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X.

Aus seinem verzweifelten Brüten auf der leeren Landstraße wurde Chiffon durch den Chauffeur aufgeschreckt, der ihm den Ventilatorriemen zeigte, an dem alle Versuche einer Reparatur vergeblich waren.

»Zu oft geflickt!« sagte der Chauffeur. »Zu kurz!«

»Um Himmels willen, was soll denn jetzt geschehen? Meine Frau muß ins Sanatorium. Sie ist schwer krank.«

»Weiß ich, weiß alles, der Herr Direktor hat mir gesagt, sofort Prag, sofort Sanatorium Dr. A.«

»Und jetzt sollen wir auf offener Straße übernachten?«

»Ach nein, ach gar nicht!« sagte der Chauffeur, ein starker, großer Mensch mit dunklen, umränderten Augen unter einer blonden Mähne. »Wir sind in einer halben Stunde da, verlassen Sie sich auf mich.«

»Aber wie? Aber wie?«

»Nur Geduld! Du lieber Herr! Nur Geduld!« Während Chiffon in seinem Wagen verzweifelt die Hände rang und dann, da er Vera vor Frost zittern fühlte, ihr den Rücken entlang mit aller Kraft zu reiben begann, um sie zu erwärmen, holte der Chauffeur eine Kanne Autoöl unter seinem Sitz hervor und schüttete das dicke Autoöl vor Chiffons Augen auf die Landstraße, wo es sich, glitzernd wie Lack, sofort in einer großen Lache ausbreitete. »Und jetzt nur noch ein klein wenig Geduld! Gleich geht's wieder los!« sagte er, ging zum Graben, schöpfte seine Ölkanne voll Wasser und drückte sie Chiffon in die Hände. »Also sehen Sie«, sagte er, » so werden wir uns helfen. Sie halten die Kanne fest, und ab und zu halten wir an und schütten kaltes Wasser in den Kühler. Anders können wir uns nicht helfen.«

Die Fahrt ging weiter. Chiffon merkte, wie sich Vera allmählich zu regen begann, er hörte, wie sie stöhnte, und obwohl es doch Zeiten der wiederkehrenden Besinnung waren, schnitten sie ihm doch ins Herz.

Der Chauffeur fuhr jetzt sehr langsam, vielleicht, um auf der schlecht gehaltenen Straße Vera das Rütteln zu ersparen, ab und zu hielt er an, ließ Chiffon aussteigen, der gehorsam Wasser in den dampfenden Kühler schüttete, worauf die Fahrt weiterging. Chiffon begann mit dem Chauffeur ein Gespräch. »Wieso kommt es, daß Sie so gut deutsch sprechen?«

»Zweieinhalb Jahre in Deutschland, in den Autowerken in Zwickau.«

»Und jetzt?«

»Arbeitslos!«

»Wieso denn? Warum wollen Sie denn nicht arbeiten, ein so kräftiger, gesunder Mensch?«

»Wollen? Können!«

»Wie meinen Sie das?«

»Es gibt keine Arbeit mehr für uns. Zu gute Maschinen. In Deutschland und jetzt auch hier laufen Hunderte herum wie ich.«

»Und wie leben Sie? Sind Sie verheiratet?«

»Verheiratet. Kinder drei.«

»Wovon leben Sie?«

»Man lebt eben ... Eben so.«

Sie waren in der Stadt angekommen, der Chauffeur mußte auf den Straßenverkehr achten, und das Gespräch versiegte.

Obwohl der Chauffeur von einer halben Stunde gesprochen hatte, hatte die Fahrt doch noch fast zwei Stunden gedauert. Es war elf Uhr nachts, als sie vor dem Portal des Sanatoriums ankamen. Der Chauffeur klingelte, aus dem matt erleuchteten Vorraum kamen zwei Diener, und Chiffon gab ihnen Auftrag, Vera auf einer Bahre in das Sanatorium zu bringen. Der Chauffeur half das Gepäck abladen, und Chiffon atmete erleichtert auf, als er sah, wie ordnungsgemäß sich alles abspielte. In wenigen Augenblicken war Vera auf einer gedeckten Tragbahre in das Haus hineingetragen worden. Man versprach, sofort den Hausarzt und die Hausdame zu verständigen.

Der arbeitslose Chauffeur stand an seinem Wagen, schüttete den Rest des Wassers in den Kühler und machte sich an die Abfahrt. Chiffon, der noch einmal nachgesehen hatte, ob alle Gepäckstücke aus dem Wagen fortgebracht waren, empfand Dankbarkeit und Sympathie für den großen, wortkargen, hilfsbereiten Menschen, er hätte ihm gerne eine Kleinigkeit geschenkt, aber er besaß fast kein Geld mehr. Jetzt tat er etwas, was er zeit seines Lebens nie getan hatte, er faßte, etwas verlegen, in seine linke Westentasche und überreichte dem erstaunten Chauffeur seine alte silberne Taschenuhr, von der er sich nie getrennt hatte. Der Chauffeur wollte sie nicht annehmen. Chiffon wollte keinen Dank hören und trippelte, so schnell er konnte, in das Foyer des Sanatoriums. Seine Frau war nicht mehr da, der Aufzug schnurrte eben sanft nach oben, man hatte sie sofort in den Untersuchungsraum gebracht.

Eine große üppige Dame, trotz der späten Abendstunde noch tadellos frisiert und zurechtgemacht, stellte sich als die Hausdame vor und bat Chiffon mit aller Höflichkeit in die Kanzlei.

»Worum handelt es sich, bitte? Welcher Arzt schickt Sie her?«

»Ganz offen gesagt, meine Frau ist plötzlich im Hotel in K. erkrankt, und man hat mir geraten, sie hierher zu bringen.«

»Der Direktor dort hat sie also hierher empfohlen?«

»Gewiß, der Herr Direktor.«

»Unser Anstaltsarzt wird Ihre Frau Gemahlin sofort untersuchen und alles Nötige veranlassen. Inzwischen können wir vielleicht unten das Geschäftliche regeln.«

»Wie Sie wünschen. Kann das aber nicht noch etwas später erfolgen?«

»Warum denn? Nein! Bei uns ist das so Vorschrift, und ich persönlich bin dafür verantwortlich. Und haftbar. Ich tue nur meine Pflicht, Sie verstehen mich.«

»Ich möchte nur vor allem wissen, was der Arzt sagt, nachher können wir das doch genausogut regeln wie jetzt.«

»Aber hinauf dürfen Sie jetzt nicht!«

»Ich, als der Ehemann?«

»Aber nicht aus Formgründen, wo denken Sie hin? Unser Doktor muß ungestört untersuchen, dabei darf niemand anwesend sein.«

»Gut.«

»Nun also. Denken Sie nur, was sich sonst abspielen würde, bei einer Geburt z. B., nicht? Oder vor einer schweren Operation.«

»Das kommt aber hier nicht in Frage. Bei meiner Frau ...«

»Ja, gewiß, hoffen wir es, hoffen wir es. Aber was weiß der Mensch? Nun zur Sache. Ihre Papiere, wenn ich bitten darf.« Chiffon gab sie, schweren Herzens, aber er machte keine Schwierigkeiten.

»Ich war schon einmal in Prag. Wir wohnten im Hotel X.«

»Ach so, Hotel X., wo ist denn das, ich kenne es gar nicht.«

»Bei der Bahn ist es«, sagte Chiffon, sich auf die Lippen beißend, »Sie werden es sicher schon gesehen haben.«

»So, bei der Bahn, Hotel X., sehr schön«, sagte die Hausdame affektiert, »jetzt ein anderer Punkt. Hier ist die Hausordnung.« Sie übergab ihm eine Drucksache von ziemlichem Umfang. »Wollen Sie das jetzt durchlesen?«

»Jetzt, wo ich ... wo meine Frau ...«

»Ach, es wird nichts Ernstliches sein. Wir haben jedenfalls hier alle modernsten Behelfe, erstklassigen Operationsraum, die großen Professoren von Prag operieren nur bei uns. Wollen Sie sich also mit der Hausordnung einverstanden erklären?«

»Wenn es sein muß.«

»Aber Sie müssen nicht. Wenn ...« Er unterschrieb. Sie löschte die Unterschrift mit einem Löschpapier ab und sagte in ihrer süßen Art, mit ihrer dicken, unechten Perlenkette spielend und die Lippen wie zum Pfeifen spitzend, so höflich wollte sie sein. »Übrigens ist es Vorschrift, daß die Angehörigen, in diesem Falle also Sie, einen gewissen Betrag beim Eintritt erlegen.«

»Wieviel?« Er überlegte, welche Anrede er ihr geben sollte, dann: »Wieviel also, gnädige Frau?«

»Ja, mindestens fünf Tage reiner Aufenthalt ...«

»Was heißt das, reiner Aufenthalt?«

»Aufenthalt ohne Nebenspesen ... Ohne Arzt, ohne Röntgenuntersuchung, ohne Blut- und Harnuntersuchung, ohne Bäder, ohne Massage und Spezialpflege, ohne Operationssaalbenutzung, ohne Medikamente ...«

»Und wieviel wäre das, gnädige Frau?«

»Wir rechnen im allgemeinen von zweihundertfünfzig Kronen aufwärts bei tageweiser Abrechnung und für fünf Tage voraus, zweihundert Kronen erste Untersuchung und zehn Prozent für das Personal als Ablösung ...«

»Und wenn meine Frau früher als in fünf Tagen das Sanatorium verläßt? Was dann?«

»Fünf Tage sind eben das Minimum. Es ist eben Sanatoriumsbetrieb, kein Hotelbetrieb. Wenn Sie im Hotel X. wohnen und den Arzt kommen lassen, können Sie natürlich sparen ...«

»Nein, nein«, sagte Chiffon, der alles, was möglich war, für seine geliebte Frau tun wollte, »ich habe eben nur so gefragt.«

»So, das ist also dann sehr schön. Also heute ist der erste Tag ...«

»Aber gnädige Frau? Den heutigen Tag rechnen Sie doch nicht?«

»Warum denn nicht? Das steht in der Hausordnung und ist Vorschrift. Das macht also ... rund fünfzehnhundert Kronen. Erscheint es Ihnen viel? Im Vertrauen gesagt, das Sanatorium arbeitet mit Defizit. Daraus können Sie ersehen, wie Ihre Frau hier aufgehoben sein wird.«

»Und ich ... aber iiich ... ich weiß nicht. Ich muß das erst mit ihr besprechen ...«

»Tun Sie das ja nicht!«

Jetzt entsann sich Chiffon plötzlich, in welchem Zustande seine Frau hier angekommen war und daß es unmöglich war, sie jetzt um Rat zu fragen. Er zuckte die Achseln, kreidebleich. »Tun Sie das keinesfalls, bitte!« fuhr die Hausdame fort. »Es ist für die Patienten meist sehr peinlich, daß man trotz ihres leidenden Zustandes diese Fragen in ihrer Gegenwart anschneidet. Man kann da Szenen erleben, sage ich Ihnen. Es sind doch Kranke! Was sollen sie denn auch antworten?«

»Ja, was sollen wir aber tun?«

»Die Summe ist Ihnen – zu hoch?« flötete die Hausdame, ihren Mund nochmals wie zum Pfeifen spitzend und diesmal wirklich ein leises Pfeifen von sich gebend, über das sie unter ihrem dicken Puder errötete.

Draußen hatte sich wieder ein Sturm erhoben, und binnen kurzem begann es wolkenbruchartig zu gießen.

»Wie schön, daß Sie Ihre Frau jetzt unter Dach und Fach gebracht haben!« sagte die Hausdame gutmütig. »Wir müssen einen Ausweg finden. Ich kann das alles verstehen. Fünfzehnhundert Kronen sind viel Geld, und vom heutigen Tage haben Sie wirklich nicht viel gehabt. Man kann dies, wenn es sein muß – ändern in unserem Eintragsbuch. Lassen Sie mich dafür sorgen ...«

Chiffon war heute zum zweitenmal gerührt über die Gutmütigkeit der Menschen. Zuerst war es der Chauffeur gewesen, der das teure Öl auf die Straße gegossen hatte, wofür er sicherlich aufzukommen hatte, und jetzt war es die alternde ehemalige Weltdame mit ihren unter dem Puder nur schlecht verdeckten Runzeln und Falten, die sich gegen ihre Brotgeber auf seine Seite stellte. »Ich will es auf meine Verantwortung nehmen. Ausnahmsweise. Bitte, zahlen Sie den Betrag morgen bis spätestens zwölf Uhr mittag ein. Sonst käme ich um meine Stellung. Ich verdiene hier nur ein Taschengeld – und die Verpflegung natürlich ... An meinen Händen bleibt das Geld nicht haften. Auch an den Händen der Ärzte nicht. Wir sind hier erstklassig geleitet. Alles – frißt die Bank.«

»Seien Sie ganz sicher, gnädige Frau«, sagte Chiffon, etwas getröstet bei all seinem Unglück, »ich stehe Ihnen gut. Darf ich jetzt nach meiner Frau sehen?«

»Natürlich! Aber Sie müssen ganz leise sein. Auf den Korridoren nicht sprechen, bitte. Und wenn Sie dann fortgehen, geben Sie mir Ihre Telephonnummer, damit wir Sie im Notfalle jederzeit erreichen können. Hotel X. vielleicht? Ich erinnere mich jetzt, ich kenne es gut.«

»Später, gnädige Frau, später! Und jetzt nur meinen besten Dank!« Er wollte sogar ihre fette, rosige, mit vielen, kleinen, billigen Ringen geschmückte Hand küssen, aber sie entzog sie ihm und wies auf den fast lautlos herabsinkenden Aufzug, der ihn hinaufbringen sollte.

Als der Aufzug unten ankam, entstieg ihm der Anstaltsarzt, ein noch sehr junger, aber schon etwas fettleibiger Mensch mit scharfem Blick, der sich ohne weiteres mit Chiffon bekannt machte und ihn sofort beruhigte.

»Seien Sie ganz unbesorgt. Eine Kinderei!«

»Eine Kinderei bei zwölf Veronalpulvern?«

»Zwölf? Ausgeschlossen, vielleicht drei. Immerhin habe ich Ihrer Frau den Magen erleichtert.«

»Ausgepumpt?«

»Wenn Sie es so nennen wollen. Nicht, weil ich den Zustand für bedrohlich hielte, sondern nur so auf alle Fälle und aus moralischen Gründen, denn es wirkt abschreckend.«

»Und woher wußten Sie alles?«

»Woher? Ihre Frau hat mir doch alles genau erklärt.«

»Sie ist wach? Sie kann sprechen?«

»Gewiß kann sie sprechen, und sogar sehr reizend.«

»Und kann ich sie sehen?«

»Auf einen Augenblick, gewiß. Übrigens, was mir weniger gefallen hat, war die Lunge. Eine kleine Reizung, eine minimal erhöhte Temperatur. Weshalb haben Sie sie denn in diesem Höllenwetter hierher transportiert?«

»Aus Sorge! Aus Sorge! Ich dachte, es bestände Gefahr.«

»Wer hat Ihnen das eingeredet? Nun kommen Sie, wir wollen ihr schön gute Nacht sagen.«

»Ich kann doch heute abend nicht schon wieder fort von hier?«

»Ja, warum denn nicht?«

»Weil ich ... ich bin in größter Verlegenheit. Ich ... möchte sie eben heute nacht nicht allein lassen. Kann man denn gar nichts tun?«

»Nur nicht so aufgeregt! Was haben denn Sie ? Mir scheint, Sie sind kränker als Ihre junge Frau. Nun kommen Sie, wir fahren erst einmal hinauf. Sie erwartet Sie schon mit Sehnsucht und bösem Gewissen ...«

Im Aufzug fragte der Arzt noch einmal: »Nun, wo fehlt's? Haben Sie über etwas zu klagen?«

»Etwas!« wiederholte Chiffon voll Bitterkeit.

»Nun, immerhin anfangen«, sagte der Arzt gleichmütig. »Wo drückt es Sie? Im Herzen? Im Magen?«

»Erraten!« sagte Chiffon kurz, denn sie waren in Veras Stockwerk angekommen.

Veras Zimmer war sehr einfach eingerichtet, war aber ziemlich groß und blitzte vor Sauberkeit. Nur die vielen Koffer störten etwas. Vera war noch sehr blaß, aber sie war bereits ganz klar und bot ihrem Mann mit einem müden, scheuen Lächeln ihren Mund. Als er sie aber küssen wollte, wandte sie ihr Köpfchen schnell ab.

»Nicht!«

»Warum denn nicht? Liebes?« fragte Chiffon unter Tränen.

»Ich verdiene das nicht!«

»Ach, Vera! Kind!«

»Und dann schmeckt mein Mund nach Gummi von der scheußlichen Magenspülung.«

»Nun, Vera, du tust so etwas nie wieder?!«

»Du kannst noch fragen? O du Armer! Wie siehst du aus! Und dein schöner Anzug voller Öl!«

»Ja, ich habe auf dem Wege hierher eine Ölkanne zwischen den Knien gehalten ...«

»Alles das erzählst du mir später, wenn ich gesund bin. Ich möchte – lach nicht, Manfred, und zürne mir nicht, ich möchte gar zu gern rauchen. Schnell, zünde dir eine Zigarette an und laß mich ziehen!«

»Darfst du denn das? Was wird der Arzt dazu sagen?«

»Ja, du hast recht. Ich soll mich schonen, die Lunge soll nicht ganz in Ordnung sein, und etwas Temperatur habe ich auch ...«

»Was, du hast Fieber?«

»Ach, nicht der Rede wert. Zu Hause hatte ich es ja auch immer, da ist so etwas Prickelndes, das ... bringt mich ganz auf. Und jetzt laß mich rauchen. Einen einzigen Zug nur ...«

Er konnte ihr den Wunsch nicht abschlagen, wenn es dann wirklich nur bei einem Zug blieb. Dann saß er auf ihrem Bettrande, er rührte sie nicht mit der Fingerspitze an, er war so glücklich in all seiner Sorge, wenn er sie nur ansehen konnte. Sie hielt ihm die Hand über die Augen. »Sieh mich nicht so an«, sagte sie mit ihrer etwas heiseren Stimme, »was hast du denn an mir? Wie spät ist es denn?«

Er hatte keine Uhr mehr. »Ach, so gegen Mitternacht wird es sein.«

»Ja«, rief sie, plötzlich lebhaft werdend und mit ihrer Hand seine Wange leicht schlagend, »Mitternacht! Itternacht! Hab' ich dir nicht gesagt, gestern, daß du mich um Mitternacht wecken sollst?«

»Gestern hast du das gesagt? Gestern? Du hast recht, es sind nur vierundzwanzig Stunden vergangen!«

»Wie trübselig du aussiehst! Habe ich dir viel Kummer gemacht? Ich bin eben dumm, doof, ein Püppchen. Hab' ich dir nicht auf dem Hauptbahnhof in B. gesagt, laß sie da! Laß Veralein sitzen! Ich bin dir nur eine Last! Aber die Männer glauben ja nicht!«

»Doch, sie glauben schon! Aber wie sollte ich dich allein lassen? Bei ihm – bei Rudolf?«

Sie schüttelte den Kopf. »Du mußt keine Angst mehr um mich haben. Rudolf ist aus. Ich werde dir das schnell alles erklären, rücke doch etwas näher, ich muß leise sprechen, im Nebenzimmer verstehen sie deutsch!«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe es doch gehört! Da hat eine Dame in deutscher Sprache geweint, ganz deutlich habe ich es durch die Wand gehört. Jetzt ist sie still! Pss! Hör mal! Ganz still! Vielleicht ist sie tot. Tu die Zigarette weg, ich kann doch nicht mehr daran ziehen, ich glaube, ich bin noch sehr müde. Aber ich erzähle es dir noch schnell. Weiß du, immer hat es mir vor dir gegruselt. Oft saß ich in der Anfangszeit mit ihm in deinem Spielsaal, und ich gruselte mich herrlich, und wir warteten, bis du uns riefst!«

»Ja, du großes Kind!«

»Nein, kein Kind mehr. Das muß alles jetzt vorbei sein. Kein Baby mehr sein, keine Lyzeumsprache quasseln, ich muß jetzt erwachsen sein, Kinder dürfen eben nicht kindisch sein, ich hätte überhaupt nicht so schrecklich lange Kind bleiben sollen, aber du wolltest es ja – und dadurch wurde es unser aller Unglück, du, ich und Rudolf. Nein, laß mich reden, du wirst staunen, wie klug ich jetzt bin, irekt lug, nicht wiederzuerkennen! Bleib doch! Du mußt bald gehen? Ich will dir nur sagen, wie ich auf das Veronal verfallen bin. Veronal kommt wohl auch gar nicht von Vera, es ist nur ein Zufall, nicht wahr? Auch das habe ich herausgebracht auf dem Land, als wir so schön im Walde lagen, wir beide.«

»Wie konntest du das nur tun? War es dein Ernst?«

»Natürlich. Ein Rnst! Lutiger Rnst! Ich ... es sollte ein Gottesurteil sein, denn so konnte es nicht weitergehen. Das Kinderorakel hast du vergessen. Ich nicht. Da sagtest du ›ja!‹ Das heißt, ich mußte es tun, nicht wahr? Als ich noch zu Hause war, da war es anders, da liebte ich dich doch noch nicht. Aber jetzt. Nein, nicht unterbrechen. Du warst leider eben zu gut zu mir. Da konnte ich nicht anders, da mußte ich dich lieben, ganz so wie du bist, gerade mit deinen scheußlichen grauen Haaren und den langen gelben Zähnen – ob man sie nicht bleichen kann oder abschleifen, aber dabei dir nicht wehe tun, Bösewicht, ja, und mit den schmalen Lippen und der Stotterei, der Ottrei! Ich liebe dich nun mal eben. Als wäre früher nichts gewesen. Und da fiel mir wieder der arme Rudolf aufs Herz. Ich hatte doch solchen Kummer um ihn. Aber dich lieb' ich. Du bist mein Mann, Ist das nicht furchtbar traurig? Urchtbar raurig? Urchtbar?«

»Du wolltest doch keine Lyzeumsprache mehr sprechen?«

»Richtig, richtig! Ich glaube, der Doktor kommt, ich muß schnell machen. Hast du übrigens draußen auf dem Korridor vor den Türen die vielen Blumen stehen sehen? Da sind wohl überall Tote drin? Und die Doppeltüren sind wohl dazu da, daß man sie nicht schreien hört in ihren Schmerzen? Nimm mich weg von hier! Trag mich fort! Sonst gruselt es mich wieder, Ehrenwort!«

»Nein, du mußt dich nicht grauen und gruseln. Man stellt die Blumen nur deshalb heraus, weil der starke Duft nachts die Kranken stören würde.«

»Dann graut und gruselt es mich ganz und gar nicht mehr. Ich weiß jetzt, wo ich hingehöre, nur zu dir! Und kommen, soll kommen, was will, ich bleibe dir angehangen, und solange ich lebe, nur dir. Ur ir. Mich gruselt bei dir nicht, und wenn du, Gott weiß was, auf dem Gewissen hast. Denn das Gottesurteil hat für dich gesprochen. Gestern nacht habe ich mir gesagt, Gott soll entscheiden, zu wem ich gehören soll. Ich habe auch die ulkigen Gesichterchen gemalt, gelt, das kann ich fein? Aber dann kam der Ernst, der Rnst! Das Gottesurteil. Das habe ich nicht erfunden. Solche Sagen haben wir gelernt im Lyzeum, viele, und jetzt wollte ich auch eine Sage machen. Eine raurige, aber öne Age, erstehst u ich?«

»Doch, ich verstehe dich, mein liebstes, armes Kind!«

»Gar nicht arm! Reich! Sehr reich!« Sie spielte mit ihrer kostbaren Perlenkette und rollte die Perlen durch ihre Fingerchen, bis sie bei der großen stehenblieb. »Ist denn das arm?« sagte sie. »Schauerlich reich, und nur durch deine Güte. Also, sieh mal! Ich habe natürlich etwas gemogelt beim Gottesurteil, denn ich wollte doch bei dir bleiben, verstehst du, wachsinniger Nabe? Ich sagte, wenn du zwölf Veronal nimmst, dann schläfst du ein, Vera, und dann kommt er, er das bist du, Anfred, der meinste – und dann rettet er dich. Vielleicht ja, vielleicht auch nein. Ach, jetzt beim Erzählen, davon werde ich müde, vielleicht fiebert es mich auch ein wenig – aber ich muß mich zusammenraffen und muß dir alles erzählen. Dann schlafe ich nur um so süßer. Und du bleibst da, im Zimmer auf dem Sofa! Heute darfst du!«

»Wir werden sehen, ich werde alles versuchen!«

»Ich habe ja auch alles versucht und habe dir zuliebe gemogelt. Siehst du, bei zwölf hätte es ja auch ganz gut schiefgehen können, ich wußte ja, was Veronal ist, denn meine Freundin, die Orchidee, die hat es mal gemacht und ist vierzehn Tage zwischen Tod und Leben gewesen ... Da habe ich dem lieben Gott das Gottesurteil etwas leichter gemacht und habe immer nur die Hälfte von einem Pulver gegessen. Immer in der Mitte durchgeknackt, so waren es eigentlich bloß sechs. Und auch das wird nicht alles hinuntergeschluckt worden sein, denn es ist abscheulich bitter, und das tat ich nur aus Liebe für dich. Siehst du das ein?«

Er nahm sie um die zarte Taille, zog sie sanft zu sich und küßte sie auf die Achseln, auf die Stelle, wo das Achselband ihres Hemdes gelegen hatte.

Der Arzt pochte laut an und führte Manfred hinaus. Er wollte es ausnahmsweise gestatten, daß Chiffon in seinem Dienstzimmer übernachte, er selbst wollte auf einem Sofa sich niederlegen. Chiffon, tief gerührt über die viele Liebe, die ihm heute entgegengebracht wurde, vertraute dem Arzt seine Nöte mit dem kranken Magen an. Der Arzt beruhigte ihn. »Aber das ist doch nur eine Kleinigkeit. Wenn Sie etwas daran wenden wollen ...«

»Wie meinen Sie das?«

»Wenn Sie drei Wochen Aufenthalt hier auf sich nehmen wollen und die Langeweile nicht scheuen, so bringe ich Ihnen das Magengeschwür fort. Diät und Natron in Massen. Das ist gar keine Kunst. Geduld und Methode. Drei Wochen Aufenthalt hier. Schmerzlos. Gefahrlos. Das ist eine der wenigen Sachen, worin die moderne Medizin geradezu prachtvolle Heilerfolge hat ...« Beruhigt schlief Chiffon ein. Er wurde des öfteren durch das Klingeln des Telephons aufgestört, sah wiederholt den Arzt aufstehen und in seinem weißen Mantel hinausschlüpfen. Aber er, Chiffon, kuschelte sich tiefer ein, dachte an seine Vera und schlief weiter.


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