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IX.

Konrad hatte auf dem Nachhausewege seinen Bruder getroffen. Rudolfs dünner Zivilmantel war naß, auf den Schultern hafteten Kiefernnadeln, seine Schuhe waren mit feuchter Erde bedeckt.

»Wo kommst du her, Bruderherz?« fragte Konrad, dem noch das Herz vom Abschied von seiner Flossie schlug.

»Ich? War wohl nur ein wenig spazieren.«

Daheim angekommen, trafen sie die Mutter und die Schwester noch bei Tisch. Konrad konnte kaum etwas hinunterbringen, Rudolf und Hilda hatten Hunger und nahmen von allem, soviel sie bekommen konnten, selbst dem chemischen Pudding Flossies machten sie Ehre. Nach dem Essen gingen die Brüder in Konrads Zimmer.

»Bist du nicht müde? Willst du nicht ausruhen?« fragte Konrad. »Nein, du sollst erst mal hören, was da heute nacht alles passiert ist! Übrigens, ich habe Zigarren in der Manteltasche, bist du so freundlich und bringst sie mir? Du glaubst nicht, was für fabelhafte, und Zigaretten auch.«

Konrad ging und holte aus der Innentasche von Rudolfs Mantel zwei Zigarren und eine flache Schachtel Zigaretten hervor. »Na, willst du? Greif zu!« sagte Rudolf und hielt dem Bruder die Zigarren hin.

»Wo hast du denn so etwas her?« fragte Konrad erstaunt. »Das gibt es ja schon lange nicht mehr, nicht einmal für Gold.«

»Und du glaubst natürlich, ich habe das Zeug für euer Geld gekauft? Ach, im Leben nicht! Das Geld habe ich als Trinkgeld für die Gesellschaft gestern abend gebraucht. Es war keine andere Note da. Absichtlich habe ich gewechselt. 2 mal 10 = 20. Und alles für die Katz! Der Hausherr hatte alle Dienstboten fortgeschickt. Da stand ich nun mit Minnas Geld!«

»Minnas Geld?«

»Mensch, tu doch nicht so erstaunt! Ich weiß doch ganz genau, daß du mir deshalb auf der Straße aufgelauert hast. Aber wir kennen uns, du wirst mir die Hölle nicht zu heiß machen. Ist ja auch zu egal. Was soll ich dir vorlügen, siehst du, das Geld, da ist es, zwanzig Mark! Da liegt der ganze Bettel. Zweimal zehn ist zwanzig. Wenn es sein muß, geh hin und gib es dem alten Drachen in die Lade zurück. Ein Mensch wie ich stiehlt nicht. Minna ist jetzt beim Geschirrwaschen und merkt nichts.«

»So findet sich das Geld wieder?« sagte Konrad betroffen und ging im Zimmer hin und her. »Und ich soll das Geld zurücktragen? Und wenn man mich sieht?«

»Natürlich sollst du! Mich drückt es ja nicht!«

»Also gib schon her«, sagte Konrad, »aber was du genommen hast, sind nicht zwei Zehner gewesen, sondern ein Zwanziger, und das muß doch auffallen, wenn das Geld wieder in der Tischlade liegt, denkst du nicht auch?« fügte er hinzu, da er sich besann, wie er selbst die Schublade ausgeleert hatte beim Suchen nach der Zwanzigmarknote.

Die Mutter klopfte an die Tür. Hilda war nach dem Essen eingeschlafen, sie sollten nicht zu laut sprechen. Konrad erinnerte sich jetzt auch des Schreckensrufes der Schwester, Rudolf habe gestohlen. Sollte er der Mutter berichten, was er wußte?

»Wenn ich nur irgendwo für die zwei Zehner eine Zwanzigmarknote finde und wenn mich nur niemand erwischt! Das hättest du nicht tun sollen. Wir hätten einen anderen Ausweg gefunden.«

»Wenn du es nicht passend hast, gehst du eben einmal hinunter und wechselst in einem Laden«, sagte Rudolf ganz selbstverständlich.

»Ja, gewiß doch! Die Hauptsache ist: das Geld ist da. Und am besten machen wir es so: du rufst jetzt Minna und sagst ihr, daß du gleich wieder fort mußt, und gibst ihr die schmutzigen Schuhe. Und während du sie festhältst, sehe ich zu, wie ich alles wieder in Ordnung bringe. Bitte, tu es nicht wieder! Rudolf, nein, tu es nicht! Noch in seinem letzten Brief schreibt Vater viel von dir. Eigentlich nur von dir. Er ängstigt sich. Das war sein letzter Gedanke. Sieh doch, wir wollen dein Bestes. Wer meint es gut, wenn nicht wir? Du sollst nicht stehlen! Du sollst es nicht nötig haben, verlaß dich auf mich! Du kannst mir alles sagen. Denk, ich sei dein Vater. Von jetzt an. Soweit ich es kann. Wo warst du übrigens? Du mußt viele Stunden auf der Landstraße gewesen sein –«

»Ach, viele Stunden! Was du für Redensarten machst! Konrad, der kluge Hans, das rechnende Pferd! Der Prediger in der Wüste! Der wattierte Konrad! So war Vater nicht. ›Von jetzt an. Soweit ich kann.‹ So nicht!« sagte Rudolf. »Ruf lieber Minna her, ich lege mich inzwischen aufs Sofa, und dann beschäftige ich sie ein paar Minuten! Aber sag mal, wie kriegst du die Lade zu ihrem Tische auf, wenn sie sie abgeschlossen hat?«

»Willst du nicht doch lieber die Sache Mutter erzählen?« fragte Konrad. »Dann sind wir alle Schwierigkeiten los. Mir sind diese Winkelzüge in tiefster Seele zuwider.«

»Mutter? Im Leben nicht! Ich schwöre dir's zu. Mutter hat keine Ahnung von so etwas. Was weiß die von mir? Ja, wenn Vati noch lebte –«

»Nicht doch, nicht doch, Rudolf!«

»Laß mich! Was willst du von mir? Du bläst mir den Zigarrenrauch ins Gesicht, die Augen tränen mir – ist doch alles Quatsch! Und mach jetzt endlich los!«

»Sei doch nur vernünftig, Rudolf!«

»Los, sage ich! Schick das alte Kamel her, das dumme – und sieh mal, du mußt genau herhören! Weißt du, wenn du die Lade vielleicht doch nicht gleich glatt aufbekommst, dann nimm einen krummen Nagel und fang die Zunge mit einem Dreh linksherum im Schlosse auf, das ist nämlich furchtbar einfach. Aber du lernst es doch nicht; am besten, du schiebst den Schein durch einen Spalt hinein. Soll sich Minnachen wundern, da haben eben die braven Heinzelmännchen die zwanzig Mark wieder herbeigeschafft, und die Tugend ist wieder einmal gerettet –«

Minna kam und zog Rudolf, der den Übermüdeten markierte, die Schuhe aus. Dann kratzte sie in der Küche, die Schuhe auf den dürren Knien haltend, mit einem alten Messer den teigartigen Schmutz von dem dünnen Leder, das schon feine Risse zeigte, lieferte dann die blankgeputzten Schuhe zu Füßen Rudolfs ab und merkte nicht, wie Konrad, der das Geld gewechselt hatte, aus ihrer Kammer kam.

Kaum hatte sich Konrad an Rudolfs Seite auf das Sofa gesetzt, als es klingelte. Minna führte zwei junge uniformierte Männer herein. Es waren Leute von der neu formierten Bürgerwehr, die Rudolf zum Beitritt auffordern wollten. Sie stürzten sich auf die angebotenen Zigaretten, besonders der ältere. Mit monotoner Stimme und stereotypen Ausdrücken redend, versprachen sie Rudolf ein selbständiges Kommando.

»Wird wieder strammer Grußzwang eingeführt?« fragte Rudolf.

»Keine Frage! Sie werden Ihre Vorgesetzten grüßen, und Ihre Untergebenen werden Sie grüßen! Alles wie beim alten Heer! Alte Zucht! Bitte entscheiden Sie sich freundlichst noch heute bis zum Abend! Wir brauchen Mannschaft für den Nachtdienst und Posten!«

Rudolf sagte: »Ach, jede Nacht um die Ohren schlagen? Gestern war ich aus – heute vielleicht wieder? O du mein Herrgott! Vielleicht vor dem Telegrafenamt Posten stehen? Kaltes Wetter! Sturm! Wenig Spaß!«

Konrad wandte ein, daß Rudolf noch nicht großjährig sei, man müsse auch an seine Zukunft denken, es werde kein Berufsheer mehr geben etc.

»Glauben Sie das ja nicht«, sagte der ältere der zwei Abgesandten, »der Wehrstand wird immer bestehen. Was jetzt vor sich geht, wird zum Glück unseres Landes nicht von Dauer sein.«

»Sie richten sich aber doch danach ein«, sagte Konrad, auf die Achselstücke des älteren Fahnenjunkers zeigend. Sie waren, wie er mit seinen scharfen Augen gesehen hatte, mit Stecknadeln provisorisch befestigt, um im Notfalle leicht entfernt werden zu können. Jetzt hatten sie sich zufällig verschoben und hingen an der linken Seite herab.

»Ach, mein Allerbester, wenn's weiter nichts ist«, sagte der Junker naiv, »wozu soll man sich mit allen aufgehetzten Menschen herumpöbeln? Zur Sache: Unsere Kommandostellen werden unseren Freiwilligen die doppelte Löhnung des alten Heeres geben, Arbeiter – und Soldatenräte lassen wir links liegen, ganz links – tadellose Bewaffnung und Uniform wird regulär aus alten Beständen geliefert. Wir haben noch Mäntel aus Friedensstoffen, Wachpelze, alles ist da.«

»Offen gestanden«, sagte Rudolf, auf dem Sofa hingelümmelt, »ich mache mir im Augenblick auch aus den Wachpelzen nichts mehr. An was soll man denn jetzt noch glauben? Wer soll wen bewachen? Alles vorüber, alles vorbei! Ist ja, genaugenommen, nichts als Quatsch! Ja, wenn es noch an die Front ginge!«

» Sie haben aber davon keinen Gebrauch gemacht, als es noch Zeit war, lieber Junge«, sagte der jüngere Abgesandte, der bis jetzt geschwiegen hatte, »Sie genausowenig wie Ihr Bruder. Wir zwei aber waren beide draußen, ich bin dreimal verwundet, mein Kamerad einmal verschüttet, einmal vergast. Wir kennen Ihren Herrn Vater.«

»Bitte, lassen Sie meinen Vater aus dem Spiel! Sie sind jetzt hier, im warmen Zimmer und rauchen – er ist draußen geblieben. Und Sie, sitzt denn bei Ihnen alles fest?« Rudolf zerrte an den Achselstücken, aber bei dem jüngeren Menschen saßen sie fest, und ebenso fest war der Blick, mit dem er die Brüder fixierte.

»Ach, Kamerad, laß ihn doch!« mahnte der ältere. »Mit solchen Brüdern ist nichts gewonnen. Wenn Sie zu uns wollen, melden Sie sich. Wollen Sie nicht, is egal. Wir gehen.«


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