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V.

Am nächsten Tage sah er seinen Rudolf wieder, wie er, mit scheuen Schritten, in allen seinen Kleidern, auch die gelbe Decke um die breiten Schultern gehängt, mit unruhigen, fliehenden Blicken durch das Krankenzimmer strich, kaum seinen Bruder richtig betrachtend, sondern nur einen aufblitzenden Blick durch die geöffnete Tür sendend. Die Freiheit fehlt ihm wohl sehr, es muß doch sehr furchtbar sein für ihn, dachte Konrad. »Ich bringe dir etwas zum Rauchen«, sagte er, nahe an ihn herantretend, »mit oder ohne Mundstück? Oder gar eine Zigarre?«

»Alles egal.«

»Willst du also die Zigaretten?«

»Danke, nein.«

»Auch nicht eine – gleich anzuzünden?«

»Ach, nein.«

»Du rauchst doch sonst gern?«

»Ach, ja, ja.«

»Möchtest du andere Kost? Keks? Oder zum Beispiel etwas frisches Obst?«

»Nein, danke sehr!«

»Oder ein Buch?«

»Kenn' ich ja fast alle!«

»Also was denn?« Schweigen.

»Eine Zeitung?«

»Ewig das gleiche!«

»Brauchst du also gar nichts?«

»Nein.« – Dann begann Rudolf von selbst: »Muß ich denn noch sehr lange hierbleiben?«

»Ich hoffe nicht. Es wird sich bald alles aufklären. Du mußt dir vor allem einen Verteidiger bestellen, dein Verteidiger kann sogar ein Haftentlassungsgesuch bei der Strafkammer einreichen. Du hast schon Zeit verloren, ich werde aber sofort dafür sorgen, daß du aus der Anstaltskanzlei das übliche Formular zur Bestellung eines Verteidigers erhältst. Du unterschreibst, und alles andere überläßt du mir.«

»Warum denn dir?«

»Du kannst natürlich selbständig als Verteidiger jeden wählen, den du willst. Hast du an einen bestimmten Anwalt gedacht?«

»Ich – einen Anwalt? Wozu denn? Ich habe doch dem alten Rosenfinger nichts angetan!«

»Aber die zwei Polizisten, am Kiosk!«

»Das war wohl sehr schlimm? Denn sonst wäre es doch unter die große Amnestie vom Reichspräsidenten gefallen?«

Konrad schüttelte den Kopf. »Du mußt doch alles daran setzen, daß die Sache Rosenfinger aufgeklärt wird.«

»Alter Kohl! Ist mir ja so egal!«

»Vor allem muß klar werden, was du mit Manfred gehabt hast und mit Steffie!«

»Wie denn das? Kommt ja gar nicht in Frage! An meine Kameraden lasse ich nicht tippen! Was denkst du denn von mir?«

Jetzt zuckte Konrad die Achseln. Er schwieg. Nach einer Weile warf Rudolf die bereits etwas schmutzig gewordene Daunendecke auf sein Bett und stellte sich ans Fenster. Im hellen Licht sah man seine fahlen Wangen, von der Farbe ungegorenen Brotteiges, mit dichten, starren, gelblichen Bartstoppeln besetzt.

»Du darfst dich hier auch einmal rasieren lassen!« sagte Konrad, »das Recht steht dir zu.«

»Ich werde mich hüten! Wozu auch? Für wen? Nee! Schmutzige Proletenhände an mich ranlassen! Bei mir – nicht!«

»Warum Proleten? Leider sind es Leute aus allen Gesellschaftsschichten.«

»Alles Pack!«

»Und du?«

»Vielleicht ich auch?«

»Wie du willst, Mensch.«

»Weshalb heiße ich auf einmal Mensch? Für dich bin ich noch lange kein Mensch.«

»Tu nur nicht so zimperlich! Auch von Ohr läßt sich im Haus rasieren. Was dem Direktor hier recht ist, könnte dir auch billig sein, Junge! Oder nicht?«

»Jetzt ist er böse! Nicht böse sein, Konrad, Kamerad, hör mich mal ruhig an, liebster, einzigster Bruder! Siehst du denn den ganzen Jammer nicht? Was soll ich denn tun?«

»Komm endlich zur Vernunft!«

»Das sagst du so! Jetzt habt ihr mich hier, ja? Und das Kokain habt ihr mir auch entzogen, ja?«

»Ja, das haben wir. Denn das mußte sein.«

»Und mich dabei zum alten Mann gemacht!«

»Quatsch! Reiner Unsinn!«

»Nun, so tut doch mit mir, was ihr wollt! Ihr könnt mich köpfen, danke! Macht es gut! Nur los! Ich sage nicht muh. Aber doch finde ich es scheußlich, daß ihr Mutti von mir fernhaltet. Das ist wohl auch Quatsch und reiner Unsinn?! Was mögt ihr ihr für Räuber- und Mördergeschichten aufgebunden haben von mir? Es ist doch meine Mutter! Du gönnst sie mir wohl nicht?«

»Ich?! Mutter ist schon lange nicht mehr hier.«

»Dir soll ich wohl glauben, ja?«

»Glaub es oder glaub es nicht. Sie ist seit vier Jahren in einem Erholungsheim. Was weißt du von allem? Hast du dich je um sie gekümmert?«

»Wie hätte ich das anfangen können?«

»Schreiben!«

»Ich schreibe eben nicht gern.«

»Dann beklage dich auch nicht. Wie soll ich dir Mutti herzaubern?«

»Ach so! Nicht mehr hier! Ihr seid wohl alle sehr böse auf mich und schämt euch bis in den nackten A...?«

»Du bist wohl sehr unglücklich, Bruderherz?«

»Ich? Warum? Nicht die Bohne!«

Konrad sagte nach einer Weile: »Und wie war die letzte Nacht? Kannst du denn wieder ordentlich schlafen?«

»Wie ein Gott! Also schönen Dank für alles!«

»Dann soll ich wohl gehen?«

»Kannst auch bleiben! Sag mal, Konrad, ob ich an meinem Geburtstag noch hier bin?«

»Aber du hast doch erst vor kurzem Geburtstag gehabt, Ende April!«

»So, Ende April, und das ist schon vorbei? Geburtstag im April? Ich bin von Kopf bis Fuß in Ordnung«, sagte Rudolf scheinbar ganz zusammenhanglos, »ich bin kerngesund, möchte gern wieder mal ein paar Bäume ausreißen. Oder, was meinst du, Flieger möchte ich werden. Siehst du, dazu hätte ich ehrlich Lust. Ach ja, Lust!«

»Du hast dein Leben noch vor dir«, sagte Konrad ernst und stellte sich Rudolf gegenüber, der ihm mit seinen Blicken auswich. »Die Sache muß hier in Ordnung kommen. Das muß sein! Ebenso wie deine Sucht in Ordnung gekommen ist. Junge! Als alter Kokainist kannst du nicht mehr Flieger werden. Wie hast du mit dir geaast! Jämmerlich! Erbärmlich! Höre nur gut zu! Unmännlich! Unmännlich und feig dazu! Das muß ich dir ehrlich sagen. Du hättest dich selbst nicht erkannt, wenn du dich bei deinem Eintritt ins Gefängnis gesehen hättest, glaub es mir, Bruderherz! Vielleicht nicht feig. Ich will dich nicht verletzen, aber unmännlich ist und bleibt es. Rausch ist eine Schande, sei es Fusel, sei es Kokain, sei es, was es wolle. Mensch! Nicht wir haben dich zum alten Mann gemacht! Was du in Kattowitz in der Kneipe gesehen hast, das wird ganz einfach dein Bild im Spiegel gewesen sein!«

»In der Kneipe in Kattowitz? Woher weißt du denn das? Da habe ich wohl im Dusel aus der Schule gequatscht. Und wohl auch feste um mich gehauen? Sehr fest?«

»Wenn es weiter nichts ist, das haben wir dir verziehen! Rudolf, Rudolf, hättest du dich nur gesehen!«

Rudolf hatte sich mit seiner Hand, an der die Nägel abgebissen waren (Nagelschere und -feile gab es hier nicht), spielerisch in Konrads Uhrkette verfangen. »Das ist doch noch die Uhrkette unseres alten Herrn, und die schöne, schwere Uhr trägst du wohl jetzt auch? Gehört mir nichts? Alles euch?«

»Alles euch? Du kannst das Zeugs sofort haben, ich habe es dir oft angeboten, Kette wie Uhr, aber früher wolltest du beides nicht!«

»Ja, früher«, flüsterte Rudolf, sich auf das Bett setzend und sich wieder fröstelnd in die Decke hüllend, »früher, was war das auch für eine Zeit! Sagt, was wollt ihr jetzt mit mir beginnen? Wozu tauge ich noch? Zum Flieger wohl nicht mehr. Stimmt. Ich zittere ja und sehe schlecht. Was meinst du? Ab und zu verliere ich die Besinnung und weiß von nichts, nicht wahr? Nun gut! Was soll ich noch? Straft mich, aber was dann? Sperrt mich ein, aber dann? Wozu? Das ist doch alles nur Ersatz. Schlagt mich tot, gebt mir nachts eine Spritze, wenn ich nur nichts davon weiß! Nein, das tut ihr wohl nicht? Ihr habt zwar mal daran gedacht, ja? Schufterle, was? Aber ihr traut euch doch nicht richtig? Sag, warum bin ich eigentlich hier? Ach ja, du hast es mir schon einmal gesagt, wegen der zwei Polizisten. Aber es war doch nur ein einziger, und bei mir war's Notwehr und etwas akute halluzinatorische Sinnesverwirrung – eines davon wird es wohl gewesen sein, nein? Paragraph 317 und 159. Stimmt doch, Brüderlein, nicht wahr?«

»Weiß ich nicht!«

»Du weißt das nicht?«

»Mit mir darfst du nicht über juristische Einzelheiten sprechen, nur mit deinem Anwalt. Laß ihn doch kommen!«

»Weißt du, Konradchen, eins wollte ich dir schon lange sagen, ich bin doch hier nur mit einem Oberhemd angerückt. Und mein anderes Gepäck muß ja irgendwo liegen, ich habe doch sicherlich noch eine Menge tipptopper Wäsche und Ersatzmanschettenknöpfe und so Schätze heimgebracht, aber frag nicht, wo. In einem Hotel? Auf dem Bahnhof? Oder einfach verschleudert? Ich dummer Matz weiß nichts mehr, nein, mein Kopf ist leer wie ein Bierfaß nach dem Turnerfest. Chiffon hat über meine Dummheit gelacht!«

»Wozu die vielen Worte? Wieviel Hemden brauchst du? Welche Halsweite hast du? Früher hattest du 40.«

»Nein, nein, ich will eigentlich gar nichts«, sagte Rudolf in sich zusammensinkend, »oder doch – ein ganz klein wenig Nachricht von Vera? Nur ob sie hier ist, im Gefängnis, meine ich. Es wäre mir zu leid um sie. Geht ihr wohl gut? Nun? Und wie ist es denn mit Chiffon?«

»Ich darf dir nichts sagen«, antwortete Konrad, »ich habe dem Untersuchungsrichter mein Wort gegeben.«

»Ach, die beiden, der Untersuchungsrichter und du, ihr seid die richtigen Brüder. Man kann eben gar nichts von dir haben.« – Er legte sich hin, drehte sich zur Wand und gab kein Zeichen, ließ stumm den Bruder ziehen, der noch einmal gefragt hatte, ob die Kragenweite 40 richtig sei.

Auf dem Lazarettkorridor traf Konrad den Dr. Fabrizius. »Nun, Kollege, frater et domine, was sagen Sie zu dem alten Glückspilz? Ja, dem Gerechten gibt es Gott im Schlafe.«

»Wie meinen Sie?« fragte Konrad zerstreut. »Mein Bruder – ein Glückspilz!?«

»Aber nicht doch, lieber Kollege. Ihr Bruder übrigens auch. Ich hätte gar nicht geglaubt, daß er so schnell über den Berg käme, auch ihm hat es Gott im Schlafe gegeben. Gemeint aber habe ich diesen Dussel, den Jarausky, der sich mit seiner Mutter auf einmal im Golde wälzt. Ja, da staunen Sie! Die alte Dame hat angeblich eine Million in der Staatslotterie gewonnen. Wenn dieses östliche Naturvolk auch immer maßlos übertreibt, Geld muß jetzt jedenfalls da sein, und zwar massig! Nun, ich beneide trotzdem weder Mutter noch Sohn. – Kann man mal eine Zigarette von Ihnen haben, ich habe die meinen oben im Straßenanzug –«

»Gewiß«, sagte Konrad mechanisch, »mit Mundstück? Ohne Mundstück?«

»Ganz einerlei! Wir Barbaren nehmen alles!«

»Wo habe ich sie denn nur?« sagte Konrad, seine Taschen durchsuchend.

»Ach, lassen Sie, wenn es Mühe macht! Soviel liegt nicht daran.«

»Doch! Mir liegt daran, mir liegt sehr viel daran! Ich muß sie wiederfinden.«

»Ob Sie sie nicht eben bei Ihrem Bruder vergessen haben?«

»Nein, das ist ausgeschlossen!«

»Aber es zieht doch ein leises aromatisches Lüftchen durch die Welt, liebliches Geschmauche! Sollte mich sonst sehr irren! Und aus seinem Zimmer kommt es! Überzeugen Sie sich selbst! Ja, der zerstreute Professor! Sagen Sie, wann werden Sie Professor? Hoffentlich bald! Nanu, was haben Sie? Warum auf einmal so blaß? Hinsetzen? Aber natürlich! Bloß wo? Hier im Korridor? Was ist da jetzt bloß wieder los? Er raucht, und Sie haben Nikotinvergiftung, Blässe, Herzschwäche, weite Pupillen, frequenten, dünnen Puls?«

»Lassen Sie mich, bitte, lassen Sie, es ist schon wieder alles in Ordnung.«

»Um auf die alte Sache zurückzukommen, was hat solch ein Mensch noch viel vom Leben zu erwarten?«

»Was, das sagen Sie, Fabrizius! Sie sagen das auch? Meine Frau hat es mir immer wieder gesagt!«

»Ihre Frau?« fragte Fabrizius, sehr erstaunt zurücktretend, denn er war einen solchen Ausbruch bei dem immer beherrschten Konrad nicht gewohnt. »Wie kommt denn Ihre Frau mit der alten Hexe, der Mutter Jarausky, zusammen?«

»Entschuldigen Sie«, sagte Konrad, sehr bleich, aber wieder völlig Herr seiner selbst, »ich habe Sie noch ein zweitesmal mißverstanden. Sie haben recht, gewiß.«

»Mag sein, mag immerhin sein!« sagte Fabrizius abschließend, da er sich nur ungern auf persönliche Dinge einließ. »Bitte mich übrigens daheim zu empfehlen! Waren Sie überhaupt heute schon oben bei dem Alten? Ohr möchte Sie gern sprechen, deucht mich, er wäre einem Gentlemenpalaver nicht abgeneigt, so scheint mir fast.«

Sehr langsam ging Konrad die altbekannten Gänge entlang, über die verschiedenen Höfe in das Direktionsgebäude. Seit dem technisch vollendeten Diebstahl der Zigaretten durch Rudolf war etwas in ihm zerbrochen, und dabei war es nichts Neues und konnte nichts Neues sein. Es war etwas, das alle Mitglieder der Familie seit über zehn Jahren an Rudolf kannten. Konrad liebte seinen Rudolf immer noch. Aber er erkannte, wie sehr er Flossie unrecht getan hatte, und jetzt fürchtete er, es sei zu spät zur Umkehr. Er ahnte, daß ihm der Direktor etwas Wichtiges, das Rudolf betraf, mitteilen wollte. Gestern noch wäre er atemlos, mit wehendem Kittel über die Korridore zu ihm hingelaufen, heute ging er ebenso schnell oder ebenso langsam, wie wenn er in rein dienstlicher Angelegenheit zu Ohr gerufen worden wäre. Lag es daran, wenn er diesmal zu spät kam? – »Vor einer Sekunde fortgegangen, der Herr Major«, sagte man ihm, »Herr Doktor müssen ihm auf der Treppe begegnet sein.«

»Nein.«

»Wollen Herr Doktor etwas hinterlassen?«

»Danke! Nein!«

»Und werden Herr Doktor dann heute abend telephonisch zu erreichen sein?«

»Kann ich jetzt noch nicht sagen. Noch etwas?«

»Nein, Herr Doktor.«


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