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III.

Als die grüne, filzgefütterte Tür in das Vernehmungszimmer aufging und das dicke, überfreundliche Gesicht des Untersuchungsrichters in einer Wolke von dichtem Zigarrenrauch erschien, war Konrad doch jäh aufgeschreckt.

Der Richter war allein. Was Konrad von außen gehört hatte, waren nur Telephongespräche gewesen, die der Richter inzwischen geführt hatte.

Hier in diesem kahlen Raum, der erfüllt war von dem säuerlichen, abgestandenen Zigarrenrauch, den der höfliche Richter mit geschwenkten Aktenfaszikeln zum offenen Fenster hinauszutreiben versuchte, sollte er also beginnen, sich für seinen Bruder einzusetzen, »ihn zu verteidigen«. Aber würde er es so gut können, wie er wollte? Und ihn – dann ganz für sich gewinnen?

Nun nahm der Arzt auf dem Stuhl Platz, an jener Stelle, von der aus sonst die Zeugen, vereidigt, und die Angeklagten, unvereidigt, auszusagen hatten, während er, der Gerichtsarzt, bisher bei seinen dienstlichen Zusammenkünften mit dem Anklagevertreter frei im Zimmer umhergegangen war. Eine Lähmung, die ihn erfaßte, ließ er nicht hochkommen, er bekämpfte seine Schwäche mit krampfhafter Energie, und deshalb fragte er als erstes den etwas erstaunten Richter, ob er seinen Bruder, er betonte das Wort absichtlich scharf, noch heute sehen könne. Der Richter antwortete, während er das Ende seiner Zigarre mit den Zähnen glatt durchbiß, so nebenhin: »Ja, guter Herr Doktor, ob Sie den Häftling sehen können, hängt noch von dem und jenem ab, wir müssen einerseits alles vermeiden, aber andererseits, natürlich, mit einem Wort, grundsätzliche Bedenken bestehen nicht, oder wissen Sie vielleicht welche?« Er lachte über seinen ›Witz‹. Konrad blieb sehr ernst. Er hatte sich noch nicht ganz gefaßt und schwieg.

»Nun, medias in res! Sie wollen also aussagen? Herrlich! Prachtvoll und fabelhaft. Ich begrüße es sehr. Ungemein! Erstklassige Sache. Je früher die Sache geklärt wird, und da helfen Sie eben wacker mit, desto besser für alle. Ich habe den – jungen Mann heute bereits gesehen. Wiedergesehen. Kenne ihn ja. Aber nur mit Mühe, der Wahrheit die Ehre, wiedererkannt. Und begriffen? Nein! Leider noch gar nicht. Er befindet sich in einem wahrhaftig nur als sonderbar zu bezeichnenden, aber ganz gefahrlosen Zustande, sicherlich, Herr Doktor! Nur ist er verworren, verworren! Wir haben ihn uns heute nacht aus dem Spielklub ›Hera‹ des Herrn Manfred von G. geholt. Auch das eine dunkle Sache. Nun aber, der junge Mann, er spricht nicht, aber es geht nun mächtig in ihm rundum. Er quasselt. Er sprudelt. Sie verstehen? Wir fragen. Er antwortet daneben. Absicht? Dämmerzustand? Kokainphantasien? Alles möglich. Wir haben da eine Stunde, ungelogen, beieinander gesessen, ich habe unendlich viel gehört. Weiß aber nichts. Weniger als vorher. Kannte ja die Umstände. Bedauerliche Sache. Aber wirklich interessant. Nicht ganz das Übliche. Nun, mein bester Herr Doktor, wir wollen uns heute nur ganz ...« Er lief mit den zwei Daumen über die Spitzen der anderen Finger, als spielte er Flöte. Es war ein Tic, den er neben anderen Tics an sich hatte, der aber dem Gerichtsarzt nie aufgefallen war. Jetzt erst sah er den Substituten, er beobachtete ihn scharf, in eigener Sache, denn er wußte, daß von der Art, wie dieser Richter vorging, und davon, was in ihm vorging, viel von der Zukunft seines Bruders abhing. »Ganz unsystematisch, sozusagen nur im Plauderton«, setzte der Richter fort, immer rascher Flöte spielend, »sehen Sie, ich habe gar keine Feder zur Hand«, er hielt jetzt die rechte Hand ans Ohr, als höre er etwas an ihr, und dichte Rauchwolken schwelten aus seiner Zigarre an seinen schon etwas eingefallenen Schläfen und an leicht ergrauten Haaren empor, »wir haben keine Zuhörer, wir sind unter uns, alte Kampfgenossen, nicht wahr, oder besser Sportkameraden – erstklassige? Die Sache läuft ja unerledigt schon Jahr und Tag, Schmach und Schande, nicht wahr, aber heute fangen wir ernstlich und letztlich an, lassen die Jupiterlampen brennen und schicken das Quarzlicht durch die Seelen und Sachen, es wäre ja auch zu doll, wenn zwei Leute wie wir einem simplen Raubmord nicht auf die Spur kämen, ein forensischer Pathologe, Chemiker und Psychologe, last not least, wie Sie, und dazu meine schwachen Kräfte – Rosenfinger wird gerächt, jetzt oder nie.«

»Ja, lieber Herr Doktor«, sagte er dann nach einer Atempause, in einem ganz anderen Tone, im Gegensatz zu dem schwatzhaften Beginn jetzt jede Silbe abwägend und die blond behaarten, dicklichen, weichen Hände mit der braunen Zigarre mitten inne wie im Gebet zusammengefaltet, »da sind erst mal drei Komplexe. Eins: Raubmord an dem Grundstücksmakler Zollikofer, was denken Sie, wohl süddeutscher Name, na ja, die südlichen Sitten etc. Dieser Komplex spielt 1923. Zwei: Feuerüberfall auf die Polizisten bei der ›Hera‹ in den Schwedengängen auf dem Platze beim Kiosk. Und drittens und vorläufig letztens das, was sich heute nacht bei dem Spielbankbesitzer Manfred von G., wenn nämlich der Kerl wirklich so heißt – wiederum in der ›Hera‹, diesem Venusberg ohne Venus, zugetragen hat. Also eins Rosenfinger, zwei die Polizisten, drei Manfred, stimmt doch? Das nur zur ersten Orientierung, damit wir uns noch besser, sozusagen ganz erstklassig, verständigen.« Konrad stand auf. Zögernd ging er dem Richter, der seine eigenen Hände mit der Zigarre anpaffend zum Fenster gegangen war, nach. »Würde es Sie sehr stören, Herr Staatsanwalt«, begann er – und erschrak über den falschen Ton seiner Stimme, denn so kannte er sich nicht! –, »würde es Ihnen sehr ungelegen sein, wenn – ich ... wenn auch ich ... auf und ab ginge?«

»Gewiß würde es mich stören, nur ein ganz klein wenig, aber doch, leider, ganz gewiß, mein Lieber«, sagte der Richter, sich mit freundlichem, klugem Lächeln umwendend und den Arzt an den Schultern auf den Sitz niederdrückend, »behalten Sie doch nur Platz! Es geht doch nicht recht an, daß wir beide wie zwei unfreundliche Sternchen in diesem Amtsraum umeinander kreisen, ich bin ja so glücklich, wenn ich mir ein wenig Bewegung machen kann – und Sie sind ja so schlank wie eine Birke, die Jugend, erstklassig, ja, die Jugend!« Konrad konnte also das Gesicht seines Gegners nicht immer sehen, wohl aber der Gegner jederzeit sein Gesicht. Hätte er doch die Aussage verweigern sollen? Hatte der alte v. Ohr doch gut geraten? Jetzt war es zu spät. Er schwieg, sammelte sich mit seiner ganzen Energie und wartete die erste Frage ab. »Es interessiert uns zum Beispiel folgende Kleinigkeit. 1.)Warum ist Rudolf – bleiben wir bei diesem familiären Namen, wir sind ja unter uns, nicht? – bei dem plötzlichen Tod seines väterlichen Freundes geflohen?«

Konrad nahm sich vor, keine Frage sofort zu beantworten. Er saß still da. Sollte er sagen, der Bruder sei gar nicht geflohen, sondern nur seinem Wandertrieb gefolgt? Wahrscheinlich sogar vor dem Mord? Oder war es besser, wenn er einfach die Beantwortung ablehnte und sagte, er wisse es nicht? Würde er aber damit nicht dem armen Bruder schaden? Würde dann der Richter, von dem allein die Besuchserlaubnis abhing, ihm nicht Schwierigkeiten machen, wenn er den Bruder nach Beendigung des Verhörs besuchen wollte? Er entschloß sich, einen mittleren Weg einzuschlagen: »Ich habe ihn ungefähr vierzehn Tage vor der Ermordung des Maklers zum letztenmal gesehen.«

»Also Ende Oktober 1923. Und wie war das? Sagen Sie ruhig alles, Sie langweilen mich sicher nicht!« Er lachte.

»Ja, so ungefähr. Wir standen kurz vor unserer Verheiratung. Ich hatte meine letzten Prüfungen noch nicht bestanden, man wußte nicht, ob mir die juristischen Semester eingerechnet würden. Die Inflation war auf dem Höhepunkt angelangt, unser Vermögen betrug dreihundert Billionen. Wir wollten in Sachwerten retten, was zu retten war. Meine Frau kaufte, was sie gegen Mark bekam. Wir waren jeden Tag damals von morgens bis abends auf den Beinen. Ich nahm an, daß mein Bruder bei dem Makler, der außerordentlich gut lebte und der meinen Bruder wie den Sohn im Hause hielt und der natürlich über viele Devisen verfügte, gut aufgehoben sei. Er hat dort sein eigenes Zimmer gehabt, ebenso wie in unserer Wohnung. Rudolf und ich hatten einige kleine Differenzen. Aber so schlimm war es nicht. Es kam oft vor, daß ich ihn wochen-, monatelang nicht sah. Bisher war er immer von selbst zurückgekommen. Was sollte ich anderes tun als warten? Wie schon die erste Untersuchung im Jahre 1923 ergeben hat, war nicht festzustellen, ob Rudolf sein Quartier bei dem Makler in den letzten Tagen noch bewohnt hat oder nicht. Er konnte auch bei Freunden herumwohnen. Sein Dienstpersonal hatte der alte Mann damals Knall und Fall entlassen, als es die alte Mark nicht nehmen wollte, oder es hatte den Dienst aufgesagt, weil der Makler von seinen Devisen nichts hergeben mochte. Das alles ist damals festgestellt worden, glaube ich.«

»Festgestellt? Das wäre ja erstklassig! Natürlich! So, glauben Sie?« nahm der Richter scheinbar zerstreut das Wort auf. »Es waren ja auch dolle Zeiten«, er lachte und verschluckte sich beinahe, »tolle Tage, kann man wohl flüstern. Im Rheinland die Separatisten losgelassen, jeder Buchdrucker druckt in amtlichem Auftrag Falschgeld, Tag und Nacht in Dauerschicht, einzige Chose, die floriert, vierhundert Trillionen im Umlauf, und da wollen die Schelme, die Drucker, streiken, wollen wohl auch Geld sehen! Das Brötchen auf Karten – zu einer Milliarde ist noch billig! Tolle Welt! In Thüringen sind es die Roten, in Bayern die Einwohnerwehr, am Rhein die Rheinische Republik, Franzosen, Belgier, Gott weiß, was noch alles, schwarze Franzosen und andere liebe Kinder Gottes bei Krupp. Alles im Matsch. Millionäre sind Bettler, und der Portier kündigt, weil er schlichte Deutsche Reichsmark nicht mehr nimmt, auch wenn man ihm einen ganzen Bäckerkorb voll gibt. Verstehe, verstehe. Da zieht so ein junger Mensch einfach los mit Gesang, die Welt ist weit – schöner Roman übrigens, weiß nicht von wem. Und der gute Bruder Medikus hat den Kopf voll eigener Sorgen. Aber warum gerade jetzt? Das war schade! Und inzwischen geht Rudolfs väterlicher Freund, der Makler, ab zu seinen Vätern und mäkelt nicht mehr. Ist ja sonderbar, nicht? Der alte Herr, der jetzt mit seinem Schuß, Einzeltreffer, vor seinem Renaissancetisch liegt, hat, soviel wir wissen, den jungen Mann vormals zu seinem persönlichen Schutz im Jiu-Jitsu ausbilden lassen, hat ihm Waffen gekauft, Revolver, Patronen, alles erstklassig, Schießeisen, so was muß ja auch solch ein grüner Bengel unbedingt haben, und jetzt, wo Not am Mann ist, ist jung Rudolf verreist, abgemeldet, verzogen, unbekannt wohin. Schade! Schade! Aber sei es drum. Jetzt bitte, jetzt bitte«, er atmete auf, denn all dies hatte er, während er im Geist schon die nächste Frage formulierte, schnell flötenspielend, fast mechanisch herausgeblubbert, »2.) warum ist Rudolf im Jahre 1925 – wir überspringen vorderhand die Zwischenzeit – wiedergekommen?«

Jetzt antwortete Konrad sofort. »Ich weiß es nicht.«

»Und auch das wissen Sie nicht, lieber Herr Doktor, warum der junge Mann nicht zu Ihnen oder zu Ihrer Mutter zurückkam, sondern in die Miniaturspielhölle, in das Montecarlinchen zu dem übelbeleumdeten Manfred v. G., genannt Chiffon?«

»Meine Mutter war damals nicht mehr bei uns. Sie war im Erholungsheim Waldfrieden.«

»Aber Sie waren doch noch immer da? Bei Ihnen war zwar kein Wald, aber doch auch Frieden. Sie hätten doch den Wanderburschen aufgenommen? Hätten das Kalb geschlachtet für den verlorenen Bruder? Das hätten Sie und Ihre Frau doch bestimmt getan?«

»Bestimmt!«

»Und sieh einer, der verlorene Sohn kommt nicht. Läßt auf sich warten. Und dort in der Höhle des Löwen tritt er auf, zwei starke Männer zur Seite, wohlbewehrt, einen zu Häupten etc., wie es in den Psalmen heißt. Ja, warum? Er muß doch etwas auf dem Gewissen gehabt haben.«

»Weil er bei seinem alten Sportkameraden Manfred erschienen ist? Mit Manfreds Frau war er befreundet. Warum sollte er denn nicht hinkommen? Alle Welt ging hin. So etwas dürfte meiner Ansicht nach wenig beweisen.«

»Gewiß. Viel eher der Umstand, daß er schwerbewaffnet auftritt. Und noch mehr der Umstand, daß er, ohne den geringsten Anlaß, als ihn eine zufällige Streife wegen nächtlicher Ruhestörung oder so etwas Ähnlichem beim Kiosk stellen will, sofort losknallt, einen Treffer nach dem andern.«

»Er soll stark unter Kokain gestanden haben.« »Stark? Ansichtssache. Wir haben ihn beide nicht gesehen. Das darf ich doch einwenden? Und darf ich noch mehr einwenden? Ich glaube, wenn man unter Kokain steht, da ist man lustig oder sonstwie beduselt. Aber man schießt doch nicht? Rausch ist doch nicht Mord? Wohin käme man denn dann? Das wäre ja erstklassig! Da könnte ja jeder kommen und sagen, ich habe da etwas Kokain geschnupft, dann bin ich spazierengegangen, es kamen mir ein paar Polizisten entgegen, ich habe sie dann sofort abknallen müssen. Na, sehen Sie. Und jetzt folgender Punkt. 3.) Mit wem hat er in den Jahren 1923 bis heute in Verbindung gestanden?«

»Mit uns nicht.«

»Sie meinen, nicht mit Ihrer Frau und Ihnen – oder meinen Sie, nicht mit Ihrer Mutter?«

»Ich hatte keine Nachricht von ihm. Ich kann mir nicht vorstellen, daß meine Mutter Nachricht von ihm hatte.«

»Er hing wohl nicht gar zu sehr an der Mutter?«

»Doch, aber an dem Vater mehr.«

»Und Sie haben während der ganzen Jahre nichts von ihm bekommen, nichts Komma null, keinen Anruf, keine Postkarte, keine mündliche Botschaft?«

»Nicht das mindeste.«

»Aber um Geld hat er doch mal gebeten?«

»Um Geld? Niemals.«

»Sie hätten wohl auch keines geschickt?«

»Ich glaube, ich hätte ihm doch welches geschickt. Er hatte übrigens noch ein winziges Guthaben hier.«

»So, und auch daran lag ihm nichts? Finden Sie das nicht eigenartig?«

»Nicht eigenartiger als das andere. Vielleicht hat er meine Vorwürfe gefürchtet.«

»So. Aber er soll Sie doch heute nachts angerufen haben, aus Chiffons Telephonzelle heraus.«

»Das höre ich zum erstenmal!«

»Und Sie fassen auch das nicht als eine Art Schuldbekenntnis auf?«

»Im Gegenteil!«

»Aber nicht doch! Er meidet den Bruder, weicht der Familie aus, er schneidet alle Fäden ab. Nicht einmal eine Notadresse. Er ist wie auf einem anderen Planeten. Aber doch nur für Sie? Vielleicht hat er doch seine Fädchen mit Chiffon?« »Nicht daß ich wüßte.«

»Und wie erklären Sie sich dieses, wie soll ich sagen, perverse Heimatgefühl, das ihn zweimal (soweit wir es wissen) in das Lokal in den Schwedengängen treibt?«

»Ich kann mir das nicht erklären.«

»Ob er von dort Zuschuß bekommen hat?«

»Das halte ich bei der Art Manfreds für ausgeschlossen.«

»Aber etwas Gemeinsames muß doch die beiden verbunden haben.«

»Vera?!«

»Aber es wäre das Hirnrissigste gewesen, sie gerade bei ihrem Mann aufzusuchen. Er hätte sie ja leichter vor der Tür erwarten, ansprechen, was weiß ich, entführen können.«

»Das ist mir auch rätselhaft.«

»Und Sie haben nie mit Manfred darüber gesprochen?«

»Gesprochen nie. Ich habe ihn nur einmal in dienstlicher Angelegenheit gesehen, und dabei fiel der Name meines Bruders natürlich nicht.«

»Aber Sie hätten ihn ja nachher anrufen können?«

»Wozu das?«

»Aus reinem Interesse für den Bruder! Er existierte ja die ganzen Jahre, er lebte nicht von der Luft, er lebte gut. Ich habe ihn ja heute gesehen. Auch damals hat man ihn gesehen. Immer angezogen wie ein Gentleman. Nur den Paletot im Rücken seit heut morgen etwas lädiert. Sonst tipptopp. Wäsche prima, ein Kavalierstaschentuch, schön gestickt, in der Tasche, alles, wie es edlen Männern ziemt.«

»Mag sein.«

»Das ist aber nicht gleichgültig, das hat seine Wichtigkeit. Hätten Sie nicht doch einmal Chiffon ins Gebet nehmen können? Er war Ihnen doch auch verbunden.«

»Wie meinen Sie das, Herr Staatsanwalt?«

»Nicht doch! In aller Unschuld. Durch die gemeinsame Liebe, eben durch Ihren armen Bruder verbunden, weiter nichts.«

»So.«

»Und weiterhin durch noch einen gemeinsamen Bekannten, Zollikofer. Und das hätte Sie doch stutzig machen müssen.«

»Das ist mir absolut unverständlich. Wieso hätte mich das stutzig machen sollen?«

»Nein, nicht sollen, nur können.«

»Sie sagten ›müssen‹.« »Dann habe ich mich eben geirrt. Verzeihung, mein Herr. Wir müssen schon den kranken Zahn weiter ausbohren, da hilft nichts. Es hätte Sie also meiner Ansicht nach interessieren können, wieso es kommt, daß Ihr Bruder jahrelang ohne Zuschüsse lebt, gut lebt, daß er sich nicht an seine Familie wendet und daß Zollikofer zu dem engsten Kreise der beiden, Manfred und Rudolf, ich darf ihn doch so familiär nennen? gehört hat und daß Zollikofer massig reich war, daß bei seinem plötzlichen Ableben eine Unmenge Geld und Wertgegenstände abhanden gekommen sind!«

»Entschuldigen Sie mich, wenn ich Sie unterbreche. Was Sie mir da vorschlagen, ist, daß ich und nicht die Staatsanwaltschaft die Untersuchung der Strafsache Zollikofer kontra Unbekannt hätte auf mich nehmen sollen.«

»Strafsache Zollikofer kontra Unbekannt? Aber nicht doch, liebster Herr Doktor. Mord an Zollikofer, so heißt es, ganz gemeiner Raubmord. Und ein gewisses Interesse hätten Sie schon haben können an dem Ganzen. Zum mindesten mehr, als Sie gezeigt haben. Mag sein, es wäre inkorrekt gewesen, Sie hätten Chiffon auf den kranken Zahn gefühlt. Verstehen könnte ich es aber doch, denn es wäre nur zu natürlich gewesen!«

»Das war nicht meine Sorge.«

»Das sagen Sie.«

»Mehr kann ich eben nicht sagen.«

»Schön, ich will mich geschlagen bekennen, will sagen, daß es Ihnen nicht auffallen mußte, daß der junge Mensch konsequenterweise immer nur mit Chiffon unter einer Decke steckt, trotz aller Weibergeschichten und Sportrivalität, Chiffon – Rudolf, Rudolf – Chiffon und Chiffon – Rudolf – Zollikofer, das geht immer hin und her, nicht? Nein? Aber Sie hätten sich doch etwas mehr Sorgen machen können!«

»Habe ich das nicht?«

»Ich weiß eben nicht. Vielleicht nicht früh genug. Nicht ernst genug. Nicht energisch genug. Sehen Sie, ein junger hemmungsloser Mensch, von der Mutter her erblich belastet, so würde ich es als älterer Bruder sehen, mehr als einfach hemmungslos sogar, nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich nehme an, wenn ich es mir und Ihnen klarmachen soll.

... Ich nehme an, eine sehr gut gemeinte, aber nicht richtig vollendete Erziehung, Vater ab – allerhand kuriose Triebe. Allerhand erstklassige Abenteuer. Romantischer Patriotismus. Ein rauher Landsknecht mit Luxuswäsche. So etwas weiß, was gut und teuer ist, und bon leben schmeckt ja jedem schön. So was kann aber auch ohne Arbeit leben, wenn das Vaterland auf einmal keinen Bedarf an Landsknechten mehr hat. Da hat man eben wieder die Rosenfingers. Regelmäßige Einkünfte, ein anständiges Lebensprogramm, eine bürgerliche Stellung hat aber so was nicht, und sagen Sie dann selbst, muß so etwas nicht rutschen? Was soll er denn sonst tun?«

»Was hätte man aber noch unternehmen können? Bitte glauben Sie, alles, was man tun konnte, um den Jungen zu regelmäßiger Tätigkeit anzuhalten, habe ich getan, und in gewissem Sinne Rosenfinger auch.«

»Komisch, auch Sie nennen ihn ›Rosenfinger‹! Wie doch solch ein neckischer Name klebt!«

»Nun, ja. Der Makler hat alles versucht. Er hätte ihm jedes höhere Studium ermöglicht. Geld spielte für solche Zwecke keine Rolle. Bei ihm. Ich selbst und sein Vormund, Herr v. Ohr, konnten mit dem uns Geschwistern vom Vater her hinterlassenen Vermögen nicht weit kommen, im Sommer oder im Frühherbst 1923 haben wir die Verständigung von der Deutschen Bank erhalten, wir sollten das Konto, das mein Vater 21 Jahre lang unterhalten hatte, freiwillig liquidieren. Die Papiere waren wertlos geworden. Jedenfalls lohnten sie die Mühe des Buchführens nicht mehr. Nun war Rudolf eine Zeitlang Privatsekretär bei dem alten Herrn. Aber er konnte es nun einmal nicht den ganzen Tag im dumpfen Zimmer, bei der Batterie von Telephonen, bei der klapprigen Schreibmaschine aushalten. Man dachte an die Grammophonbranche, eine Zeit nachher an die Motorradbranche, das waren Sachen, die gut gingen. Er hatte viel technisches Geschick. Er war begabt. Ein guter Kerl. Ein Sportsfreund. Ein Naturnarr. Überall kam man ihm gern entgegen. Leider hielt er es nicht sehr lange aus. Einige Zeit war er mit ganzem Herzen dabei, die Menschen waren entzückt von ihm, Freunde hat er immer in Massen gehabt, aber dann kam's mal über ihn, er schüttelte sich, zog ab. Wo es ›rauchte‹, zog's ihn hin. Solche Menschen muß man nicht ›Landsknechte‹ nennen. Schließlich haben sie für das Deutsche Reich ihre Haut in O. S. und im sächsischen Industriegebiet zu Markte getragen.«

»Stimmt. Stimmt auf ein Haar. 4.) Und da werden Sie auch nicht wissen, was ihn gestern hergeführt hat?«

»Wenn er wirklich aus Chiffons Wohnung mich hat anrufen wollen, dann muß ich annehmen, daß er sich vielleicht mit uns aussprechen wollte.«

»Lange nach Mitternacht?«

»Vielleicht ist er so spät mit einem Zuge angekommen.«

»Stimmt wieder. Das ist das Wahrscheinlichste. Aber warum dann nicht zu Ihnen, warum nicht ins Bahnhofshotel, das ist doch die ganze Nacht geöffnet, um die müden Wanderer zu erquicken, sondern zu dem üblen Kunden, dem Manfred? Es sieht ja ganz so aus, als ob da, unter Manfreds Dach, verschiedene Rauschgiftsachen mitgespielt hätten, und das ist ja auch etwas, das einen müden Wanderer erquicken kann. Nun aber ganz im Ernst, wie wir uns auch drehen und wenden, immer kommen wir auf das Kokain. Nicht wahr, wir können ihm nicht ausweichen, in der Sache mit dem alten Herrn scheint es mitzuspielen und hier bei Manfred auch, hier ganz besonders. Seit wann und auf welche Weise ist Ihr Bruder zum Kokain gekommen?«

»Ich kann das nicht genau beantworten ...«

»Nur das, was Sie über diesen Punkt wissen.«

»Es mag in den Jahren 1922 oder schon 1921 gewesen sein, möglicherweise aber auch später, ich denke, so zur Zeit, als er nach der Oberschlesien-Abstimmung wieder daheim war. Ich hätte es nicht aus eigenem bemerkt.«

»Ich dachte, Sie könnten mir diesen wichtigen Zeitpunkt präzisieren. Schade. Haben Sie an Stelle des Vaters, als Haupt der Gemeinde im allgemeinen und als sein besonderer Behüter im einzelnen nicht Ihr Hauptaugenmerk darauf gerichtet? Er schnupfte Kokain, und Sie hatten Ihre Augen anderswo? Ich nahm an, Sie hätten in einem besonders innigen Verhältnis zueinander gestanden?«

»Nicht so, daß er mir alles anvertraut hätte. Vieles sagte er mir, nicht eben sofort, aber mit der Zeit doch. Ich kam durch sein eigenes ehrliches Geständnis auf das Kokain. Eines Tages erschien ich besonders frühzeitig zu Hause und fand ihn vor meinem geöffneten Medikamentenschränkchen.«

»Es war doch sicherlich gut versperrt. Sie hätten doch die gefährlichen Sachen nicht unversperrt herumliegen lassen?«

»Vielleicht doch. Es war nichts von Bedeutung darin, kein Gift, Kokain am allerwenigsten. Ich habe es wohl nicht mehr, bewahre jetzt alles Nötige im Institut auf, für den Hausgebrauch hat meine Frau eine sogenannte Familienapotheke, bestehend ausschließlich aus einer Unmenge Tees. Damals ...«

»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, aber es wäre für mich doch wertvoll zu wissen, ob und wie das Schränkchen verschlossen war. Gerade wenn wir jetzt immer daran denken wollen, daß es ein kokainsüchtiger, also ein unnatürlichen Gifteinwirkungen unterworfener Mensch ist, um den es geht, wäre es erstklassig, zu wissen, ob er, wie soll ich sagen, auch die Technik des Berufsverbrechers, der nur davon und dafür lebt, besessen hat?«

»Verbrechertechnik? Nein! Das kann ich mir aber absolut nicht vorstellen. Weshalb hätte er zu solchen Methoden greifen sollen? Ihm stand ja alles offen.«

»Alles, nur das Kästchen nicht, in welchem nach Ihrer Angabe keine Gifte waren, wo er aber solche vermutete! Doktor! Sie sind noch nicht dort, wo ich Sie haben möchte, und ich hatte mich so darauf gefreut, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Aber so geht es nicht! Nein, leider nein! Entweder wir sagen beide alles, was die Sache klärt, oder Sie entschlagen sich in aller Seelenruhe der Aussage, was Ihr gesetzliches Recht ist und was Ihnen niemand verübeln wird. Und ich zu allerletzt! Warum sollte ich Sie nicht verstehen? Meines Erachtens nützen Sie aber der Sache und damit dem armen, jungen Kerl viel mehr, wenn Sie frei von der Leber weg sprechen. Aber es soll nicht heißen, daß ich eine Pression auf Sie ausgeübt habe. Sehen Sie, es sind da überall, in allen drei Komplexen Dinge, die einen Berufsverbrecher kennzeichnen, und es kann ja auch ein Berufsverbrecher Kokainist sein. Zum Beispiel heute nacht sichert sich der junge Mensch, als er seine Visite bei dem Hauptbelastungszeugen in Komplex I, Manfred, genannt Chiffon, macht, durch einen Stecker in der Haustüre, Ihnen brauche ich nicht zu sagen, was das ist. Aber übergehen wir diesen Punkt, der Ihnen peinlich zu sein scheint, und kommen wir zu Ihrer Begegnung mit dem jungen Menschen vor dem – auf mysteriöse Weise – geöffneten Medikamentenschränkchen.«

»Ich erinnere mich jetzt genau, es muß im Frühherbst 1923 gewesen sein, ich kam frühzeitig heim, weil der Dollar wie durch ein Wunder des Himmels an diesem Tage gefallen war und meine Braut mir den Rat gegeben hatte, den Rest unseres Vermögens, nämlich vorzeitig zurückgezahlte Hypotheken, in deutschen Aktien anzulegen. Auf diesen Rat hin haben wir etwas gerettet, dreihundert Billionen, allerdings nur einen Bruchteil dessen, was wir hatten. Denn es waren Schlußbillionen, nicht Anfangsbillionen. Ich kam von der Bank, die damals bis sechs Uhr geöffnet war, gegen halb sieben Uhr nach Haus in das Arbeitszimmer und sah, wie mein Bruder auf der Erde hockte, das Kästchen zwischen den Knien, und in den Sachen herumwühlte. Ich versuchte vergebens, es ihm fortzunehmen, wir kamen in ein Handgemenge, unser altes Dienstmädchen rannte auf das Gepolter herbei. Er, als großer, bärenstarker Mensch, wurde mit uns beiden in zwei Sekunden fertig, er hatte viel mehr Kraft als sieben Leute unseres Kalibers, das alte Mädchen stand heulend und maulend auf, er hatte einen seiner Griffe gemacht, ein sekundenlanger Schmerz, sofortige Wehrlosigkeit, aber er tat es nicht aus bösem Willen, eher instinktiv, weil wir ihn eben etwas gestört hatten. Er selbst war in einer furchtbaren Verfassung. Kaum waren wir allein, als er mich begütigte, mich streichelte, mir gute Worte gab. Dabei lachte er so reizend zaghaft, er schüttelte seine Mähne. Und mit einem Schlag begann er zu weinen, er faßte mich unter den Achseln, hob mich in den alten Ohrenstuhl, setzte sich auf die Lehne, nahm meine beiden Hände in seine Hand und wischte sich so mit drei Händen, meinen beiden und einer von ihm, die Tränen aus dem Gesicht und begann zu erzählen, daß er den Schnee oder den Koks vor einigen Wochen durch eine gute Empfehlung kennengelernt habe. Ich sagte ihm, ›nenn mir den Namen!‹ Er schweigt. Es könnte ihm nur ein Todfeind, sage ich ihm in allem Ernst, dieses furchtbare Gift, das nach kurzer Zeit Seele und Körper zerfrißt, in die Hand gegeben haben. ›Quatsch! Bruderherz!‹ sagte er. ›Sieh mich nur mal an!‹ er zog sich aus, ließ seine Muskeln spielen. ›Du kennst mich ja! Du hast mich im November 1918 ausgezogen gesehen! Nun sag, bin ich zerfressen, hat es mich zerfressen?‹ und lachte. ›Nein, ich bin erst seit dieser Zeit ein Mensch, Vera ist dann bei mir, sie sitzt in einem Fauteuil, so! Ich halte ihre weichen Patschen, wie ich deine Hände halte, Herzensbruder, aber wir weinen nicht, wir lachen! Laß dir sagen, eine halbe Stunde haben wir oft gelacht, dann ist man wie tot, aber wie schön tot! Das kennt ihr anderen nicht! Es ist nicht der blöde Rausch von Wein und Schnaps, kein Krach! Alles Seele! Wir sind ja ruhig, wir wissen alles, alles ist wasserklar, das ist Frieden. Wir sind ja ganz anders, ihr müßt das auch haben, Flossielein und du! Nein, vielleicht ihr nicht, aber für uns ist es der Himmel, wie er leibt und lebt. Wir atmen im gleichen Takt, das ist eine große Kunst, das ist nur möglich bei Menschen, die sich wie die Verklärten lieben, und sie gibt mir meinen Schnee, und ich gebe ihr ihren, und das, was wir sonst nicht können, das können wir jetzt, wenn du nur wüßtest, Bruder, wie es dann in mir ist, ich bin in allen Himmeln, phantastisch glücklich, so still vergnügt und ruhig bis ins innerste Herz, ich hätte nie geglaubt, daß es ein solches Glück geben kann. Was ist dagegen die öde Knutscherei und die Schweinerei im Bett? Das kann nichts Ähnliches sein, und ich fühle mich nachher immer stärker, und wir sind ein Herz und eine Seele.‹ – ›Und wenn es so ist, weshalb bleibt sie nicht bei dir?‹ fragte ich, er war wie berauscht, und dabei sprach er klar, so kannte ich ihn noch gar nicht. ›Es wäre ja alles möglich‹, sagte ich, ›wenn ihr heiraten wolltet, ich und dein Freund würden schon für einen Anfang sorgen, wenn ihr erst mal von dem kindischen Zeug die Hände laßt.‹ – ›Welcher Freund?‹ fragte er und zog sich an. Auf einmal war er wieder auf der Erde, ich weiß nicht wieso, ›Rosenfinger? Ach der! Den nennst du ›Freund‹?, Bruder, der ist ja schuld an allem. Bevor der mit Kies herausrückt, was muß ich da nicht alles aufführen, das reinste Affentheater! Er läßt mich kommen, leckt an meinen Händen, schweigt, klimpert mit den Goldpfunden in der Hosentasche und himmelt mich an. Und weshalb sie nicht bei mir bleibt, meine Vera? Weil ihr Manfred die süßen Sachen hinter Verschluß hat, einen ganzen Schneehaufen hat er, der blaßgesichtige Schuft, bei den Pfändern in seinem Kassenschrank, und damit hält er sie, denn sie kann nicht los, und dann vergewaltigt er sie, er kennt kein Erbarmen. Kannst denn nicht du es mir verschreiben? Ich brauche ja nicht viel, ein zehntel Gramm täglich‹, sagte der arme Kerl, ›ist ja nur eine Messerspitze, auf zwei-, dreimal verteilt. Ich kann sparen und will es. Damit kann man hundert Jahre alt werden, und das wollen wir gar nicht, Vera nicht und ich nicht, nicht einmal fünfzig, ja vielleicht beide zusammen fünfzig. Also bekomm' ich ein wenig Koks von dir?‹ – ›Nein‹, sagte ich, ›davon kann keine Rede sein. Du verlierst deine Zeit. Nein!‹ – ›Ist das dein letztes Wort?‹ fragte er und war schon an der Tür mit seinen langen Schritten, ›in der Bude hier habt ihr es hundsmäßig kalt, da ist es noch bei dem alten Knacker besser, der hat kein so hartes Herz wie du, immer korrekt, immer das Oberhemd gestärkt, nichts Warmes dahinter, immer nur korrekt.‹

Ich wollte weitersprechen, ihm sagen, was ihm droht, er hörte nicht mehr zu, schon war er draußen, und ich hörte ihn mit unserem alten Dienstmädchen dalbern, und das doofe Stück lachte und gluckste, als wäre nichts geschehen; das ist sein Geheimnis, wie er das mit den Menschen macht, sie kam nach einer Weile selig lächelnd zu mir herein, als käme sie von der Hochzeit, er hatte sie herumgekriegt, sie war auf seiner Seite, und mich sah sie schief an. Sie bückte sich und sammelte die verschiedenen Pulver und Fläschchen vom Boden auf und sah mich jedesmal bitterböse an, als hätte ich es in der Hand, dem armen Rudolf sein Tränklein zu geben, und wolle es nur nicht.«

»Und Sie waren sicher, daß er doch Kokain bekommt?«

»Gewiß, es wurde ja in allen Cafés, meist in der Damentoilette, verkauft, hatte seinen Kurs wie schwarze Devisen. Ich gab ihm kein Geld. Ohne Geld würde ihm, wie ich annahm, Manfred kein Kokain zukommen lassen. Das ist doch klar? So mußte es der Makler sein, dem er Geld dazu verdankte, und ich entschloß mich trotz starken Widerstrebens dazu, den alten Mann aufzusuchen. Ich habe die Hände nicht in den Schoß gelegt, Herr Staatsanwalt! Mein erster Weg war der zu Zollikofer. Ich habe das in meiner ersten Vernehmung im Jahre 1923 kurz zu Protokoll geben können.«

»Wir können es immerhin rekapitulieren. Heute sieht man manches anders.«

»Es war im Herbst 1923. Ich kam in die große, protzig eingerichtete Wohnung des Herrn Zollikofer, es war an dem Tage schon recht kalt, in dem riesigen Arbeitszimmer war der Schreibtisch zum Kamin gerückt, und vor dem Kamin war ein kleiner Gasofen. Offenbar wollte oder konnte er mangels Dienstpersonals das große Haus nicht beheizen, oder er fand es bei dem kleinen, glitzernden Kupferding, bei den vielen, winzigen Flammen in einer Reihe, für seine werte Person behaglicher. Ich sah den Mann zum erstenmal aus der Nähe. Er roch nach Rosen und Verwesung.«

»Erstklassig, wunderbar gesagt, Doktor! Aber doch nur jetzt, in der Erinnerung?« fragte der Richter lächelnd. »So etwas klingt ja zu schön.«

»Nein, ich hatte schon damals einen ziemlichen Abscheu gegen ihn, ich reichte ihm nicht die Hand. Auch ich muß ihm nicht sehr sympathisch erschienen sein, er maß mich mit seinen schleimigen Blicken, verglich mich wohl in Gedanken mit meinem Bruder, dem ich nicht sehr ähnlich sehe. Er war – wie soll ich sagen – von Indigestionen befallen, allerhand unappetitliche Geräusche waren zu hören, und wenn er rülpste, sprach er sich an und drohte seinem Magen neckisch mit seinem kleinen Finger. Diesen Finger mit dem brillant gelackten, langen Nagel, auch er mit einem großen Edelsteinring geschmückt, den mußte er besonders in sein Herz geschlossen haben. Das Telephon kam nicht zur Ruhe, zehnmal in einer halben Stunde wurde er angerufen, es handelte sich unter anderem um eine riesige Transaktion, bei der hunderttausend Dollar und eine Viertelmillion Schweizer Franken eine Rolle spielten und das in einer Zeit, wo ein Ausländer für fünf Dollar ein Haus hier kaufen konnte, ich weiß es, denn für unser Haus wurde mir diese Summe, umgerechnet in deutsches Geld, geboten, da jonglierte dieser affektierte, geschniegelte Greis mit diesen Riesensummen, trat von einem Fuß auf den andern, seine Opanken knarrten dabei, solches Zeug trug er damals, und lutschte in widerwärtig süßlicher Weise an seinem kleinen, rosenroten Finger. Nachher wischte er das Fingerchen an seinem Batisttaschentuch ab, einem reichgestickten Schweizer Kavaliertüchelchen, wie es die Portokassenlebemänner damals in den Tanzdielen trugen. Auf der Schreibtischplatte und auch unter den zwei Telephonapparaten aus Elfenbein mit goldgefaßten Handgriffen lag dicker Staub, überall, wo man hinsah, lag Staub. Ich bezwang mich, ich sprach zu ihm, als wäre er wirklich ein väterlicher Freund meines Bruders gewesen. Ich weiß nicht, tat ich ihm unrecht? Er war ganz verstört, als ich ihm sagte, daß er mit seinem Geld dem armen, jungen Teufel die Mittel gäbe, sich vollständig zugrunde zu richten. Er sagte mir, während er auf einmal in seinem schweren, geschnitzten Lehnstuhl aus wappengeprägtem Leder zusammensackte, mit käsebleichem Gesicht, wobei auch sein widerwärtiger Fingernagel erblaßte, daß er niemals Rudolf Geld für solche Zwecke gegeben habe und niemals, auf Ehre! geben würde, er habe ihm vor einigen Tagen das bare Geld, das heißt Devisen oder Geld überhaupt verweigert und sei auf alle Bitten hart geblieben, selbst auf die Drohung Rudolfs, er werde wieder ziehen, das heißt, wie schon mehr als einmal wandern, und ihn, den alten Mann, allein lassen. Nun hatte der alte Mann Angst vor – nicht vor dem Tod –, nur vor dem Sterben. Er wollte, daß, wenn er soweit sei, sein junger Freund bei ihm wäre. Was sollte er tun, wenn der inzwischen auf der Landstraße lag oder sonst irgendwo im weiten Land, ohne erreichbar zu sein? Und doch hatte der alte Rosenfinger ihm nein gesagt, und mein armer Bruder war nicht wiedergekommen. Er habe geglaubt, ich, die Familie, vor der er alle Achtung habe, und er verbeugte sich aus seinem knarrenden Lehnstuhl heraus, stünden dahinter, aber jetzt sähe er ein, er habe mir unrecht getan. Er fing an zu flennen, die Tränen kamen rosenrot auf seinem Hemdkragen an, denn der alte Bursche war geschminkt. Mich empört es, daß er mein Mitleid in Anspruch nahm. Ich weiß nicht, wieso es kam, je mehr ich ihn verstand, desto widerwärtiger wurde mir das lebensgierige Subjekt. ›Sie haben gehört, wie gut ich noch verdiene‹, sagte er mit zittriger Stimme, und auch dies Zittern empörte mich, es stieß mich ab, mehr, als ich sagen kann, ›alles kann ich mir für mein Geld kaufen, wozu bin ich vielfacher Millionär in Rentenmark, der besten und modernsten Währung?‹ Diese Rentenmark, oder waren es Roggenscheine auf Goldbasis, dieses Geld war damals etwas Neues, niemand glaubte so recht an sie, aber der Makler hatte sich schon darauf umgestellt und arbeitete wieder in winzigen Beträgen, eine Million, ein Millionär, was war das damals, wo ein Habenichts mit dreihundert Billionen, also dreihunderttausend Milliarden, jede Milliarde zu tausend Millionen – was soll ich Ihnen das aufzählen? ›Alles kaufe ich mir für mein Geld‹, kam es aus dem feudalen Wappenstuhl heraus, ›nur Jugend nicht, ich bin heute über siebenundsechzigundeinhalb Jahre alt, und Gesundheit nicht, ich habe hundertneunundachtzig Blutdruck, daher die roten Hände, und doch eiskalt, und muß mich hier am Metallöfchen wärmen wie zu Lebzeiten meiner Frau – und wer spricht zu mir, wenn ich allein bin? Mein Magen, der Schuft, und mal kommen auch Manfred oder Steffie vorbei. Ich mag sie aber jetzt nicht mehr. Was kaufe ich also für Geld? Wieder Geld! Liebe steht auf keinem Kurszettel, und ich hab' es mit Ihrem jungen Fohlen gut gemeint. Aber er! Aber er!‹ Er schwieg und sah mich mit einem hündischen Blick aus seinen Greisenaugen an, als wolle er sagen: Bring mir ihn, bring mir ihn, und du sollst haben, was du willst! Er war im Begriffe, sich auszusprechen. Er war sehr allein in seinem großen, dunklen, überladenen, eiskalten Haus. Mit meinem Bruder und noch viel weniger mit dem Gelichter, das er mit seinem Geld, wie ein Kuhfladen in der Sonne die Schmeißfliegen, herlockte, konnte er nicht sprechen. Anhänglichkeit konnte er von ihnen allen nicht erwarten, ich sah wohl, daß er verzweifelt war und daß er in mir, wie soll ich sagen, eine gleichgestimmte Seele zu finden glaubte. Aber er stieß mich ab, genau wie er alle andern abstieß, niemand wollte etwas von ihm persönlich. So waren auch die Telephongespräche. Ich schüttelte nur den Kopf und ging, er wollte mich aber nicht so schnell loslassen, er wollte mir etwas anbieten, Zigarren und Kognak vielleicht, ich konnte die Luft nicht ertragen, wenn er da duftgeschwängert und widerlich geleckt zu mir trat, die braune Zigarrenschachtel mit dicken Importen in den Brillantenhänden und jetzt wieder von seinem Rülpsfränzchen geplagt, das sich nicht beruhigen wollte. Ich rannte wie gehetzt über die Treppe, das Telephon läutete, aber er ließ es läuten und rief mir nach: ›Werden Sie nie sehr alt!‹ und wartete, ob ich auf diese Weisheit etwas sagen würde. Und doch hätte ich bleiben sollen, vielleicht wäre alles anders geworden, ich weiß es nicht. Wir hätten den Jungen internieren müssen, entmündigen, vielleicht ›Waldfrieden‹, genauso wie die alte Dame.«

»Schön! Sehr schön! Das, was Sie erzählen, gibt immerhin einen gewissen Einblick in die Situation. Demzufolge halten Sie es also nicht für möglich, daß er sich das bare Geld, Devisen oder Gold, für das Kokain auf andere als auf rauhe Weise von dem alten Tappergreis hätte verschaffen können?«

»Ganz ausgeschlossen. Für Kokain hätte der alte Mann weder auf rauhe noch auf milde Weise mit Geld herausgerückt. Das wußte Rudolf. Geld an sich hätte er stets in so gut wie unbeschränktem Maße von dem Alten haben können. Zollikofer war bei seinen Freunden nicht knickerig, nur seinem Personal gegenüber, er warf mit dem Geld herum, er überschüttete meinen Bruder mit den wertvollsten Geschenken, die rosarote Perle in der Schlipsnadel, von der auch einmal die Rede war, war sicher ein Geschenk. Mein Bruder sagte mal: ›Was soll mich in die Tretmühle stoßen? Wozu soll ich arbeiten? Warum soll ich zehn Stunden am Tage mich abrackern und mir die Knochen abschinden, wenn Geld so ein Dreck ist?‹ Er verachtete das Geld.«

»Das Geld? Nein, die Arbeit verachtete er«, sagte der Richter. »Bis jetzt ist aus allem, was Sie sagen, nur das eine ganz klargeworden: daß der Weg zu dem Kokain – und dieses Gift war ihm das einzige Lebensbedürfnis – nur über die Leiche des alten Herrn ging.«

»Zu richtiger Gewalt hätte er aber nie greifen müssen. Daß er des Geldes wegen die Waffe auf den alten Mann anlegte, halte ich für außer aller Wahrscheinlichkeit. So standen sie nicht!«

»Das heißt nur, daß Sie es nicht so sehen. Geben Sie aber zu, daß Sie manches, was leider Tatsache ist, auch nicht vorausgesehen haben? Nun, sei es, wie es sei. Nun aber eine andere Möglichkeit, nur eine Konjunktur, eine psychologische Konstruktion. Sie sagen selbst, daß der alte Mensch mit seinen kuhwarmen Gefühlen eine abstoßende Figur war. Könnte es nicht sein, daß solch ein Mensch, lebensgierig nennen Sie ihn, sich wie ein Vampir auf den jungen, schönen, haltlosen Menschen stürzt, daß er sich an ihm festsaugt, daß er ihn mit Liebesanträgen und scheußlichen Zudringlichkeiten verfolgt. Und als der komische Alte ihm gar zu innig auf die Pelle rückt, da hat der komische Junge zufällig seine Waffe bei der Hand. Nicht einmal zufällig, sondern pflichtgemäß, weil der Alte sie ihm ja gekauft hat und Rudolf sie immer bei sich tragen soll. Und es wäre doch möglich, daß da einen Augenblick lang so eine Art Zweikampf stattfindet, ganz ähnlich wie zwischen ihm und Ihnen und Ihrem alten Hausfaktotum, und daß da die Kugel vorzeitig losgeht und unseligerweise eine tödliche Stelle trifft?«

»Ausgeschlossen! Ganz und gar unmöglich! Was der alte Herr wollte, war etwas ganz anderes und mußte es aus einem bestimmten Grunde sein. Mein Bruder hat niemals anders geliebt, soviel ich weiß, als so, wie er es mir damals erzählt hat. Niemals hat er eine richtige sexuelle Beziehung gehabt, weder zu einem Mann noch zu einer Frau. Das weiß ich ganz sicher.«

»Das ist etwas ganz Neues. Das klingt ja zu schön! Geradezu märchenhaft. Oder sehen Sie es bloß so, als Bruder, als braver Ehemann, als solider Mensch? Nein! Nie? Auch mit Vera nicht?«

»Mit Vera erst recht nicht. Er nannte es ja ›verklärt‹. Er schämte sich zu sagen, wie es die andern nannten. In diesem Punkte glaube ich ihm. Und auch Sie müssen ihm glauben, bitte, wenn er sagte, daß sie wie zwei Kinder nebeneinander gesessen seien und nach ihrer Art auch glücklich, nein, ›phantastisch glücklich und still vergnügt‹ gewesen sind. Ihm war es genug. Vera nicht. Deshalb konnte er das junge, sinnliche Ding nicht halten. Und wenn es ihm doch nicht genug war, wanderte er, ›er zog‹.«

»Sonderbar! Aber es wäre schließlich doch möglich bei den jungen Menschen. Da sieht man auch jetzt oft ganz seltsame Verbindungen. Aber daß der Alte nicht etwas für sein Geld haben wollte?«

»Und doch ist es so. Nichts Greifbares. Nichts Strafbares. Von einem Rudolf nie. Es mag vorgekommen sein, daß der Alte dem jungen Mann manchmal die Hand geküßt hat, das entspricht dem süßlichen Wesen des Rosenfinger, und man sieht es auch bei anderen älteren Herren, die ihren jungen Freunden voller Demut und Idealismus und Schönheitsanbetung zu Füßen liegen und sich mit dem Anhimmeln begnügen. Hier bin ich fest überzeugt, daß nichts anderes vorgefallen ist.«

»Und Rosenfinger verlangte auch nichts als das? Ihm genügte das?« »Er wollte, daß mein Bruder bleibe, das war alles.«

»Und das wollte Rudolf nicht?«

»Er konnte es nicht. Er mußte ziehen.«

»Ja, das ist von großer Wichtigkeit, dieses Wandern spielt ja unbedingt eine Riesenrolle in seinem Leben. Aber bevor ich Sie um nähere Auskunft darüber bitte, wissen Sie vielleicht, durch wen Rudolf Unterricht im Jiu-Jitsu erhalten hat?«

»Ja, ich weiß es. Durch einen früheren Offizier, der so ähnlich wie Stefan oder Stefani heißt.«

»Steffie wohl? Aber mein liebster Doktor, nein, kein ehemaliger Offizier, alles eher als das. Will dem edlen Herrn nicht zu nahe treten, es waren sicher famose Dienste, die er geleistet hat, aber er war nur Beamter oder nicht einmal Beamter, sagen wir, ein regelmäßig besoldeter Agent des Landesverteidigungs-Ministeriums, in besonderen Angelegenheiten, delikaten Missionen ... etc. Und von wem hat er schießen gelernt? Noch von seiner kurzen Ausbildungszeit hier bei den Königsjägern? Oder doch wohl auch von diesem Steffie? Jedenfalls ein erstklassiger Lehrer und ein begabter Schüler, denn schießen kann der Junge. Er mag es in O. S. und gegen verschiedene Lümmels im Industrierevier und bei Halle auch geübt haben. Sie haben recht, ›Landsknecht‹ ist zu scharf; aber dies nur so nebenbei. Sie erlauben doch, daß ich mir jetzt ein paar Notizen mache, es ist doch sehr aufschlußreich, was ich durch Sie erfahre. Kein formelles Verhör, versteht sich, versteht sich, nur Hinweise, das hat für uns drei, Ihren Rudolf, Sie und mich große Wichtigkeit. Also, seit wann besteht dieser Wandertrieb?«

»Seit 1915. Zum erstenmal rückte er nach einer furchtbaren Nacht aus, Sie erinnern sich, man hat es Ihnen sicher ins Feld geschrieben, oder nein, das war ja verboten, Briefzensur, beim ersten Fliegerangriff. Er war bis dahin immer couragiert, eher zuviel als zuwenig, ein frischer, gesunder Bengel wie alle anderen, denke ich. In dieser Nacht kam etwas absolut Unverständliches über ihn. Der arme Kerl jagte wie von tausend Teufeln gehetzt in der Wohnung umher, rüttelte an allen Türschlössern, ruhte nicht eher, als bis wir ihm, mitten im ärgsten Getöse, während die Flieger in den dunklen Wolken herumsurrten und ihre Bomben schon da und dort im Fabriksviertel explodierten und man überall die Lichter gelöscht hatte, als bis wir ihm also alle Türen vom Entree bis zum Haustor und zur Gartentür geöffnet hatten. Wir hatten Angst um Mutter, die in die Ignatiuskirche geflüchtet war, in der richtigen Annahme, die Kirche würde jetzt geöffnet werden. Wir anderen waren im Keller. Mein Bruder sagte: ›Wo ist sie denn, die Mutter? Wir fallen, und sie frömmelt!‹ Am unbefangensten war meine kleine Schwester, sie ahnte nichts, das Knallen machte ihr Spaß. Auch mein Vater hatte seine Kaltblütigkeit nicht verloren, ihm gelang es auch, meinen Bruder zu beruhigen. Es schien wenigstens so. Aber als wir am nächsten Tag beim Mittagbrot beisammensaßen, fehlte er, er war fort. Er hatte keine Zeile hinterlassen. Meine Mutter litt furchtbar, vielleicht war das der Beginn ihrer Depression, aber sie hatte einen sehr festen Charakter, sie überarbeitete alles. Arbeit und Kirchenandacht, das war ihr Widerstand. Sie zeigte ihren Kummer nicht. Mein Vater erstattete die Abgängigkeitserklärung bei der Polizei. Wir hörten drei und eine halbe Woche nichts von dem Jungen, dann tauchte er wieder auf, gesund und als ob nichts gewesen wäre. Er ging wieder auf die Schule. Er war das Sorgenkind des Oberlehrers, aber er wurde nicht relegiert. Man ging zur Tagesordnung über. Wo er gewesen war, wovon er gelebt hatte, was ihn fortgetrieben hatte, mein Vater wußte es vielleicht, wir wußten es nicht. Gegen eine ärztliche Untersuchung sträubte sich der Junge, wozu auch, die Sache war klar, mein Vater hielt es für eine Pubertätserscheinung, durch die furchtbare Angst in der Nacht ausgelöst. Ein anderer hätte auch eine andere Art der Erziehung in Angriff nehmen können, Fürsorge oder ein Sanatorium für psychisch belastete Kinder, aber mein Vater dachte nicht daran. Er verstand es, mit dem Jungen umzugehen, er hielt ihn fest, der Junge benahm sich tadellos, und solange der alte Herr hier war im Hinterland, hielt sich der Junge kreuzbrav. Er hatte in der Schule in zwei Wochen wieder alles nachgeholt, seine Zeugnisse aus dieser Zeit waren die besten. Mein Vater ging dann ab ins Feld, in dieser Zeit ist der Junge wieder ein- oder zweimal ausgerückt. Wir mußten es dem alten Herrn schreiben. Stets kam Rudolf freiwillig zurück, nie hatte er mit der Polizei Anstände. Wo er gewesen war, verschwieg er.«

»Rückte er aus Angst vor einer Strafe aus? Wegen schlechter Zeugnisse? Wegen irgendwelcher Raufereien mit Schulkameraden?«

»Nein, durchaus nicht. In der Schule kam er immer noch gut mit. Man verlangte nicht zuviel, zumal wenn einer Kriegsfreiwilliger wurde wie er. Mit den Jungs balgte er sich nicht. Er muß bei diesen Wanderungen meist zu Fuß von Ort zu Ort gekommen sein, vielleicht, daß er mal hie und da einen vorüberfahrenden Bauern gebeten hat, ihn mitzunehmen. Er konnte auch kutschieren, hatte Tiere, besonders Pferde, sehr gern. Die Jahreszeit entschied nicht, einmal im Herbst, einmal im strengen Winter, einmal im Sommer, schlechtes Wetter war ihm egal, er kam nach der Winterreise ohne Frostbeulen, ohne Ungeziefer heim, im Sommer schien ihm dieses Leben geradezu gutzutun. Vielleicht hat er sich die Lebensmittel von den Bauern erbettelt, vielleicht auch mit Arbeit ausgeholfen. Installationsarbeiten konnte er gut verrichten, mit ein wenig Draht, Bindfaden und Isolierband und Blech, wie man es damals hatte, konnte er elektrische Leitungen, einfache landwirtschaftliche Maschinen in Ordnung bringen, oft waren damals große Höfe nur von Kriegerfrauen bewirtschaftet, da wurde er sicher mit großer Freude aufgenommen. Genaues haben wir, Mutter und ich, nie erfahren. Er sprach, er sprach sogar sehr viel, aber er antwortete nicht gern, Sie kennen ihn jetzt, er antwortet daneben. Einen gewissen Schönheitssinn hat er gewiß – große Naturliebe, die Natur, die Erde, der Wald, das Wasser –, das liegt ihm am Herzen, oft gab er uns Schilderungen der Landschaft, man sah sie förmlich zum Greifen nahe vor sich. Wenn wir ihn wiedersahen, fing für uns alle ein neues Leben an, ich kann es nicht anders ausdrücken. Wie hätten wir ihm Vorwürfe machen sollen? Wir waren dankbar, daß wir ihn wiederhatten. Er war sofort wieder heimisch, es brauchte keine langen Erklärungen, wir waren alle sofort wieder wie früher. Bei anderen Menschen hätte man sich an den Kopf gegriffen, bei ihm verstand ich alles, es war mir, als wäre ich es selbst gewesen.«

Der Richter antwortete nicht sofort, dann sagte er nebenbei: »Vielleicht haben Sie sich alle zu sehr in ihn eingefühlt. Ich will Ihnen aber ganz offen sagen, ich sehe hier zwei ganz verschiedene Rudolfe. Der junge Mensch, den Sie schildern, paßt mir in den Kreis der Chiffons, Steffies und Konsorten nicht hinein.«

Darauf antwortete Konrad nicht.


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