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IX.

Sonderbarerweise hatte dieses schreckliche Ereignis für Manfred von G. keine üblen Folgen. Es wurde sogar bekannt, daß er es jetzt ärger trieb als zuvor. Durch seine ziemlich blühende Pfandleihe kam er viel mit gewerbsmäßigen Hehlern, die auch gern einmal ein Spielchen riskierten, in Verbindung, und er erfuhr durch sie wichtige Einzelheiten über Raub, Einbruch, Diebstahl, Mordverbrechen, auch über politische Machinationen, und er wußte alles der Behörde gegenüber gut zu verwerten. So erklärt sich unter anderm die Milde der Polizei, ihre auffallende Langmut, als es bekannt wurde, daß er Emigranten aus früher deutsch gewesenen Gebieten, die (wie er selbst vor soundsoviel Jahren) über die neue Grenze in das alte Reich gekommen waren und die zum Teil von der Regierung als Ersatz für ihren beschlagnahmten Bodenbesitz drüben größere Geldsummen als Abfindung oder Entschädigung erhalten hatten, zum Glückspiel verlockte und ihnen und ihren Familien den letzten Notpfennig aus der Tasche zog. Oft waren diese Männer durch die entsetzensvollen Ereignisse (nach all den bitteren Nöten des langen Krieges) so aus dem Gleichgewicht gebracht, daß sie zu einer neuen Aufbautätigkeit nicht mehr oder noch nicht fähig waren.

Es waren Menschen, die noch vor kurzem ihre Wurzeln fest in ihrer väterlichen Scholle gehabt hatten; jetzt hatten sie diese verloren und gingen wie betäubt umher. Sie konnten nichts fassen.

Oft verleugnete solch ein unseliger Spieler in seinem falschen Ehrgefühl vor seiner Familie, wo und wie er das ihm anvertraute Geld verloren hatte. Die Söhne, die Frauen, die Schwiegertöchter meldeten sich weinend und jammernd oder in stummem, furchtbarem, aber beherrschtem Kummer bei der Polizei, nachdem sie, oft nur durch Zufall, die Quelle des Verderbens ausfindig gemacht hatten.

Die Polizei interessierte sich. Zuerst stritt man über das richtige Ressort, endlich wurde eines gefunden, der Beamte ließ sich lang und breit alles erzählen, dann kamen Recherchen, immer durch die gleichen Unterbeamten, und schließlich sagte man, die Untersuchung würde fortgesetzt, und wenn gedrängt wurde, zuckte man die Achseln. Man wollte die eigentlichen Verlustträger sprechen. Das war die wichtigste Zeugenschaft. Aber in den meisten Fällen hatten sie sich nicht in eigener Person beklagen wollen. Oft schien es sogar, als ob sie für den ebenfalls entwurzelten Spielbankbesitzer (der aus dem Elsaß stammte) eine Art Sympathie empfänden. Es schien ihnen ein »Ehrenpunkt« zu sein, sich ebenso mit dem Spielverlust abzufinden wie mit dem unwiederbringlichen Verlust der alten Arbeitsstätte in der Heimat. So war in vielen Fällen kein direkter Kläger da, und die Polizei tat nichts dergleichen, wenigstens bei dem ersten derartigen Fall nicht.

Erst als sich solche Dinge wiederholten und als dann, vielleicht im Zusammenhang mit der Sache des jungen Rudolf D., auch einige wichtige Änderungen im Polizeipräsidium vorgenommen wurden (so mußte Steffie »wandern«, fiel aber dank seiner Eigenschaft als alter Ehrenmann und guter Kamerad, wenn auch mit ein paar Schwächen, die Treppen hinauf, da er in konservativen Kreisen einen großen Anhang hatte) – und als eines Tages der Konsistorialrat und Wehrkreispfarrer D. Fr., der Schwiegervater des Gefängnisarztes, als Vertreter einer Hilfsaktion ein ernstes Wort oben zur Sprache brachte, faßte man das Übel an einer der mannigfaltigen Wurzeln, ließ nun Manfred von G. neuerlich vorladen, um ihm einige Protokolle vorzulegen, die von dem Konsistorialrat mit den Familien einiger solcher »Abgehäuteten« oder »Ausgesackelten« aufgenommen worden waren.

Manfred kam, pünktlich auf die Minute, sah alles genau durch, ließ sich Zeit, dann säuselte er unter süßem Lächeln hervor, er könne angesichts der »komischen« Art seines Betriebs nicht wissen, ob alle diese Angaben in den Protokollen zuträfen oder nicht. Mit den vielen Leuten, die, ihre Brieftaschen dick angefüllt mit seinem Geld, als Gewinner aus dem Klub herausgegangen waren, habe man ungerechterweise keine Protokolle angelegt, sondern nur mit den Verlustträgern. Habe denn er all das gewonnen, was sie alle verloren hätten? Vorausgesetzt, daß es wahr sei, daß sie verloren hätten? Solle er vielleicht noch Buch führen? Könne er es? Ein vielgeplagter, armer Steuerzahler in dieser schweren Zeit? Auf alle Fälle bedauere er das angerichtete Unglück, aber es habe nie jemand die Leute zum Spielen aufgefordert, weiter könne auch ein Pastor nicht gehen. Er persönlich sei immer mehr als korrekt gewesen. »Immer reell, immer sauber!« das sei die Grundlage von Handel und Wandel und vom Wiederaufbau des Vaterlandes. Ohne mit der Wimper zu zucken, erklärte er seine wurzelechte und treue deutsche Art, die er durch seine Option zugunsten des Reiches bekundet habe, er wolle noch mehr tun, er wolle eine größer Geldspende zu Händen der vaterländischen Hilfsaktion aus freien Stücken erlegen. »Nur zu gerne! Ja, nochmals ja! In dieser Zeit muß jeder opfern.« Man fragte ihn, ob er in seinem Betrieb etwas ändern wolle. »Liebend gern. Aber was? Aber wie?« Er hob die Augen zum Himmel. »Das sind Kinder!« Als man ihm näher an den Leib rückte, wurde er reserviert. Sein Klubraum sei kein Spielsaal im Sinne der Bestimmungen, sondern nur ein Versammlungsraum für gute deutsche Geselligkeit. Einfach vier Wände, in denen eine mehr oder minder geschlossene Gesellschaft sich in aller Harmlosigkeit träfe; was wäre schließlich dabei, das Menschliche müsse man verstehen, in einer so tristen Zeit wie heute wolle keine Christenseele daheim bleiben im kalten, öden Zimmer und allein. Ja, und ob alle die Namen stimmten, die in das Gäste- und Mitgliedsbuch eingetragen seien? Er hoffe es, ganz gewiß. Freilich, kontrollieren könne er es nicht und dürfe es nicht, da er keine polizeilichen Befugnisse habe. Und selbst auf amtliche Ausweise sei heute kein Verlaß mehr, da die Technik in bezug auf Fälschungen fortgeschritten sei, und zwar mehr, als sich der menschliche Charakter zum Guten entwickelt habe, mit Verlaub gesagt.

Ja, und die Spiele? »Bitte, sagen Sie selbst, was sind das für Spiele? Das habe ich mich immer selbst gefragt. Die besten Fachleute, die Herren Spezialdezernenten vom Präsidium, haben sie immer für erlaubte Geschicklichkeitsspiele und nicht für unerlaubte Glücksspiele gehalten.« Er selbst habe sogar manchmal geschwankt. Denn er wolle ein reines Haus haben. Aber sollte er den Leuten widersprechen, die alles genau geprüft und ja und amen gesagt hätten?

Man blätterte noch einmal die (von der Tochter des Konsistorialrates, einer Lehrerin namens Doralies, schön abgeschriebenen und von der anderen Tochter, Flossie, prachtvoll eingebundenen) Protokolle durch, sah den eleganten, früh ergrauten, etwas kränklichen, zartbesaiteten Chiffon von der Seite an. Er verbeugte sich und ging.

Als sich aber im Verlauf der nächsten Wochen bei einem neuen Schub von polnisch-deutschen Emigranten dieselbe Sache wiederholte und man gezwungen war, ihn zum drittenmal vorzuladen, erschien er nicht auf dem Präsidium, sondern er entschuldigte sich mit »akuter Herzmuskelschwäche und chronischer Blutarmut«, was dem immer anfälligen, übel aussehenden Menschen, der auf seinen Schwächen spielte wie auf einem Klavier, zu simulieren oder zu übertreiben nicht schwerfiel. Er konnte seinen Herzschlag willkürlich beschleunigen, was er in der Kriegszeit erlernt hatte, um der Aushebung zu entgehen, und er hatte sich so in der Gewalt, daß er den Gerichtsarzt hinters Licht führte. So bildete er es sich wenigstens ein. Tatsächlich durchschaute ihn Konrad, dem in der gerichtlichen Medizin keine Art von Simulation unbekannt geblieben war, ebensowenig wie die grauenhaftesten Schattenseiten der menschlichen Natur, die er in seiner Praxis und in der wissenschaftlichen Literatur kennengelernt hatte. Er war ein kühler, aber außerordentlich tüchtiger Arzt, ein fast immer treffsicherer Diagnostiker, der eben in diesem Fall seine guten Gründe hatte, sich zu irren.

Er sah den grauhaarigen Chiffon an, der fahl in seinem Bette hockte und seinen Willen spielen ließ, um seine Herztätigkeit unregelmäßig zu gestalten. Sie wechselten einige Worte, vermieden aber beide, den Namen des gemeinsamen Bekannten, Rudolf, auszusprechen. Konrad hatte von Manfred den Eindruck, daß es sich um einen schwächlichen, aber widerstandsfähigen, bis auf ein altes Magenleiden gesunden körperlichen Organismus, im übrigen aber um einen verschrobenen Charakter handle, der von dem Grundprinzip ausging, jeder Mensch wolle jedem Menschen von Natur aus schaden, und statt daran zu leiden, hatte dieser früh gealterte Mensch gelernt, daran zu verdienen. Er traute keinem, nicht einmal sich selbst. Konnte er darauf rechnen, daß sein Herz, jetzt wo er es brauchte, das eingelernte Stückchen spielen werde? Ohne ein Wort über den Krankheitszustand Manfreds zu sagen (schließlich war es für beide, für Manfred wie auch für ihn selbst keine entscheidende Angelegenheit), erhob sich Konrad. Er wusch sich ungewöhnlich lange die Hände. Daran wollte Chiffon erkannt haben, daß seine Sache gut stand, und so war es auch. Der Arzt hatte lange überlegt, eben während des Händewaschens, und sich dann kurz entschieden. Sein Gutachten war so vorsichtig, wie er noch niemals eins ausgestellt hatte. Obwohl ihn Chiffon sehr interessierte, wie jeder Mensch, der mit seinem Rudolf in Verbindung gestanden hatte – und vielleicht noch jetzt in Verbindung stand –, hütete er sich sehr, über diese Begegnung mit jemandem zu sprechen. Seine Frau, sein Schwiegervater, sein Chef fragten. Er zuckte die Achseln, verschanzte sich hinter das Berufsgeheimnis. Dieses hätte aber bloß den wissenschaftlichen Befund betroffen, nicht aber den rein persönlichen Eindruck, den er von Chiffon hatte.

Je tiefer er seinen Bruder liebte, je mehr er ihm zu verzeihen hatte, desto verschlossener wurde er.

Manfred trieb es nicht auf die Spitze. Er gab freiwillig einen wesentlich höheren Sühnebetrag ab und versuchte auch seinen Freund Steffie zubewegen, sich an der Wohltätigkeitsaktion zu beteiligen. Aber Steffie, der einen unverhältnismäßig großen, oft törichten Luxus trieb und bei dem das Geld (unter anderem auch eine große Erbschaft, die er 1923 gemacht haben wollte) in zahlreiche, dunkle Kanäle verrann, wollte nichts davon wissen. Zum erstenmal gerieten sich die alten Freunde in die Haare. Steffie, der beste Schütze und Jiu-Jitsu-Kämpfer der Provinz, ließ, als Chiffon in seinem Wohltätigkeitsdrang immer stürmischer wurde, einen kleinen »Trick« von Stapel, er fuhr dem Chiffon mit beiden Zeigefingern in die Nase und stülpte ihm die Nasenlöcher nach oben. Vor Schmerz krächzend ließ Chiffon vom Edelmut sofort ab. Er war überrascht worden, und das hätte ihm nicht passieren dürfen. Also war er von seinem Grundsätze, daß die guten Menschen-»Kinder« einander überall und immer zu schaden suchten, doch einmal abgekommen. Aber er lachte, augenblicklich wieder von seinem Schmerze befreit, wie es bei richtigen Jiu-Jitsu-Griffen immer der Fall war, denn die Schmerzempfindung soll genauso schlagartig aufhören, wie sie eingesetzt hat. Auch Steffie lachte. »Probiers doch auch mal, Kamerad!« sagte er zu Chiffon. Chiffon versuchte es, Steffie antwortete durch einen andern Griff, der aber schon früher bei den Lektionen vorgekommen war und den Chiffon tadellos parierte. »Na, hast du nicht was Ordentliches bei mir gelernt? Du solltest nicht so knickerig sein! Mach schnell! Irgend etwas Nettes wirst du doch unter deinen Pfändern haben. Ich habe da irgendein klein Mäuschen, das würde sich freuen.« Chiffon suchte seufzend unter den verfallenen Sachen etwas für das Mäuschen hervor, ohne zu fragen, ob es männlichen oder weiblichen Geschlechtes wäre. Eine Tabatiere aus echtem Schildpatt mit Goldecken konnte jedermann brauchen. Steffie war zufrieden und zog ab. Er war in großer Eile. Seine Eile war echt, ebenso wie die Geldnöte, ohne die er scheinbar gar nicht mehr leben konnte.

Seinen Sühnebetrag erstattete Manfred diesmal nicht zu Händen des Konsistorialrates, wie man es ihm vorgeschlagen hatte und wie es auch Konrad gern gesehen hätte, dem seine Frau Flossie damit in den Ohren lag, sondern er gab ihn unmittelbar drei armen, verzweifelten Ehefrauen, die er aus einer Reihe ähnlicher Fälle ausgelost hatte, wobei Vera stolz die »Glücksgöttin« spielen durfte. Die Männer warteten vor dem Hause, sie waren nur mit Mühe von einem neuen Besuche des Spielklubs abzuhalten gewesen. Ihnen selbst etwas von dem ihnen abgejagten Gelde zurückzugeben erschien Manfred als Unsinn, denn sie hätten sofort das Geld in Chips umgesetzt, und wenn nicht im Klub Hera, wo sie vielleicht »Hemmungen« hatten, so doch sicherlich in einem andern Klub, eine Straßenecke weiter – denn die Konkurrenz hatte sich in letzter Zeit stark entwickelt.

Auch die anderen Spielbankbesitzer arbeiteten jetzt mit dem Köder der billigen Mahlzeiten, sie fütterten oft ihre Gäste so gut wie ganz umsonst ab. Nur vermochte keiner eine so delikate und abwechslungsreiche Küche herzustellen wie der in französischer Kochkunst groß gewordene Manfred, der übrigens bald auch auf andere »niedliche« Einfälle, wie Tombolas etc., kam.


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