das ahnte Konrad, wenn er auch nicht wußte, warum. Seiner Frau Flossie sagte er nichts davon. Er packte die Bilder noch am gleichen Morgen alle in seine Aktentasche, brachte sie in sein Institut und verbrannte sie bei geschlossenen Türen, ganz, als handle es sich um eine gerichtsärztliche Probe, über einer Bunsenflamme. Als das letzte zu Asche geworden war, seufzte er tief auf, die noch warme Asche in seiner hohlen Hand sammelnd, als wäre sie etwas, was von dem Bruder herrührte.

Er wußte nicht, wo Rudolf jetzt war. Jahrelang hatte er ihn nicht gesehen – jetzt war er hier gewesen. Aber statt ihn, seinen Bruder aufzusuchen, hatte er seine Irrsinnstat begangen. Er verstand ihn nicht. Aber er liebte ihn. Niemals war er ihm so bemitleidenswert erschienen. Die Mutter durfte nichts davon erfahren. Das war nicht schwer zu erreichen, denn sie lebte nicht mehr hier, sie war seit Jahren schwermütig, ohne Berührung mit der Umwelt, selbst ihren Herzenssohn, Rudolf, nicht ausgenommen.

Es war Konrad schrecklich, sich auch nur vorzustellen, daß er an der nächsten Straßenecke seinen, seines Vaters und seines Bruders Namen auf einem der vielen orangeroten Steckbriefe groß gedruckt lesen sollte. Aber wenigstens war das Bild nicht zu sehen. Das war nun vermieden.

Den ebenso beschämenden Blicken der vielen Bekannten konnte er aber nicht entgehen. Er wurde noch reservierter und schweigsamer und korrekter als sonst und brachte es dahin, daß er seine etwas exponierte Stellung halten konnte und daß niemals jemand eine Anspielung auf seinen Bruder machte, solange er, Konrad, sich seinen amtlichen Aufgaben widmete, die oft recht delikater Natur waren und auf den Ausgang wichtiger Prozesse den größten Einfluß hatten. Aber er vermied es, sich viel auf der Straße oder im Theater zu zeigen, er kam so gut wie gar nicht aus seinen vier Wänden heraus, wo er das glücklichste Familienleben zu führen schien, um so mehr, als ihm zu dieser Zeit ein Töchterchen geboren wurde.

Sein Schwiegervater, der Konsistorialrat, hätte gern gesehen, wenn sein Schwiegersohn seinen Bruder verleugnet, dafür aber sich mit ihm politisch oder sozial betätigt hätte. Er fürchtete den drohenden Ausdruck im Gesicht seines Schwiegersohnes nicht, packte den Stier bei den Hörnern. Aber Konrad antwortete nicht und sah ihn nur starr an. Vergebens ergriff der Wehrkreispfarrer seine Hände und mahnte ihn, halb im Kommißton, halb mit Seelsorgerpathos, diese »schwere Schickung Gottes« nicht als seine, Konrads, persönliche Kränkung und Herabsetzung anzusehen. Wie weit war Konrad in Wahrheit davon entfernt! Im Grunde war er, er wußte nicht wie, sogar noch mehr verbunden mit dem armen Bruder, und der Sermon des Pfarrers endete damit, daß er seinem Schwiegersohn den kurz gefaßten Rat gab, er möge sich ein für allemal von dem verlorenen Subjekt, dem leider verluderten Gesellen, losmachen.

Das gleiche, in etwas verständnisvollerer Form, riet ihm sein Vorgesetzter, der ihm von Vaters Zeiten her sehr freundschaftlich gesinnte Herr von Ohr, Direktor des großen Gefängnisses in B., der eine Zeitlang der Vormund Rudolfs und seiner Schwester gewesen war. Aber auch hier behielt Konrad sein obstinates, höfliches und ganz unangreifbares Lächeln bei. Er war nicht dazu zu bewegen, von seinem Rudolf abzurücken, obwohl man ihm sogar genau die Wege und Methoden hierfür klargemacht hatte, nämlich vorerst den Namen zu ändern, den Namen der Frau anzunehmen und auf einige Zeit aus der Stadt zu verschwinden, einen wissenschaftlichen Urlaub anzutreten.

In jener Zeit, die infolge politischer und schwerer sozialer Kämpfe nicht einmal auf einen Monat zu reinem Frieden kam und die vielmehr durch die äußere wie die innere Politik in dauernder, qualvoller und zerstörender Unruhe gehalten wurde, vergaß man schneller als in normalen Zeiten. Sonst hätte man das Leben nicht ertragen können. Man war an das Furchtbarste gewöhnt, und das schauerlichste Erschrecken wurde übertönt von den Ereignissen des kommenden Tages.

Die Verbrechen waren zahlreicher und bestialischer, als man es je gedacht hatte. Sie waren mehr als tierisch. Die Steckbriefe an den Litfaßsäulen nahmen einen großen Raum ein, wechselten aber alle Wochen. Hohe Beamte kamen ins Gefängnis, Minister gingen auf schauerliche Weise durch junge Fanatiker in einer Art Blutrausch zugrunde, diese konnten oft unentdeckt flüchten, und man fand sie nie wieder, Massenmörder blieben unbegreiflich lange in Großstädten unentdeckt, und manche nahmen sich dann im Gefängnis mit Duldung der Behörde das Leben nach schauerlichen Bekenntnissen, die nicht einmal von den mit wüsten Ereignissen überfüllten Zeitungen vollständig gebracht werden konnten. So ging nach verhältnismäßig kurzer Zeit im Falle Rudolf D. alles seinen alten Gang, und Konrad D. blieb in seiner Dienststelle als etatmäßig angestellter Arzt an der Männerabteilung des großen Gefängnisses in B. und lebte im übrigen seinen wissenschaftlichen Arbeiten und seiner Familie, seiner Frau. Die Mutter blieb dauernd von diesen Tatsachen verschont.


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