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VI.

Der Klubinhaber Manfred von G. hatte sich diesmal nicht wie sonst mit der telephonischen Benachrichtigung der Polizei begnügt, sondern war in seiner Eifersucht Rudolf D. und seiner Geliebten Vera nachgegangen und war aus sicherer Entfernung Zeuge der Straßenschlacht geworden. Als jetzt die Schüsse verklungen und die Polizeibeamten, ohne sich sofort ihres Kameraden anzunehmen, dem flüchtigen Rudolf im Laufschritt nachgeeilt waren, trippelte Manfred zu der vor Entsetzen wie versteinert dastehenden Vera, säuselte ihr: »Schrecklich, arme Maus, nicht?« zu, und jetzt wollte er sie mit sich ziehen, ohne sich um den schwerverwundeten, dumpf stöhnenden Polizisten zu kümmern. Als sie ihn mit wutverzerrtem, leichenblassem Gesicht zurückstieß, ließ er – »Gottverlassenes Geschöpf! Habe ich es nicht immer gut mit dir gemeint? Und mit ihm, dem Drehkopf, auch!« – von dem jungen Mädchen ab, grüßte ironisch durch Lüften seines Hutes die in ihrem Blute liegende Leiche und den schwerverwundeten, ohnmächtig und stumm gewordenen Polizisten, zündete eine Zigarette an und kehrte schleunigst in seinen Klub zurück.

Von den unverletzt gebliebenen Polizisten hatte der eine mit Steffie die Verfolgung Rudolfs und seiner Gesellschaft auf sich genommen, während der andere sich beeilte, vor allem sein Revier – Revier 4 – anzurufen. Er lief in eine nahegelegene Portiersloge einer Fabrikswerkstatt, deren Fenster erleuchtet waren, und versuchte sich telephonisch mit dem Revier in Verbindung zu setzen. Vergeblich. Die Leitung war, was er nicht wissen konnte und vielleicht auch nicht wissen sollte, vom Klub »Hera« aus besetzt. Manfred hing, wie schon mehr als einmal in dieser Unglücksnacht, am Telephon, und, sei es, daß es seine Absicht war, sei es, daß er in der Aufregung nicht anders konnte, er war jedenfalls wieder in sein altes, schauerliches Stottern geraten, und die Beamten vom Nachtdienst am anderen Ende der Leitung konnten sich aus seinem umständlichen, immer wieder abgebrochenen Gelabber kein rechtes Bild machen, um so weniger, als Chiffon immer wieder in seinen nüchternen Tatsachenbericht seine mit der Polizei von früher her vereinbarten Kennworte dazwischenschob.

Vielleicht wäre, indessen der Beamte nunmehr das Polizeipräsidium direkt anrief, ohne dort sofort an die richtige Instanz zu kommen, hier auf dem kleinen Platz bei dem Kiosk der arme Verwundete ebenso verblutet wie sein bemitleidenswerter Kamerad, wenn nicht wenigstens Vera zur Vernunft gekommen wäre. Mit beiden Knien, die bei der damaligen Mode der kurzen Röcke nur von dünnen Seidenstrümpfen bedeckt waren, kniete sie in der lauwarmen Blutlache neben dem Verletzten nieder. Es überrieselte sie glühend heiß und eisig kalt. Der keuchende, schnelle, stumme Atem des vor ihr Liegenden schlug ihr ins Gesicht. Die Augen des Ohnmächtigen waren nicht ganz geschlossen. Ihr war, als blicke er sie traurig, voller Furcht und Vorwürfe an, von Schmerzen gepeinigt, die sie nicht zu stillen vermochte. Die Vögel in den Bäumen waren still geworden. Nur ab und zu huschten sie, im Auffliegen einen fragenden, zirpenden Laut ausstoßend, durch die im Morgenwind sich wiegenden Zweige davon, um bald wiederzukehren.

Im Lichte des herandämmernden Morgens suchte Vera, als unter ihren Augen das Gesicht des Verwundeten bis zur Leichenfarbe verblaßte und die Blutlache immer mehr zunahm, nach dem Ursprung der Blutung. Sie tastete den warmen, schweren, muskulösen Körper ab und merkte nach wenigen Sekunden, wie das heiße Blut rhythmisch an der Innenseite des linken Oberschenkels, etwas über dem massigen Knie des nunmehr sich unruhig regenden, die Hände über dem Knie zusammenkrampfenden, mit zusammengepreßten Zähnen aufstöhnenden und die Augen weiter öffnenden Mannes hervorschoß. Noch aus dem Kurs, den sie während der letzten Kriegsjahre als ganz junges Mädchen in einer Samariterschule genommen hatte, entsann sich Vera der vorgeschriebenen Maßregeln.

Es wurde hell, die Sonne ging über dem stillen, sauberen Platze auf. Von den Glasscheiben des Kiosks her sah Vera die bunten, leeren Gesichter der Magazintitelbilder auf sich blicken, als sie sich hilfesuchend umwandte. Schauerlich war ihr die hart neben ihr auf dem Bauche liegende Leiche des Polizisten mit seinen sich in den Boden zwischen die Pflastersteine einkrallenden, blassen Fingern, aber sie faßte sich und suchte nach einem Gegenstand, um die Blutung des Verletzten abzubinden. Sie dachte an die Hosenträger des Verwundeten, die sich gut dazu eigneten. Diese aber von allen Knöpfen loszumachen erwies sich bei der Unruhe des armen Teufels für das schwache, in der Aufregung ungeschickte Geschöpf als unmöglich.

Zum Glück aber sah sie durch ihre Tränen plötzlich den ledernen Gurt des getöteten Polizisten vor sich, sie riß ihn unter ihm hervor, atmete tief auf und führte zitternd den warmen, an einer Stelle noch nassen Riemen oberhalb der Wunde um den Oberschenkel seines Kameraden zusammen. Sie brachte den Dorn in eines der Löcher, dann versuchte sie ihre beringten, schmalen Händchen zwischen dem Riemen und dem Kleiderstoff durchzustecken. Sofort sah sie ein, daß der Riemen noch nicht fest genug gezogen sei, und machte den Dorn mit aller Anstrengung schnell wieder los. Ihre Tränen störten sie. Sie schüttelte den Kopf, so daß die Tropfen fortstoben. Dann nahm sie noch einmal das Ende des Lederriemens in ihre bereits furchtbar ermüdete, wie gelähmte rechte Hand, das andere Ende in die linke, und nun beugte sie sich, um die Enden fest zusammenziehen zu können, mit zusammengebissenen Zähnen und mit einem vor körperlicher und seelischer Anspannung ganz verzerrten Gesicht über den Verwundeten. Er stöhnte lauter, kläglicher, preßte Lippen und Augenlider zusammen.

Plötzlich rief er leise, aber klar nach der Mutter. Der Blutfleck breitete sich zwar nicht mehr mit derselben rapiden Schnelligkeit unter ihm aus, aber noch wogte es in rhythmischen kleinen Stößen glucksend unter dem nassen Stoff. Während Vera ihre Schwäche mit der letzten Kraft unterdrückte, zog sie das eine Riemenende fest an sich und brachte den Dorn des Schlosses in die allerletzte Öffnung. Sie legte ihre Hand über die Wunde und merkte, daß die Blutung zum Glück jetzt vollständig aufgehört hatte. Jetzt erst dachte sie an ihren Rudolf, aber sie faßte keinen Gedanken klar, es wurde ihr nur bewußt, daß er verschwunden war, daß man nicht mehr hinter ihm herschoß. Daß sie ihn, ohne es zu wissen, geschützt hatte, hatte sie nicht bemerkt. Jetzt wünschte sie nur, daß sie beide retten könnte, den fliehenden Rudolf und den sich verblutenden Polizisten zu ihren Füßen. Und der andere da, der sich gar nicht mehr rührte? Er, Rudolf, hatte geschossen, und doch war es sicher nicht seine Absicht gewesen, er kannte ja die Polizisten nicht, und sonst war er immer so zart, so edel, so still, so gut gewesen! Er hatte sie nie berührt, vielleicht liebte er sie zu sehr !


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