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X.

Der Grund für Manfreds etwas menschlichere Haltung gegenüber den »Kindern« mochte darin gelegen haben, daß er in letzter Zeit mit Vera wieder guten Frieden geschlossen hatte. Sonderbarerweise erfolgte dieser Friedensschluß kurz nach dem Besuche Konrads bei dem »kranken« Manfred, bei dem auch nicht ein einziges Wort über Rudolf von der im Nebenzimmer an der Tür lauschenden Vera zu ergattern gewesen war. Vielleicht hatte sie bis dahin doch erwartet, daß der Bruder sich über Rudolf aussprechen würde, sie wollte ja so gern möglichst lange die Illusion haben, daß er, Rudolf, dem gegenüber sie immer ein schweres, süßes Schuldgefühl hatte – (von dem ersten Abend angefangen, war es der tiefste Reiz ihrer Liebe gewesen) –, noch einmal zurückkommen würde, vielleicht um sie wegen ihrer Treulosigkeit zu strafen oder vielleicht um sie mit sich zu nehmen und eine neue Existenz mit ihr zu beginnen.

Nun aber schien es, daß Chiffon ihr klargemacht hatte, daß diese Illusion trügerisch sei. Ganz klar vermochte niemand diese Verhältnisse zu durchschauen. Chiffon, der »Vertraute«, hatte keine vertraute Seele außer Vera, und Vera sprach mit jedem über alles, sie plauderte gerne, oft sich komischer Sprachverstümmlungen bedienend, die sie im Lyzeum als »Lyzeumspanisch« geübt hatte, aber über Chiffon und Rudolf sprach sie nie.

Jedenfalls sah man die beiden jetzt an einigen Sonntagvormittagen nacheinander auf der »großen Promenade« der Stadt Arm in Arm spazierengehen, kurz darauf ließen sie sich aufbieten und heirateten. Einige Zeit hindurch zeigte Manfred sich besonders zufrieden. Er grinste nicht mehr mit seinen langen gelben Zähnen in falscher Freundlichkeit, er ließ das Stottern sein, er zeigte nicht mehr das künstliche Mitleid mit den »Kindern«, und man hörte keine süßen Redensarten mehr von ihm. Er kochte jetzt für die andern nicht mehr mit der alten Liebe. Er bekam ein anderes, ernsteres Gesicht, das dem ähnelte, das er in seiner Jugend, im deutschen Elsaß, gehabt hatte. In dieser Zeit verließ er, was man bisher nicht bei ihm bemerkt hatte, auch während der »Geschäftsstunden« sein Unternehmen, früh am Abend schon, um seine bezaubernde junge Frau in großer Toilette ins Theater zu begleiten. An den Sonntagen fuhr er schon frühmorgens in einem alten, aber sehr bequemen zweispännigen Jagdwagen mit ihr, die meist im Glanze ihres herrlichen Schmuckes prangte, in die »Gottesnatur«, in die Umgebung, wo sich zwischen großen, rußigen Fabrikorten noch Reste alter schöner Wälder befanden.

Aber der Frieden war nicht von langer Dauer. Das Glück schien nur zu bald brüchig zu werden. Das kleine Schlafzimmer des Paares ging auf einen Hof hinaus, und bald beschwerten sich die Nachbarn, daß sie oft spät in der Nacht durch gellende Hilferufe aus dem Schlaf geweckt würden. Wenn sie aber, notdürftig angekleidet, die Treppen hinunterrannten und an Manfreds Türe klopften, wurde ihnen nicht geöffnet. Sowohl der Mann als auch die Frau verhielten sich dann totenstill.

Es lebten außer dem Ehepaar von G. jetzt noch drei kinderreiche Familien zusammengedrängt in dem kleinen Hause. Bei zweien von ihnen waren noch andere, halbwüchsige Kinder aus dem ehemals besetzten Gebiet zu Besuch, Jungen und Mädels, die von den in der früheren Heimat erlebten Schrecknissen so heruntergekommen waren, daß sie sich, wenn sie immer wieder nachts durch die Streitereien des Ehepaares aus dem Schlaf aufgeschreckt wurden, nicht mehr beruhigen ließen und ihrerseits in endlose Wein- und Schreikrämpfe verfielen. Oft brachen sie in den Stunden, wo es meist unten bei Manfred losgegangen war, von selbst in ihr Schreikonzert aus. Das ganze Haus, welchem der bis zwei Uhr, an den Sonnabenden und Sonntagen bis drei Uhr morgens dauernde Spielbetrieb ohnehin ein Greuel war, wurde jetzt derart in Aufruhr gebracht, daß die Mieter in einer Mieterratsversammlung in Abwesenheit Manfreds und Veras auf Exmittierung des Klubbesitzers bestanden, wenn nicht von jetzt an absolute Ruhe zu nachtschlafender Zeit gehalten würde. Jedenfalls ging dem Polizeipräsidium eine Klage wegen nächtlicher Ruhestörung und unerlaubten Geschäftsbetriebes zu.

Die Polizei lud an einem Sommervormittag des Jahres 1926 das Ehepaar vor. Manfred von G. hörte sich alles schweigend an, er stand ruhig da, als betreffe die ärgerliche Sache alle, nur nicht ihn. Geleckt und zugleich krankhaft fahl, mit seinem alten, faltenreichen, in die Länge gezogenen Gesicht, hielt er seine wie ein Fischbauch glatten und bis auf die Tabaksfinger kreidigen Hände versteckt in den Taschen eines eleganten, silbergrauen Lüsterjacketts, das beinahe dieselbe Farbe hatte wie seine in der Mitte gescheitelten, nach Chyprepomade riechenden, fest aneinanderklebenden Haare; in der Brusttasche hatte er ein spitzenbesetztes Tüchlein, eine Perle schimmerte matt im schweren, dunkelblauen Schlips – so fixierte Chiffon den unter seinem Blick wider Willen errötenden Kommissar, dem er noch vor ganz kurzer Zeit wichtige Informationen gegeben hatte.

Chiffon bewahrte Haltung, er überließ es als Gentleman seiner Frau, ihn anzuklagen oder zu verteidigen. Aber sie zwinkerte nur mit ihren schönen, grünlich-blauen Augen und steckte mit etwas unsicherer Hand eine hervorlugende gewellte, kleine Flechte ihres rotblonden seidigen Haares unter dem knappen, moorbraunen Hütchen zurecht. Als sie allein war, brachte sie, aufgeregt wie ein Schulmädchen, ihre Blicke abwendend, stammelnd ein paar nichtssagende Worte hervor, aus denen höchstens das eine hervorging, daß sie sich eben vor ihrem Mann »gruselte«, daß er aber sonst »furchtbar nett« sei und sie um nichts bitten lasse, sondern für alles sorge, bevor sie einen Wunsch ausgesprochen habe. Daß sie aber doch, was ihr früher bei ihrer Mutter nie passiert sei, nachts aus dem schönsten tiefsten Schlafe durch ihr eigenes dummes Schreien erwache. Denn sie habe es eben mit der Angst zu tun. Man fragte sie, warum sie denn vor einem so netten Mann Angst habe, den sie doch erst vor kurzem geheiratet habe? Aber sie antwortete darauf nicht. Man fragte sie dann: »Wollen Sie sich von jetzt an zusammennehmen? Sie sehen doch selbst, daß die Leute in ihrem Hause ihre Ruhe haben müssen. Denn die müssen ausgeschlafen sein, wenn sie an die Arbeit gehen.« Sie nickte zu jedem Wort verständnisvoll – und doch mechanisch wie ein Püppchen. Sie zwinkerte noch stärker, mühsam drängte sie die Tränen zurück.

Zufällig betrat jetzt jener Polizist, der in der Schreckensnacht am Kiosk ohne ihre Hilfe verblutet wäre, den Raum. Er war auch jetzt noch nicht erholt, humpelte, ohne im Anfang Vera zu beachten, sich mit den Händen stützend, zwischen den Tischen und den aktengefüllten Regalen umher. Sein neuer Gehverband, sich ungefüge unter einer weiten Hose abzeichnend, knarrte und quietschte. Vera, ganz blaß, starrte ihn an.

Jetzt rollten ihr, ohne daß sie es merkte, Tränen aus den großen Augen. Plötzlich war ihr, als sei es ihr Rudolf, der ihr den Rücken zuwandte, der mit seinen großen Händen in den staubigen Regalen umherfischte, obwohl keine Ähnlichkeit zwischen beiden Männern bestand. Da drehte er sich um, als hätte er ihren Blick gefühlt.

Er hatte außer seinem steifen Knie eine nervöse Störung zurückbehalten, die sich in einem unwillkürlichen Heben der Mundwinkel äußerte. Als er die schöne junge Frau wiedererkannte, leuchteten seine treuherzigen braunen Augen auf. Er drückte Vera voll Dankbarkeit die Hand, seine Mundwinkel zuckten, als wolle er lachen. Er blieb aber ernst, ergriffen, konnte vor verlegenem Hüsteln keine Worte finden.

Manfred war eingetreten. Er antwortete auf die jetzt ernst gemeinten Vorhaltungen des Kommissars, der sich inzwischen gefaßt hatte, in einer fließenden, von jedem Stottern freien Rede. Er meinte ganz überlegen, als wäre er der Auserwählte und der Kluge unter lauter Toren und Kindern, er selbst sei ja am allermeisten an Ruhe und häuslichem Glück interessiert, niemand habe mehr als er unter den nächtlichen Nervenszenen zu leiden, er hoffe, seine arme kleine Frau werde sich bald beruhigen: »Veralein, du Kind, wirst du?« Alles sei auf den Schwerverbrecher Rudolf D. und auf seine niederträchtige, brutale Schießerei beim Kiosk zurückzuführen, von der sie sich bei aller seiner Liebe und Sorgfalt eben doch noch nicht habe erholen können. Er verspreche zu tun, was nur möglich sei. »Alles?« fragte sie. »Alles!« wiederholte er. Sie senkte den Kopf, hatte aber keine Tränen mehr in den Augen. Er wartete noch eine Minute. Aber man blätterte angelegentlich in den Akten. Was sollte man gegen ihn tun? Er verbeugte sich. Die Beamten schienen ihn nicht zu sehen, nur der Mann mit dem Gehverband kam ihnen zuvor, öffnete Vera die Tür.

Arm in Arm gingen Manfred und Vera fort, er flüsterte ihr zärtliche Beruhigungen in ihr Ohr, von dem sie schelmisch ein widerspenstiges rotes Löckchen fortsteckte, als könne sie ihn dann besser hören. Plötzlich aber löste sie ihren Arm von dem seinen und ging in bestimmtem Abstand neben ihm die Straße weiter. Beide hatten begonnen, laut zu sprechen, Vera scheinbar erregter als er. Aber bald hörte man nichts mehr.

Tatsächlich kamen keine Klagen der Anwohner mehr. Manfred ließ seine Frau die Wirtschaft führen, sogar selbst kochen, um sie abzulenken. Die junge Frau hatte bald so viel Spaß daran, daß sie auch dann nicht davon lassen wollte, als sich ihre Talentlosigkeit auf diesem Gebiet ergab.

Wie sie es zustande brachte, mit den gleichen Zutaten, aus denen ihr Mann die wunderbarsten Gerichte bereitet hatte, ein fast ungenießbares Gemengsel zusammenzubrutzeln, war ihr Geheimnis. Weder mit Güte noch mit behutsamem Spott vermochte sie ihr Mann zu erziehen. Sie hörte, glühend rot vor Eifer, in ihrer weißen Schürze am Herde stehend, überhaupt nicht hin, und seine Einwendungen, daß die Gäste ausblieben, wenn es so weitergehe, belächelte sie nur. Mit noch größerem Eifer rührte sie die teuersten Dinge in den Töpfen und Pfannen zusammen, von denen sie nie genug auf ihrer kleinen Kochplatte stehen haben konnte, als ob die Menge der gleichzeitig kochenden Gerichte die Hauptsache wäre. Der Besuch ging tatsächlich binnen kurzem zurück, vielleicht infolge des schlechten Essens, vielleicht aber auch deshalb, weil es jetzt bekannt wurde, daß man bei Chiffon sein Geld besonders leicht loswerde, möglicherweise aber auch, weil man statt mit dummen Chips in der »Hera« jetzt auch wieder mit Rentenmark auf der Börse spielen konnte, wozu viele Bankinstitute, unter anderem auch die Depositenkassen der Großbanken, das Publikum selbst dann animierten, wenn die Beträge jeweils nur klein waren. Die Erlaubnis, den Spielbetrieb weiter zu führen, hatte man Manfred von G. gelassen. Seine Spielmethoden wurden aber auch angesichts des verminderten Besuches nicht entgegenkommender, und seine Haltung Leuten gegenüber, die Pfänder brachten, war eher noch rücksichtsloser als früher.

Gierig raffte er alles zusammen. Es schien, als habe er sich geschworen, nur noch eine bestimmte Summe zusammenzubringen und, sobald sein Saldo (auf den Namen seiner Frau) auf der Provinzbank die richtige Höhe erreicht hatte, mit seiner Frau den Ort zu verlassen. Er hatte, hieß es, viel Geld in Papieren, besonders ausländischen, angelegt. Wohin er sich zu wenden beabsichtigte, wußte man nicht. Seine Vergangenheit war eher etwas dunkel. Er sollte auch bei verschiedenen delikaten Angelegenheiten halb politischer Art eine zweideutige Rolle gespielt haben, ob zugunsten der Deutschen oder des Auslandes, war eben nicht absolut klar.


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