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VII.

Nach der schlaflosen Nacht und dem langen, aber ohne Erlösung gebliebenen Gebet in der Ignatiuskirche lastete auf der Mutter ein Gefühl, das sie, solange ihr Mann noch gelebt hatte, noch nie so empfunden hatte.

Ihr Unglück empörte sie. Sie konnte sich nicht beugen. Es zerschnitt sie wie mit Messern, es riß sie auseinander. Sie hatte die hl. Muttergottes nicht verraten wollen, lieber verriet sie sich selbst. In der letzten Nacht, stumm und atemlos vor Druck über dem Herzen, hatte sie keuchend neben der asthmatisch atmenden alten Magd in ihrem dunklen Zimmer auf dem harten, scharfen, eckigen Rand ihres Ehebettes gehockt, bis es ihr ins Fleisch einschnitt, und hatte den Kopf hin und her geworfen, als könne sie die Gedanken dadurch ordnen, das verstörte Gemüt beruhigen. Und auf einmal huschte der Schmerz ins Knie. Aber die Verstörung und der Schmerz taten ja nur wohl! Sie hätte noch mehr Schmerz auf sich genommen, um sich ganz auszulöschen, sich ganz zu vernichten. Etwas drängte sie, das gleiche, das sie immer gedrängt hatte, selbst in der glücklichsten Zeit ihres Lebens, vor der Geburt des ersten Sohnes, der sie nachher (warum?) enttäuscht hatte; eine Stimme sagte ihr vor, du sollst sofort deine Kinder, dein Haus und deine Stadt verlassen. – Aber war das hier ihre Stadt? Ihre Heimat, ihre sonnige Kindheit lag weit fort von hier, an der russischen Grenze. Man sprach dort eine andere Sprache als hier, man atmete eine andere Luft – schon am Bahnhof, auf dem Weg nach dem Haus, in dem sie mit ihren Geschwistern ihre Kindheit verlebt hatte, lange bevor sie ihren Mann kennengelernt hatte. Das Haus dort war noch unverändert, selbst die Möbel standen noch an ihren alten Plätzen. – Der Gedanke, ihre Kinder zu verlassen, tat ihr wohl – sie leiden zu lassen, wie sie selbst litt! War sie, die Mutter, jetzt eine Witwe, eine Vollwitwe, so sollten die Kinder Vollwaisen sein! Selbst ihren geliebten Rudolf wollte sie zurücklassen, den Sohn ihres Herzens. Aber sie war nicht die Mutter seines Herzens, sie ahnte es wohl. Er würde nicht lange trauern und weinen um sie. Aber daß sie den sündigen Wunsch hatte, ihre von Gott eingesetzten Pflichten gegen ihr eigenes Fleisch und Blut zu verletzen, daß sie in ihrer Verzweiflung an der unerschöpflichen, süßen, grenzenlosen Gnade ihres für sie und ihre Erlösung hingeopferten Heilands irre werden konnte, war das nicht schon immer in ihr gewesen? Hatte sie nicht einmal bei der ersten großen Wanderung ihres Rudolfs (gerade diese Trennung von ihm hatte ihn ihr so teuer gemacht) in einer verzweifelten Stunde sich selbst gegenüber zugegeben, sie könne eher ohne ihren Mann, ihren Ludwig, leben als ohne ihren Sohn, ihren Rudolf? Also hatte sie schon damals die Muttergottes in ihrem Herzen verraten, ihren Mann ums Leben gebracht! Also war alles ganz gerecht! Nur zu gerecht! Nach ihren Sünden wurde sie gestraft, und nicht allein sie, sondern für ihre Schuld auch ihr armer Mann! Sie gab dem Himmel recht gegen sich. Es war eine verzweifelte Freude darüber in ihr, die sie entsetzte, sie ließ sich mit Wonne zerfleischen durch diese Freude. Sie empfand Haß und Neid gegen Hilda, ihr eigenes Kind, das hübsche, dumme, ahnungslose Geschöpf, das in dem warmen Schlafrock ihres armen, im eiskalten Erdboden liegenden Mannes sich ohne Sinn, ohne Arbeit, ohne Zweck auf dem Ruhebett umherwälzte und das nicht Weib und elende Kreatur werden wollte.

Hilda ahnte noch nichts, und war sie nicht um dieses Nichtwissen zu beneiden?


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