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XI.

Am nächsten Tag erwachte Manfred erst gegen zehn Uhr – in einem wildfremden Raum. Er hatte ganz vergessen, wie er hergekommen war. Endlich besann er sich. Er machte schnell Toilette und eilte zu seiner Frau, die ihn zärtlich empfing. Ihre Augen glänzten immer noch etwas fiebrig, aber sie hatte ein reichliches Frühstück mit großem Hunger verzehrt und wollte, daß auch ihr Mann »sich erholen« sollte. »Sehe ich denn so elend aus?« fragte er. Sie antwortete nicht, strich ihm mit ihren weichen, nach Chypreseife duftenden Händchen durch das eisgraue Haar und wollte ihn festhalten, als er sich sehr bald anschickte zu gehen. Es war ein halb elf, und um Mittag mußte die »Garantie« in den Händen der Hausdame des Sanatoriums sein. Wie sollte er in so kurzer Zeit soviel Geld auftreiben? Er spielte in Gedanken mit Veras schöner Perlenkette, die in den Jahren, während der sie sie getragen hatte, einen immer schöneren, weicheren Glanz bekommen hatte. Die Perlen hatten sich einander angeglichen, so kam es wenigstens Chiffon vor, und der Wert des Schmuckes hatte sich vergrößert. Eine einzige Perle hätte genügt, um die Summe, die notwendig war, herbeizuschaffen. Aber seine Vera berauben? Noch vor wenigen Wochen hätte er es als selbstverständlich empfunden, in der Verlegenheit einen ihrer Ringe zu versetzen. Jetzt tat er etwas, was er klugerweise bis jetzt vermieden hatte, er suchte aus einem seiner Koffer einige von den Pfandstücken heraus, steckte sie in die Tasche seines silbergrauen Lüsterrockes und verschwand in Eile. Auf der Treppe hielt ihn der Anstaltsarzt auf, der sich aus wahrem Interesse mit ihm und seiner Frau beschäftigt hatte. Aber Chiffon hatte keine Zeit, er trippelte, so schnell er konnte, auf seinen leisen Gummiabsätzen zu seinem alten Hotel, verirrte sich in der Stadt, wußte in der fremden Sprache nicht richtig nach dem Wege zu fragen. Plötzlich kam er am Postamt vorbei. Er fragte nach Briefen, aber auch diesmal hatte Steffie nichts gesandt. Aschfahl trotz der Hitze, müde, aber doch voller Hoffnung (Veras offenbare Liebe tat ihm unbeschreiblich wohl, und sie konnte ihm alles andere ersetzen, wie er jetzt fühlte) kam er in dem alten Hotel an. Er nahm ein Zimmer, sah es aber vorerst gar nicht an, trug sich in dem Hotelbuch vorläufig nicht ein, zog aber sofort den Portier beiseite und, ihm sein letztes Geld als Trinkgeld aushändigend, fragte er ihn unter starkem Herzklopfen, die Hand vor dem Mund haltend, wo und wie man hier ein paar kleine Schmucksachen loswerden könnte. Der Portier schien weniger erstaunt, als es Chiffon gefürchtet hatte, und nannte zuerst einen Juwelier, ein großes Geschäft, das die kostbarsten Steine in der Auslage liegen hatte, die Chiffon seinerseits mit Kenneraugen seinerzeit schon lange bewundert hatte.

Chiffon schwieg jetzt und verzerrte nur etwas den Mund. Sofort besann sich der Portier, und ohne ein Wort zu reden, nahm er ein Rechnungsformular des Hotels, schnitt mit einer Schere oben den Namen des Hotels fort und schrieb eine Adresse darauf. Ohne Zweifel hatten sich die beiden verstanden. »Zehn Prozent«, flüsterte Chiffon dem Portier zu. Auch das war etwas, was er früher nie getan hätte, denn es machte ihn noch mehr verdächtig. Der Portier schüttelte den Kopf. »Den Zettel sofort zerreißen, sonst könnte ich ...« Er vollendete nicht, es waren neue Gäste gekommen. Chiffon nickte und trippelte schleunigst fort.

Es war aber schon gegen Mittag, als er endlich die Adresse erreicht hatte. In einer Gegend, die er nie betreten hatte, befand sich an der Kreuzung zweier großer Straßen ein kleines, aber trotz der Mittagsstunde gut besuchtes Kaffeehaus. Er nahm Platz und zeigte dem Oberkellner den Zettel. Der Oberkellner brachte unauffällig an seinen Tisch einen älteren und einen jüngeren Herrn, beide anständig gekleidet, die sich zu ihm setzten, zuerst die Zeitung lasen und dann hinter den Blättern der Zeitung ihn in deutscher, tschechischer und französischer Sprache fragten, ob er »etwas Neues wisse«.

»Gewiß«, sagte Chiffon, der sie an ihrer Art sofort als gewerbsmäßige Hehler erkannt hatte, die sicherlich im Nebenberuf auch mit »Leckereien« (das ist Kokain und Heroin) Handel trieben, »es sind ein paar Neuigkeiten da, größere und kleinere.«

»Also zeigen Sie die kleineren zuerst!« Er zeigte die Schmuckstücke, welche die Herren mit dem ersten Blick abschätzten und vor sich hin auf eine schmutzige Aschenschale legten. Dann kramte er die besseren Stücke hervor, denen es ebenso erging. Endlich hatte er nichts mehr, die Herren fragten aber:

»Ist das denn alles? Keine größeren Neuigkeiten?« Chiffon schüttelte den Kopf. »Wir suchen eigentlich erstklassige Stücke, ein großes Kollier zum Beispiel, einen punktreinen Stein, für Smaragde über ein gewisses Format hinaus hätten wir etwas übrig.«

»Das ist alles, was ich habe. Erbstücke. Familienschmuck. Ich muß mich davon trennen, meine Frau ist krank, liegt im Sanatorium A.«

»Sanatorium A.? Kenne ich«, sagte der jüngere und geschäftstüchtigere der beiden, der dem anderen einen Wink gegeben hatte, ihn das Geschäft allein machen zu lassen.

»Ja, mehr habe ich vorläufig nicht«, flüsterte Chiffon in seiner Angst. Der Hehler schwieg und nahm die Zeitung wieder vor. Er spannte jetzt ruhig Chiffon auf die Folter, der mit Schrecken an der Armbanduhr des Hehlers sah, daß es weit über Mittag war.

»Vielleicht kommen Sie ein andermal mit den größeren Stücken wieder«, sagte endlich der ältere, der etwas Mitleid mit Chiffon empfand, dem der Schweiß in hellen Tropfen auf der Stirn stand.

»Können Sie mit denen hier gar nichts anfangen? Ich brauche im Augenblick dringend Bargeld. Ich kaufe es bald zurück. Gebe gute Zinsen, will es nur verpfänden.«

»Da werden Sie aber wenig dafür bekommen«, sagte der jüngere, nahm die Stücke aus der Aschenschale und händigte sie dem älteren Herrn zu einer neuen Prüfung wieder ein. »Wir brauchen anderes.«

»Die größeren Stücke bekommen Sie auch. Ich werde Sie ausschließlich Ihnen anbieten, verlassen Sie sich darauf.«

»Wollen Sie also vielleicht heute abend wiederkommen?«

»Gern! Aber ich brauche sofort das Geld.«

»Ich kann Ihnen doch keinen Vorschuß auf Sachen zahlen, die ich nicht gesehen habe. Sollen wir zu Ihnen kommen?«

»Nehmen Sie doch, was da ist!«

»Gern, wenn Sie sich ausweisen können.«

»Meine Legitimation?«

»Genügt nicht. Sie kennen ja die gesetzlichen Vorschriften. Sie müssen nachweisen, wie Sie zu den Sachen gekommen sind: Fakturen! Fakturen!«

Chiffon begann zu zittern. »Beruhigen Sie sich, Herr«, sagte der ältere der beiden Hehler, »wir sind nicht so genau. Wir wollen natürlich nichts mit den Behörden zu tun haben. Aber Ihnen wollen wir gern gefällig sein. Wir möchten Ihnen so gern helfen. Ihre Frau ist schwer krank? Operation? Krebs? Fehlgeburt? Ja, das Leben! Das Leben!« Chiffon schüttelte verzweifelt den Kopf.

»Wieviel?« fragte brutal der jüngere, einen Brief herausziehend und die Schmuckstücke alle miteinander in das Kuvert verpackend, während er das Innenblatt zerriß. Jetzt schnalzte er mit der Zunge, wie um ein lahmes Pferd anzutreiben, und sah Chiffon frech an.

»Fünfzehntausend!« sagte Chiffon leise. »Auf zwanzigtausend sind sie geschätzt – amtlich! Reell!« Der Hehler klebte das Kuvert zu und gab es Chiffon zurück. »Aber, Kindchen!« sagte er.

»Also zwölf!«

»Im Gegenteil!« sagte der andere und erhob sich, um fortzugehen.

»Was soll ich tun«, sagte verlegen der andere Hehler, » ich möchte ja so gern, aber mein Schwiegersohn hat das Geld, Ihre Sachen sind gut, wenn auch altmodisch, wir brauchen leider anderes.« (Jetzt folgte noch einmal die Aufzählung der Sachen, für die sich der Hehler interessierte.) Chiffon hörte gar nicht mehr zu. Er hielt krampfhaft das Kuvert mit den Schmucksachen in der Hand und starrte in die Zeitung (eine tschechische), ohne auch nur ein Wort zu verstehen. Wer war jetzt der Schlaue? Bei welchem Partner war jetzt Gott? Bei ihm oder bei den zwei Hehlern hier? Plötzlich schrak er auf, der junge Hehler war vorbeigekommen und hatte ihm das Kuvert aus der Hand genommen, dabei grinste er, ein Gebiß aus schierem Gold entblößend. Er klopfte dem vor Schreck atemlosen Chiffon auf die Schulter. »Stimmt es aber auch, daß Sie noch größere Sachen haben? Können wir uns überzeugen? Und billig?«

Chiffon nickte, obwohl er ahnte, daß er sich damit in die Fänge dieses skrupellosen Menschen begab – früher hatte er nie so undurchsichtige Geschäfte gemacht. »Dann also gut. Zweitausend.«

Chiffon war aufgesprungen, er zitterte am ganzen Körper.

»Kein Aufsehen!« sagte der junge Mann, den Mund schließend und den Vorhang über dem Golde fallen lassend. »Reden Sie weiter nichts. Also gut, weil Sie es sind, zweiundeinhalb.« Chiffon nickte ganz gelähmt.

»Nichts zu danken«, sagte der Hehler so gleichmütig, daß man nicht wußte, ob es Ernst war oder Hohn. Genauso hatte er, Chiffon, oft seine Kunden in der »Hera« abgefertigt, die guten Kinder. Er streckte jetzt die Hand nach dem Gelde aus.

»Nicht hier. Im Park, ganz nahe von hier.«

Chiffon zahlte den Kaffee, den er nicht berührt hatte, und kam mit den beiden Herren mit, die nichts gezahlt hatten. Auf dem Wege zum Park (wozu diese neue Verzögerung?), sagte der junge Geschäftsmann: »Eigentlich möchte ich Ihnen einen besseren Vorschlag machen.«

»Ja, tun Sie das! Tun Sie das!« sagte Chiffon aufgeregt.

»Warten Sie nur! Warten Sie einen Augenblick. Nur Geduld! Sehen Sie das Steinchen hier? Sie sind ja Kenner. Was ist das wert? Unter Brüdern?«

»Dreitausend vielleicht. Dreieinhalb.«

»Und sehen Sie, ich biete es Ihnen an gegen die paar schäbigen Stücke, die Sie verkaufen wollen. Greifen Sie zu. Greifen Sie zu.«

»Ich brauche bares Geld.«

»Ach, das brauchen wir alle.«

Chiffon winkte einem Autotaxi, er konnte die Folter nicht länger ertragen. Der ältere Hehler hielt ihn zurück, stieß seinen Schwiegersohn in die Seite und zischelte ihm etwas zu. Der jüngere schüttelte den Kopf. »Also dann ich, du Lausejunge!« sagte der ältere. Mürrisch besann sich der jüngere, wog noch einmal die Schmuckstücke in der Hand.

»Die Fassungen allein bringen es ja ein«, sagte der ältere, unbekümmert, ob Chiffon es hörte.

»Na, dann meinetwegen!« brummte der jüngere. »Ich hätte es nicht getan.«

Chiffon erhielt das Geld ausgezahlt, obwohl der jüngere noch Abzüge hatte machen wollen. Welch eine Hyäne! dachte Chiffon in seinem Auto auf dem Weg zu Vera. Wie können denn Menschen so erbärmlich an Menschen handeln? Verschiedene Erinnerungen kamen ihm in den Sinn, aber er hatte im Laufe seines Lebens gelernt, seine Erinnerungen zu beherrschen und sich nicht im ungelegenen Augenblick mit Selbstvorwürfen und dergleichen zu belasten.

Im Sanatorium hatte die Hausdame schon ängstlich auf ihn gewartet. Chiffon hatte aber auf dem Wege das Auto warten lassen, hatte zwei Bonbonnieren gekauft, eine für die Hausdame, eine für Vera, die ihn, nachdem er den geschäftlichen Teil erledigt hatte, jetzt mit doppelter Zärtlichkeit, aber die Wangen vom Fieber etwas gerötet, empfing. Er mußte dann mit ihr zu Mittag essen und verfiel auf der Chaiselongue während ihres Geplauders in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung, aus dem ihn ein energisches Pochen erweckte.

Es traten zwei Männer unbestimmten Alters ein, die Chiffon an ihrer betonten Unauffälligkeit sofort als Kriminalbeamte in Zivil erkannte. Er trat ihnen scheinbar ganz ruhig entgegen, nachdem er Vera im Vorbeigehen zugeflüstert hatte: »Sprich nicht!«

»Meine Herren, Sie wünschen?« Die Beamten waren durch sein sicheres Auftreten etwas aus der Fassung gebracht. »Nur eine Auskunft.«

»Bitte sehr, wollen Sie nicht Platz nehmen? Eine Zigarette?« Er hatte eine halbgeleerte Schachtel von Veras Nachtkästchen genommen.

»Nein, danke, wir rauchen nicht im Dienst«, sagte der eine der Beamten formell.

»Es stört Sie aber doch nicht?« fragte Chiffon und steckte sich eine Zigarette an. »Also?«

»Wünschen Sie unsere Legitimation zu sehen?«

»Danke. Ich bin zu jeder Auskunft bereit.«

»Wollen wir nicht auf den Korridor hinausgehen? Wir stören vielleicht die kranke Dame.«

»Meine Frau? Nein. Ich habe vor meiner Frau keine Geheimnisse.«

»Stimmt das, gnädige Frau?«

Vera nickte stumm und lächelte, ihre schönen, bläulich-weißen Zähne entblößend. Sie beherrschte sich mit aller Kraft. Ihr Fieber war gestiegen, aber es schien ihr mehr Fassung gegeben zu haben, als sie bisher in ihrem ganzen Leben besessen hatte.

»Nun, zur Sache, bitte«, sagte Chiffon seelenruhig, während er sich niedersetzte und die Beamten stehen ließ.

»Ja, so leid es uns tut. Wir müssen einige indiskrete Fragen an Sie richten!«

»Bitte, bitte, ich warte nur darauf«, sagte Chiffon und blies ihnen den Rauch ins Gesicht. Er hatte sie sofort als »Kinder«, als durch seine guten Methoden beeinflußbare Menschen durchschaut, und er konnte sich auch ungefähr denken, weshalb sie kamen. Etwas Ernstliches war es nicht.

»Nun, wir haben sichere Angaben darüber erhalten, daß Sie mit einer jungen Dame reisen, mit der Sie natürlich nicht verheiratet sind, daß Sie sie mit Gewalt, es heißt mit Stockhieben und Ohrfeigen zwingen, Ihnen zu Willen zu sein, weite Reisen mit Ihnen zu machen, nach Argentinien z. B., nicht wahr? Ferner, daß Sie unrichtige Angaben im Gästebuch des Hotels in K. gemacht haben, und vor allem, daß Sie, um die Angestellten von der Anzeige abzuhalten, sie bestochen haben.« Chiffon lächelte und zeigte seine langen gelben Zähne.

»Ist das alles? Argentinien? Südamerika? Südamerika? Sie halten mich also für einen Mädchenhändler?«

Die Beamten lächelten, waren aber verlegen. »Wir müssen uns an die Angaben halten. Sie kommen aus bester Quelle.«

»Welche Papiere wollen Sie also?«

»Sollte denn alles bloßes Gerede sein? Aber das junge Mädchen, das Sie mit sich herumschleppen, soll aus Verzweiflung einen Selbstmordversuch gemacht haben.«

»Junges Mädchen? Jung, ja. Mädchen, eigentlich nein. Fragen Sie doch meine Frau, ob ich sie mit Gewalt und Stockhieben behandelt habe?«

Vera schüttelte den Kopf, so daß die roten Löckchen flogen. Die Beamten tuschelten miteinander.

»Können Sie nicht lauter sprechen?« fragte Chiffon frech. Die Beamten verstummten. Der eine zuckte ärgerlich die Achseln, der andere bestand auf seiner Meinung.

»Papiere? Das ist ja alles Unsinn!« sagte der erste nachdenklich, seinen Ring betrachtend, einen billigen Topas, den er am Mittelfinger trug, und ihn so drehend, daß möglichst viel Licht darauf fiel. »Ich glaube, wir haben uns geirrt. Die Papiere haben wir ja unten in der Kanzlei, im Büro des Sanatoriums, eingesehen.«

»Den Trauschein habe ich hier«, sagte Chiffon, »überzeugen Sie sich selbst. Ich kenne mein gutes Frauchen seit acht Jahren. – Ehekrüppel!« fügte er hinzu – der Ausdruck, den der Hoteldirektor gestern angewandt hatte, war ihm ins Gedächtnis gekommen. »Ich handle mit Mädchen nicht. Das wäre mir viel zu gefährlich«, sagte er ironisch. Der eine Beamte schickte sich an, zu gehen, aber der andere, der mit dem dünnen Ring und dem dicken gelben Stein, wollte jetzt nicht loslassen. »Weshalb haben Sie dann den Chauffeur bestochen? Kennen Sie das? Kennen Sie es?« Und er zeigte die alte silberne Uhr.

»Bestochen? Ob ich das kekekekenne«, stotterte Chiffon los, im tiefsten Herzen durch den Undank des Chauffeurs getroffen, »sagen Sie selbst! Ich wollte mich dem armen Teufel dankbar erweisen. Ich hörte mir sein Jammern an. Er sagte, er sei arbeitslos. Arbeitslos?! Ich, ich bin arbeitslos! Ich hatte Mitleid mit ihm, ich hatte kein Kleingeld, da habe ich mich hinreißen lassen, ihm meine Uhr, ein altes Andenken, zu schenken.« Vera hatte sich aufgesetzt und starrte ihn entsetzt an. Aber sie gehorchte ihm und schwieg.

»Wollen Sie also die Uhr wieder zurück?«

»Gewiß, natürlich! Ich in meiner Herzensgüte, lasse mich fortreißen, und dafür denunziert man mich.«

»Beruhigen Sie sich! Sie sehen, es hat sich bereits alles aufgeklärt.«

»Wie komme ich dazu! Ich dachte, ich bin hier in einem zivilisierten Land?«

»Na, schon gut, ich sage, schon gut. Die Uhr holen Sie sich beim Polizeipräsidium ab, wann Sie wollen. Sie erhalten sie gegen Quittung zurück.«

»Zu gütig, zu freundlich!« höhnte Chiffon.

»Sagen Sie einmal, Herr, wie heißen Sie denn? Manuel oder anders?«

»Manfred! Meine Eltern haben mir diesen romantischen Namen gegeben. Hier steht er in der Geburtsurkunde.«

»Diese Trottel in K. haben uns alles falsch durchgegeben. Es ist schon gut. Verzeihen Sie die Störung. Was für ein Landsmann sind übrigens der Herr?«

»Muß ich darauf antworten?«

»Nur wenn Sie wollen.«

»Ach was«, sagte Chiffon, »Franzose, Deutscher, Emigrant! Sie halten mich nur auf.«

»Na, dann werden wir also wieder gehen.«

Kaum hatten sie sich, auf den Zehenspitzen gehend, um die scheinbar wieder eingeschlafene Vera nicht zu wecken, entfernt, als Vera sich hastig wieder im Bette aufsetzte und, mit den Fingerchen nervös über die mit Flaumpelz eingefaßten Ärmel ihres Nachtjäckchens streichend, ihrem Mann ins Ohr flüsterte: »Schnell, komm näher, ich hab' dir was Wichtiges zu sagen.«

»Ach, beruhige dich nur, du Liebes, was können die mir antun? Ich hätte gar nicht zu antworten brauchen. Aber Kinder! Kinder, warum soll man ihnen den Willen nicht tun? Die einen wollen Kokain, die anderen wollen Kanonen, man soll ihnen immer den Willen tun. Aber dich hätten sie nicht aufregen sollen, deine Bäckchen sind knallrot, als ob dich einer geschlagen hätte ...«

»Still, still«, flüsterte sie, »komm, setze dich ordentlich fest auf mein Bett, wir müssen sprechen ...«

»Neieieinein, nicht sprechen, du sollst nicht, du bist erkältet, hast Fieber, du mußt Ruhe haben, ich lasse die Vorhänge herab, du mußt schlafen, du siehst elend aus! Liebstes! Süßestes!«

Sie wehrte ihn ab. »Dazu ist keine Zeit. Du mußt abhauen. Heute noch. Sofort!«

Er schüttelte erstaunt den Kopf. »Dich allein lassen? Jetzt, wo du Fieber hast? Jetzt, wo wir uns so gut verstehen? Ich denke nicht daran. Ich bleibe, wir bleiben beide hier. Sie kochen hier trefflich und sind so voller Güte. Der Arzt hier will meinen Magen gesund machen. Es soll drei Wochen dauern. Drei Wochen bleiben wir in einem Zimmer zusammen, und, wenn wir das Haus verlassen, sind wir beide gesund.«

»Das ist alles Unsinn. Jetzt schweig! Sprich du kein Wort! Ich habe vorhin auch mucksmäuschenstill geschwiegen. Hast du Geld?«

»Nicht viel.«

»Wieviel?«

»Was mir geblieben ist.«

»Wovon geblieben?«

»Ach, das ist meine Sache, du sollst dich nicht darum bekümmern.«

»Du verstehst mich noch immer nicht. Du scheinst mir mächtig angebrannt. Das mit der Uhr war kindisch. Da müssen sie doch aufmerksam werden! Schweig! Sie schnappen dich. Ich habe das feste Gefühl. Hast du denn noch die schrecklichen Pfänder alle?«

»Ja. Natürlich.«

»Hast du sie wirklich? Nicht lügen, Manfred!«

»Also gut. Ich habe ein paar losgeschlagen.«

»Oh, das hättest du nicht tun sollen. Ich muß dir nämlich noch etwas beichten. Du sprachst unlängst von einem guten Seidenbatisttaschentuch? Erinnerst du dich?«

»Ja! Nein, weiter, weiter!«

»Ich weiß, wo es ist.«

»Gott sei Dank!«

»Nicht Gott sei Dank. Es ist beim Gericht, in B.«

»Um Himmels willen, wiewiewie denn das?« krächzte Chiffon, leichenblaß geworden.

»Ich habe es Rudolf in die Paletottasche gesteckt, weil du ihm das seine in den Dreck getreten hattest ... Ist es etwas Wichtiges? Hat es eine Bedeutung?«

Er senkte den Kopf.

»Warum sprichst du nichts? Sehr wichtig? Schlage mich doch! Jetzt habe ich es verdient! Jetzt habe ich dich den Grünen geliefert, wie Rudolf auch!« Er schüttelte den Kopf.

»Was tun wir jetzt?« flüsterte er ihr ins Ohr.

»Nimm hier meinen Schmuck. Die Kette, die Armbanduhr, die Ringe, den Ehering auch. Ich bleibe dir doch auch ohne treu, und wenn ich Jahre auf dich warten müßte. Ich verrate dich nicht mehr.«

»Wo denkst du hin? Ich habe dir doch gesagt, mir können sie nichts anhaben. Es reicht nicht einmal zum Steckbrief.«

»Nein, nein, ich habe das Gefühl, daß du in sehr großer Gefahr bist. Wie spät ist es jetzt? In einer Viertelstunde mußt du fort sein. Warum hast du mit den Beamten so aufgetrumpft?«

»Es hat den Kindern doch imponiert.«

»Das glaubst du so. Mir schien es nicht so. Reise sofort, gib mir Nachricht durch meine Mutter.«

»Ich reise nicht. Ohne dich keinen Schritt. Und du bist nicht transportfähig.«

»Du mußt ja. Du mußt, wenn du mich ein wenig liebst. Ich bin dir ja so gut. Du tust mir ja so leid. Alles war meinetwegen, ich weiß es genau. Was werden sie nur mit dir beginnen, dort?«

»Wo – dort?« fragte er und steckte, ohne daß sie es bemerkte, den Rest des Geldes unter ihr Kopfkissen. Sie sollte keinesfalls am Anfang Sorgen haben.

»Im Gefängnis! Rudolf ist stark und groß, dem schadet nichts, der ist jahrelang auf der Walze gewesen, aber du, mit deinem zarten Magen! Grauchen! Grauch-chen! Verzeihst du mir auch?«

»Ach, Vera, Vera, weine nicht, beherrsche dich!«

»Ich kann ja nicht! Doch ich muß! Wie wirst du nur leben, Graulein, wenn sie dich doch fangen? Im Gefängnis! Du verhungerst mir dort, ja, du verhungerst ja dort!«

»Ach, ich!« sagte er und versuchte ein siegesgewisses Lächeln. »Ich und verhungern! Ich werde dort Koch, Gefängniskoch, und füttere alle durch, Steffie und Rudolf...«

»Steffie ist also auch in dem Gewimmel? Schnell, sag, was ist gewesen? Ich will es jetzt wissen, unbedingt. Du hast es mir oft sagen wollen, aber ich habe mir die Ohren zugestopft, ich wollte nicht, daß du mir die Liebe zu dir so schwer machst. Sag alles!«

»Alles?«

»Ja, ganz alles! Alles bis ins letzte. Habt ihr Rosenfinger ermordet?«

»Ich nicht.«

»Schwörst du es?«

»Bei allem.«

»Das ist gut! Das ist wunderbar gut, süßer Mann, süßestes Grauchen, Rauchen, Chenlein du«, und sie preßte in ihrer fieberhaften Zärtlichkeit seine kalten Hände gegen ihre schönen kleinen Brüste, »darüber bin ich ja so froh. So himmlisch froh. Aber gewußt hast du es?« Er nickte. »Warst du dabei?« Er nickte nicht mehr, widersprach aber auch nicht.

»Ich habe ihm kein Haar gekrümmt. Ich habe auch nicht einen Pfennig von den Geldern berührt.«

»Aber warum? Warum hast du es getan?«

»Ich habe nichts getan! Ich bin nur Gott nicht in den Arm gefallen!«

»Ich habe aber so Sorge um dich!«

»Sollte ich mich von dir trennen müssen, auf einige Zeit, paß mal ganz genau auf, Vera, so kannst du ruhig das Geld aus dem Depot verwenden. Es stammt nicht aus der Platanenallee. Es ist alles auf deinen Namen geschrieben. Hast du verstanden?«

»Ja, ich habe verstanden. Aber ich brauche nichts. Ich spare die Zinsen. Ich werde zu meiner Mutter zurückgehen.«

»Erst wenn du fieberfrei bist und ganz gesund.«

»Ja, erst dann. Ich werde bei ihr bleiben. Sie soll nicht noch mal heiraten, das meinst du doch auch?«

»Ja, und noch etwas, sage auf keinen Fall aus. Du bist, als meine Frau ... Du kannst darauf bestehen... Nimm einen guten Anwalt, spare nicht. Sprich nichts. Du hast das Recht der Aussageverweigerung. Auch über die Sache mit dem Kiosk schweige.«

»Was denkst du, wie furchtbar mir das ist! Du hast ihn also gehetzt, den Dummen. So etwas Niederträchtiges wie dich gibt es nicht wieder, süßes Mandily! Also da bist du auch darin verwickelt! Und ich Unglückswurm liebe dich jetzt! Ich kann es nicht rückgängig machen. Sei nicht so kalt, gib mir einen Kuß! Ich gebe dir wieder! Ach, sie kommen nicht! Und wenn sie kommen, klopfen sie zuerst. Noch fester drück mich! Als ich da in dem Hotel am Wasser schlief, hast du mich da nicht geschlagen? Ich habe so süß davon geträumt. Aber ich schlug dich zurück, das war noch süßer, im Grunde schlugen wir uns gar nicht, wir spielten wie Kinder.«

»Ich muß fort!«

»Ach, noch eine Minute, bleib. Leihe mir meine kleine Uhr, ich will die Zeiger sehen! Eine Minute nur noch! Sechzig Sekunden, haargenau! Jetzt sollte es mich gruseln, aber mich böses, herzloses, albernes Geschöpf gruselt nicht. Wie kann man denn einen solchen Menschen lieben? Bleib mir treu! Wir sehen uns vielleicht lange nicht. Aber ich komme dir nach! Die Schmucksachen sind doch alle echt? Da kannst du jahrelang davon leben. Iß nichts Heißes, und alle paar Stunden nagst du mir zuliebe an einem Bissen Brot. Das hat bis jetzt am besten gegen deine Schmerzen geholfen. Dem Polizisten damals am Kiosk habe ich doch auch geholfen. Hier, nimm das hier mit, es ist guter Toast und böhmischer Zwieback und dänisches Knäckebrot, für die Reise, am besten, du reist die Nacht heute gleich in einem durch! Aber ohne Papiere? Den Paß hast du ja unten gelassen. Wie wirst du dir helfen? Nimm du unseren Paß, ich brauche nichts, ich bin hübsch, mir helfen alle. Aus diesem Lande mußt du fort. Und noch einen Kuß. Die Zeit ist vorbei, aber ich kann nicht ... Wie war das mit dem Mord? Ganz aus der Nähe zugesehen hast du? Und wer hat ihn erschossen? Rudolf doch nicht? Also Steffie ... Du lächelst? Liebes du, worüber lächelst du?«

»Mir ist eben etwas eingefallen ...«

»Sag schnell und dann geh, ich glaube, ich höre Menschen kommen, was ist dir denn eben eingefallen? Bei Rosenfinger ...?«

»Da hat Steffie den militärischen Teil übernommen und ich nur den finanziellen. Er hat das Blut vergossen, und ich habe nur den Staub von der Schreibtischplatte gewischt, damit keine Fingerabdrücke bleiben. ›Na, hab' ich gekleckst?‹ sagte er nachher. Ich wollte lachen, aber eiskalt war mir doch. Und schnell mußten wir arbeiten ...«

»Wie ulkig! Furchtbar traurig, nicht wahr? Noch einen letzten kleinen Kuß, und gehe! Schlag mir auf die Hände, wenn ich dich nicht loslassen will, ohne Mitleid, tu's! Und noch etwas!«

»Was denn, Liebes?« sagte er unter Tränen, schon an der Tür.

»Verzeih ihm, verzeih Rudolf! Tu nie etwas gegen ihn. Mir zuliebe. Und noch ein ganz winzig Küßchen, gelt?«

»Leb wohl, gute, alte Vera! Hoffentlich sehen wir uns bald wieder!«

»Noch nicht gehen! Jetzt hat es zu regnen angefangen, und dein schöner leichter guter Paletot!! Ich habe ihn dem Verrückten, dem Rudolf gegeben. Hör zu, einen kleinen winzigen Augenblick noch möcht' ich dich so halten, und versprich mir, du paßt gut auf dich auf, und dann, wenn du doch Rudolf sehen solltest, tut euch nichts an, alle sollen allen verzeihen, warum reißt du dich denn los? Das ist ja niemand, bloß die Schwestern, die kommen aus dem Operationssaal, die haben solch schweren Gang. Ach, geh schnell, wie ist denn das alles so gräßlich! Huch, ach ... nein, nicht doch, nicht ...«

Ohne anzuklopfen, waren die zwei Beamten von vorhin wieder eingetreten, und hinter ihnen erschienen die zwei Hehler, der ältere sehr bedrückt und das Taschentuch vor die Augen haltend, der jüngere frech mit seinen goldenen Zähnen grinsend. Sie hatten die zwei Beamten in der Halle des Sanatoriums getroffen – und alle kannten einander nur zu gut. »Ja, sehen Sie mal!« begann der jüngere Kriminalbeamte, der die Demütigung von vorhin nicht verziehen hatte. »Das haben Sie nicht gedacht, daß wir so bald wiederkommen würden? Ja, wir sind in einem zivilisierten Land, in einem Rechtsstaate. Im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet. Haben Sie Waffen bei sich?«

»Waffen? Ein Zahnstocher, ein Taschenmesser, das ist alles!« sagte Chiffon. Er hoffte, sich auch diesmal aus der Schlinge zu ziehen.

»Werden wir gleich haben, werden wir sofort sehen.« Er durchsuchte die Taschen Manfreds und förderte schmunzelnd die vielen kostbaren Schmucksachen Veras zutage. »Dahaben wir die großen Stücke! Da sind sie ja. Herrlich! Ihr habt wenigstens richtige Angaben gemacht«, sagte er zu den beiden Hehlern, »ich will Gnade für Recht ergehen lassen. Das letztemal! Aber der Herr kommt mit! Aber daß Sie beide nie mehr unbefugterweise Wertsachen von Unbekannten erwerben! Das nächstemal gibt es keine Gnade, es gibt drei Jahre Gefängnis, ohne Bewährungsfrist, denn Sie sind beide reichlich vorbestraft.« Der jüngere Hehler lächelte, noch ein letztesmal seine goldenen Zähne entblößend. »Und Sie, Herr Manfred, sind Sie vorbestraft?« fragte er Chiffon. Chiffon zuckte die Achseln, war aber leichenblaß. »Werden wir alles sehen. Kommen Sie unauffällig mit uns! Nehmen Sie das Notwendigste mit!«

»Wozu? Abends bin ich zurück. Die Schmucksachen sind Privateigentum meiner Frau. Bitte, Vera, überlaß das mir! Abends hast du deine Sachen alle wieder. Und Sie haben sich ein zweitesmal blamiert.«

»Haben Sie Geld für ein Autotaxi?«

Chiffon schüttelte den Kopf.

»Kein Geld für ein Taxi und Schmucksachen für eine halbe Million! Nein! Diesmal sind wir sicher! Los! Dann geht's zu Fuß durch die Straßen.«

Der Anstaltsarzt war eingetreten. Chiffon wandte sich zu ihm.

»Ich vertraue Ihnen meine Frau an. Ich muß fort. Dank für die Gastfreundschaft heut nacht! Sorgen Sie für meine Frau! Alles ist ein Mißverständnis. Wird sich heueheueheute noch auauauau –«

»Na, werden Sie heute noch mit Ihrer Stotterei fertig? Los! Und kein Getuschle mehr. Die Dame bleibt hier? Wir werden sie zu verhören haben ...«

Der Arzt sagte: »Heute ist jedes Verhör unmöglich. Die Dame fiebert hoch. Wir bürgen dafür, daß sie zu Ihrer Verfügung bleibt.«

»Danke! Die Störung war uns peinlich, gerade im Sanatorium! Gegen die Dame liegt eigentlich nichts vor. Was ist Ihr persönliches Gepäck? Der große Koffer? Dieser kleine auch?«

»Alles gehört meiner Frau!«

»So, dann wird alles versiegelt. In einer Stunde wird es durch eine Kommission untersucht. Wir werden Sie persönlich, gnädige Frau, nicht weiter behelligen. Wir nehmen auch sicherlich Rücksicht auf Ihre Krankheit. Sie sind eben einem Schuft in die Hände gefallen.«

Sie legten die Siegel an. Die Hehler hatten sich entfernt. Vera und Chiffon schwiegen. Endlich waren die Koffer versiegelt, Chiffon mußte gehen.

»Folge dem Arzt in allem, schone dich! Weine nicht. Rege dich nicht auf. Keinesfalls bleibe länger hier, als du mußt. Abends aber bin ich wieder bei dir, davon bin ich fest überzeugt.« Vera antwortete nicht.

Sie sah ihren Mann an, so lange und so innig sie konnte, und er ging rücklings hinaus, um seine Frau so lange wie möglich sehen zu können. Sie hatte ihn hier festgehalten, an ihr hatte er sich festgebissen wie der Hund, den er mit Rudolf verglichen hatte und der sich so lange an einem Stöckchen festbeißt, bis man ihn daran hochgehoben und unschädlich gemacht hat. War er jetzt unschädlich? Waren die »Kinder« endlich seiner Herr geworden? War seine Schuld auch Dummheit gewesen? Alles darf man tun, dachte er, über die roten Linoleumläufer der Treppe auf leisen Sohlen hinabtrippelnd, alles darf man anstellen in dieser Welt der Kinder – nur lieben soll man lieber nicht. Aber er hatte wenigstens durchgesetzt, was er gewollt hatte, und Vera blieb ihm treu, es mochte kommen, was wolle. Um Eltern, Verwandte, Freunde hatte er sich nicht zu kümmern. Vera war seine Welt. Vera war sein. Wenn nur der Vorhang über Rosenfinger niedergelassen geblieben war, konnte er heute abend wieder zu seiner Frau zurück. Guter alter Rosenfinger? Er lächelte, voller Hohn und Verzweiflung über sich selbst und über die grotesken Unbegreiflichkeiten des Lebens, als er sich der letzten Minuten Rosenfingers vor bald drei Jahren erinnerte. »Ich leide so unter der Todesangst«, hatte der Alte wie schon oft vor seinem schönen Ranaissanceschreibtisch zu ihm und zu Kamerad Steffie gesagt, »mein ganzes Vermögen gäb ich drum, wenn man mich von der Todesangst befreien könnte!« Eine halbe Minute später war er von der Todesangst befreit gewesen. Steffie hatte ein gutes Werk getan. Und deshalb wollte ihm die dumme, rührselige Welt der scheinheiligen Kinder an den Kragen? Komischerweise weinte er jetzt, aber er weinte nur um seine geliebte Vera, die er im hohen Fieber schutzlos hatte zurücklassen müssen! Jetzt endlich liebte sie ihn, jetzt war sie sein, und er wurde ihr durch »die unfaßbare Hand des Schicksals«, wie es die Kinder nannten, entrissen. Würde er sich freilügen können? Er fand, das Schicksal gebrauchte seine Mittel, seine eigenen Methoden, ihn zu strafen, und zu allem anderen bohrte jetzt die alte ungeheilte Wunde in seinem Magen. Er knirschte mit den Zähnen vor Wut, daß er wie ein Rudolf und vielleicht zu diesem Rudolf forttransportiert wurde. Aber die Ruhe verließ ihn nicht. Er knabberte sich eins, nahm Stück für Stück von den Zwiebäcken Veras aus der Tasche. Der Schmerz ließ nach, die Hoffnung erwachte wieder. Jetzt tauchte das große graue altmodische Gebäude der Polizeidirektion vor ihm auf. Hoffentlich konnte er es trotz allem und all den Kindern zum Trotz nach kurzem Verhör verlassen. Sein »Gelübde« fiel ihm ein, und noch ein dürres Lächeln irrte um seine fahlen Lippen. Aber er verließ das Gefängnis nicht.


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