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Bemerkungen zu den Tagebüchern und Briefen Franz Kafkas

Jeder, der Franz Kafka liebt und der das höchst merkwürdige Lebens- und Leidenswerk dieses magischen Dichters und trostlosen Menschen bejaht, muß seinem Freunde Max Brod von Herzen dankbar sein, denn ohne den Heroismus und die produktive Liebe Max Brods wären uns von Franz Kafka nur Fragmente von Fragmenten erhalten geblieben, während wir jetzt in den großen Romanen »Amerika«, »Das Schloß«, »Der Prozeß« wenigstens die Grundmauern eines ungeheuren Baues gerettet sehen vor den selbstzerstörerischen Trieben des Dichters, wobei immer noch unsicher ist, ob es die Grundmauern und Fundamente zu einem Schloß oder zu einer Chinesischen Mauer waren. Nun gräbt Brod als unermüdlicher Goldgräber auch die Tagebücher (nur einen Teil) und die Briefe (nur geringe Bruchstücke) aus dem Nachlasse des vor dreizehn Jahren gestorbenen Dichters hervor. Sie sind von brennendem Interesse für die Freunde des Verewigten, wichtig aber auch für jeden, der noch keine Zeile Kafkas gelesen hat, für den Psychologen, den Philosophen, ja selbst für den Psychiater. Von der Fülle und Tiefe der Erkenntnisse dieser Konfession, bei aller Enge des Horizontes, den Kafka selbst an einer Stelle mit einem Schacht vergleicht, wird der Leser vielleicht noch mehr ergriffen und gerührt werden als von den anderen Schöpfungen Kafkas, die wir kennen. Es ist ja in der Hauptsache immer wieder die Abrechnung, der Prozeß mit sich selbst: schwankend zwischen himmelhohem Schöpferglück, Schöpfungsfreude göttlicher Art – und der letzten erbärmlichen, weil tatenlosen Verzweiflung eines Menschen mit ungemessenen Gaben, mit großem Glück, über dem ein dunkler Stern steht. Hier mündet, vielleicht zum erstenmal ganz überzeugend und allgemeingültig, das rein persönliche, traurige, verlorene Prager Dasein Kafkas ein ins allgemein Menschliche, in das Ein Mensch wie du und ich.

Wir haben wahrscheinlich, um dem Rätsel dieses großen armen Mannes auch nur von außen ein Schrittlein näherzukommen, in ihm zuerst den armen Altösterreicher zu sehen. Wie Grillparzer krankt ein starker junger Mensch an der ironisch gefärbten Schwäche und der dämmenden Trägheit seines überalterten Vaterlandes. Wie Grillparzer ist er an eine Stadt gebunden, die er nicht liebt, an einen »amtlichen«, pensionsberechtigten, gebundenen, hierarchischen Beruf, den er nicht schätzt, aber mit Selbstaufopferung ausfüllt, wie Grillparzer liebt er und wird nicht zurückgestoßen. Im Gegenteil, man liebt ihn nur zu sehr, und doch kann er die Furcht, die schon zwischen seinen Lippen bebt, nicht fassen, und so wird die Liebe statt ewig nur öde und endlos. Allmählich beginnt sie säuerlich zu werden, bis plötzlich elementar der Ansturm des mutigen Ich gegen das siegreiche feige Ich beginnt in rasenden Selbstvorwürfen, in Reue und Selbsthaß, die sich bei Kafka zu dem herostratischen Wunsche steigern, sein Bestes, nämlich sein Werk zu vernichten. Zum Glück ist es ja das feige Ich, nicht das mutige wie bei Kleist und Gogol, das ihm dieses Kommando gibt: »Feuer! Ziel: Ich selbst!« Und so läßt er die Werke mit bösem Blick in einem Winkel des Schreibtisches gefangen liegen und verlangt vor seinem Tode vom Herzensfreunde deren Vernichtung, also eine Tat, deren er selbst nicht fähig gewesen ist. – Auch zu einem anderen großen Altösterreicher, zu Adalbert Stifter, dessen »Nachkommenschaften« Kafka sehr liebte, führen Brücken. Auch Stifter verdammt den »Hagestolz«, beide überschätzen in einem längst überholten Weltbilde den positiven Wert der Ehe »für das gemeine Wohlbefinden« und den ethischen Wert des Kindersegens. Daß die Ehe eine Aufgabe ist und nicht immer eine Idylle, wußte Stifter sehr wohl, er sagte es nur nicht, er konnte es nicht sagen, weil er an einer Hungersnot an Idealen dahinkümmerte, die auch Kafka mit ihm teilte. Das Ideal der Nation, ein Ersatzideal, sicherlich, aber doch eines, das heute fast alle Teile der bewohnten Erde aufregt und bis in die letzten Fasern mit heißem Blute erfüllt, das also zwar eng, aber doch lebensfähig ist, dieses Ideal der vergötterten, ja vergöttlichten Nation war in dem vielsprachigen, übernationalen, aber keineswegs internationalen Altösterreich weder einem Grillparzer noch einem Stifter oder Kafka zugänglich. Vielleicht sind alle drei in gewissem Sinne der alten Monarchie undankbar gewesen, denn dieses übernationale, gemäßigte, liberale, honette Staatswesen nahm zwar solche Erscheinungen wie die drei nicht liebevoll an seinen Busen, aber es ließ sie groß werden und gab ihnen Amt und Brot.

Dieses »bodenlose« Gefühl drückt Kafka herrlich aus in einer Tagebuchnotiz. »Es ist nicht Trägheit, böser Wille, Ungeschicklichkeit, ... welche mir alles mißlingen oder nicht einmal mißlingen lassen: Familienleben, Freundschaft, Ehe, Beruf, Literatur, sondern es ist der Mangel des Bodens, der Luft, des Gebotes. Diese zu schaffen ist meine Aufgabe ...« Und am Schluß der gleichen Notiz: »Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang ... Es ist ein Mandat. Ich kann meiner Natur nach nur ein Mandat übernehmen, das niemand mir gegeben hat. In diesem Widerspruch, immer nur in einem Widerspruch kann ich leben. Aber wohl jeder, denn lebend stirbt man nicht.« Er ist sich seiner herrlichen Gaben wohl bewußt, das will er sagen, wenn er von dem Mandat spricht. Er brannte in echter Flamme. Also hätte er auch leuchten sollen, und die vorangehende Flamme führt ja die irrenden Geschlechter durch die Wüste. Hat er es getan? Hat er versagt? Ist er Anfang, ist er Ende? Wir stehen seiner Erscheinung noch zu nahe.

Wenn man seine Stoffwahl, das Unheimliche in weitestem Sinne, betrachtet, möchte man ihn als eine Art Nachfahren E. T. A. Hoffmanns betrachten. Wie Hoffmann glaubt er an eine Vernunft und Gerechtigkeit des Himmels. Da aber in unserer grotesk komischen und blutig tragischen Welt sich Vernunft, und Gerechtigkeit nicht durchsetzen, muß ein Gegenprinzip, ein Gegengott, wie ich es nenne, wirksam sein, und das meiste in Hoffmanns Welt ist nichts als der mehr oder weniger siegreich durchgeführte Kampf zwischen guten Erzengeln und bösen Dämonen, von einer kräftigen und rührenden Musik begleitet. Hoffmann war ja denn auch ein guter Musikus, Kafka ist es nicht, von Musik gibt es in seinem Werke wohl kaum einen starken Widerhall. Trostlos nüchtern, grau in grau, und flach, trivial, wie der Teufel eben ist, die Tageswelt wiederzugeben, die in diesem Sinne nur die Trümmerstätte dieses unendlichen Kampfes zwischen Gut und Böse darstellt, dazu ist Kafka zu religiös und zu sehr Magier und Künstler. Er muß also tiefer graben und kommt so von selbst in den Schacht. Er spricht an jener Stelle von dem babylonischen Turm, der zu einem Schacht geworden ist. Beim Turm gibt es ein buntes lärmendes triviales Gewimmel, im Schachte Ist es beengend lau, das Wasser rauscht von ferne, das einzige, das man deutlich hört, ist das Schlagen und Zittern des einsamen Herzens, die Anklage des vereinsamten Ich. Dies ist das Granderlebnis Kafkas, und das Schloß ist eben doch nichts als die Mauer. Niemand kann sich den Herrn des »Schlosses«, nicht einmal den Dienern, kaum den Schuhputzern dieser Diener nähern, und doch hängt alles von dem Unsichtbaren Großen ab. Weshalb aber verbirgt sich das Unendlich Große, Unendlich Reine (Kafka glaubt daran, und das macht ihn zum religiösen, magischen Dichter) vor dem redlich suchenden Landesvermesser, das heißt vor dem Einzelmenschen, der die Grenzen abstecken will zwischen Hier und Dort? Es gibt nur zwei Antworten. Entweder existiert der Herr doch nicht, die Knechte sind die Herren, er ist immer auf Reisen, damit er nie Rechenschaft abzulegen braucht, oder aber das erbärmliche Ichlein ist unwürdig, von außen als Heimatloser, Zugereister, dem innersten Kreise zu nahen, es ist schuldig, es ist verurteilt, ohne es zu wissen. (Diese Kreise der Gottnähe entsprechen neuplatonischen Ideen.)

Zu dieser zweiten Lösung hat sich Kafka entschlossen, dies war seine Größe und sein Untergang. Bei Hoffmann, bei Dostojewski kann der Mensch, der Landvermesser, der die Kraft hat, Gott mit seinen Augen zu sehen, nicht zu ihm gelangen, weil er zu weltlich, zu sinnlich, begehrend wollüstig ist. Hört der arme große Sünder aber auf, so zu sein, ja kommt er auch nur so weit, um dies ernstlich zu wollen, so wie der große Urdilettant der Sünde, Faust, dann zeigt sich ihm, zwar nicht Gott in seiner ganzen Größe, aber doch ein Schimmer von Hoffnung, eine Ahnung von Frieden. Dies alles dringt niemals in Kafkas hermetischen Schacht, übersteigt nie die Chinesische Mauer, bohrt sich nie in das verwickelte unterirdische Gangwerk der allzu vorsichtigen geizigen Nagetiere. Kafka ist allein. Er ist einsam. Man liebt ihn, er hat herrliche Freunde, eine brave Familie, eine bezaubernde, reine und gütige Frau, die ihm gehören will und die er zehn Jahre lang ausschließlich mit Hoffnungen und Phantomen nährt – aber zu ihm dringt nichts. Weiß er es nicht? Er weiß es, und darin liegt seine tragische Schuld. »Alles ist Phantasie«, schreibt er, »die Familie, das Büro, die Freunde, die Straße, alles Phantasie, fernere und nähere, die Frau. Die nächste Wahrheit ist aber nur, daß du den Kopf gegen die Wände einer fenster- und türlosen Zelle drückst.« In der »Strafkolonie« läßt er einen Übeltäter auf die raffinierteste Weise sadistisch martern. Im »Prozeß« wird einem armen Teufel ebenfalls auf die hinterlistigste Weise, und immer mit einem Anschein von mephistophelischem Recht, nachgejagt. Immer wird verurteilt und nie Recht gesprochen, nie Gnade erteilt. Ja, wenn es wenigstens ein blutbefleckter Verbrecher wie in den »Elixieren des Teufels« oder im »Raskolnikow« wäre! Aber die Strafe ist da, das Verbrechen nicht. Selbst zum Verbrechen gehört nämlich eine Art Liebe, das heißt restlose Bejahung des Lebens. Sie ist dem trostlos ins Ich verbannten Dichter nicht gegeben. »Wie brauche ich das Alleinsein und wie verunreinigt mich jedes Gespräch«, schreibt er an den Herzensfreund.

Wir haben es mit einem Geist erster Ordnung zu tun. Es ist wahr, wenn er von sich sagt: »Ich habe einen starken Hammer«, aber ebensowahr, wenn er hinzufügt, »aber ich kann ihn nicht benützen, denn sein Schaft glüht.« An einer andern Stelle geht er noch grausamer mit sich ins Gericht: »Er frißt den Abfall vom eigenen Tisch«, so fürchterlich sieht Kafka sich an den glatten Wänden seines Schachtes gespiegelt! – »dadurch wird er zwar eine Weile satter als alle, verlernt aber, oben vom Tisch zu essen. Dadurch hört aber dann auch der Abfall auf.« Warum bricht er aber nicht los? Ist dieser Riesengeist nicht endlich stark und kalt und groß genug, den Teufel zu beschwören, ihm das Tintenfaß an den Kopf zu werfen, natürlich nicht, um Tintenflecken zu erzeugen, sondern um eine neue Schrift zu setzen? Mit Recht sagt Kafka von seiner Kunst: »Schreiben als Form des Gebetes«. Um diese Kraft aber zu verweltlichen, um sie zu »tun«, müßte er Mut haben. Er müßte sich gegen den Bösen empören, statt sich vor ihm dorthin zu verkriechen, wo die Welt am tiefsten und dunkelsten ist. Es ist merkwürdig und zeigt prophetisch, jahrzehntelang vorher in unsere heutige Zeit, wo Millionen der kultiviertesten oder doch zivilisiertesten Völker durchaus und absolut den Sinn und Geschmack an der Freiheit verloren haben, daß auch dieser erlesene männliche Geist die Freiheit nicht einmal vermißt. Nirgends h ort man das Schwerterklirren prometheischer Naturen gegen das stupide Wirken der blöden Natur, des blinden Schicksals; nirgends die gesunde tollkühne Empörung des Ich gegen das Muß. Er will die Freiheit nicht. Das heißt, er will keinen Ausgleich zwischen dem ungemessenen Streben des allzugierigen Ich und den Ansprüchen der Gemeinschaft – und noch weniger die Gnade. Nur die Strafe nimmt er an, ohne Diskussion. »Derjenige, der mit dem Leben nicht fertig wird, braucht die eine Hand, um die Verzweiflung über sein Schicksal ein wenig abzuwehren, mit der anderen Hand aber kann er eintragen, was er unter den Trümmern sieht, denn er sieht anderes und mehr als die anderen ... er ist doch tot bei Lebzeiten und der eigentliche Überlebende ... Das Glück bestand darin, daß die Strafe kam, und ich sie so frei, überzeugt und glücklich willkommen hieß, ein Anblick, der die Götter rühren mußte. Auch diese Rührung der Götter empfand ich fast bis zu Tränen.«

Gewiß und übergewiß! Dieser magische Genius sah mehr und anderes, tiefer, himmlischer und höllischer sah er als die andern. Aber was sah er zuletzt? Doch nur sich. Die Zeit ging an ihm vorbei. Wenigstens findet sich in der Summa dieser gewaltigen Selbstbekenntnisse nicht einmal eine Andeutung, daß er einmal durch die Zeitereignisse zum Zweifeln, durch seine Freunde oder die Geliebte von seinem Wege abgekommen wäre, daß er sich verirrt, wiedergefunden hätte. Nichts davon. Nichts als dieser schwarze Genius, Brust an Brust mit seiner Schuld. Das was dem braven trink- und musiklustigen E. T. A. Hoffmann im Verein seiner Kumpane die edle Frau Musica war, das ist dem asketischen, abweisenden, nach innen zu brennenden Kafka (Brände in luftarmen Schächten können ewig dauern) die eigene Schuld. Aber welche Schuld? Ein übergroßes Begehren nach den positiven Genüssen der Welt, nach dem Besitze der anderen ist es nicht. Neid und Eifersucht sind ihm fern. Nie wird das Gebot, das er suchen wollte, genannt oder erkannt. Es verbirgt sich, es spielt »Brüderlein, leih mir die Scher«, indem es sich hinter Bäumen oder Felsen versteckt und von hier aus höhnisch dem redlichen faustischen Sucher zukichert. Es ist ein mesquines Gebot, etwas wie ein alter mürrischer, ironischer altösterreicher Bürokrat, der mit dem demütigen Bittsteller frotzelnd spielt, ihn jahrelang hinzieht und ihn bis zu seinem Tode zum Narren hält. Kafka ist aber zwar demütig, aber kein Narr. Er ist luzid. Auch hier, in diesen aphoristischen Darstellungen ist unverkennbar die ungeheure Präzision, die Handgreiflichkeit seiner Vision. In dieser guten Götterkraft, nämlich die Gedanken fleisch- und bluthaft, die greifbare Welt aber geistig durchsichtig und symbolhaft zu machen, kann Kafka sich ruhig mit den größten Schriftstellern der neuern Zeit messen; hier ist ihm recht zu geben, wenn er von sich (schon früh) sagt: »Wenn ich wahllos einen Satz hinschreibe, ist er schon vollkommen.« Es fehlt also diesem kraftvollen und tiefen Deuter des Schleiergespinstes der Welt nicht an der Kraft, dieses mesquine Gespenst zur Ausweisleitung anzuhalten und es zu entlarven. Wüßte man, was das Gebot verbietet, dann bliebe doch etwas, das es erlaubt. (Es sei denn, es wäre ein Gebot wie das Hitlers den Juden gegenüber, das sagt, ich will euch wohl, meine Herren Juden, so sehr wohl, wie ihr es nur im Tode haben könnet, löscht euch aus, seid einmal so freundlich, was liegt euch daran, ändern könnt ihr euch nicht, ihr und wir können nicht zusammen leben!) Ja, vielleicht ist Kafkas Gebot doch etwas dieser Art. Etwas in ihm muß ihm wohl während der ganzen Zeit zugeflüstert haben, nicht, sich zu entwickeln, sondern sich zu zerstören, nicht, sich andern zu nähern, sondern auf sich selbst zu verzichten. Einmal schreibt er: »Womit entschuldige ich, daß ich heute noch nichts geschrieben habe? Mit nichts. Zumal meine Verfassung nicht die schlechteste ist. Ich habe immerfort eine Anrufung im Ohr: Kämest du doch, unsichtbares Gericht!« Es sitzt also, auch im engsten, von der Welt abgeschlossensten Räume, irgendwo im Schacht, eine Feme, ein unsichtbares Gericht, und niemand kann diesen Angeklagten ohne Anklageschrift, Franz Kafka, vor sich selbst retten. Wie gerne würde er fliehen. Die wenigen rührenden Stellen in seinem Bekenntnis (hier wie in den großen Arbeiten) zeigen immer, wie gern sich ein Mann wie er an die Brust eines Freundes lehnen, ihm vertrauen, ihn beschenken und erfreuen möchte! So erweist er sich denn auch hilfsbereit, voller sanfter und minuziöser Güte, wenn er, schon von der Tuberkulose gezeichnet, furchtbaren Träumen ausgeliefert, doch daran denkt, den Freunden Lebensmittelpakete, gute Butter zu senden, oder wenn er ihnen das bessere Bett am Ofen einräumt, sich mit einem im Winter ungeheizten Zimmer begnügen will. Wie lösen sich diese Widersprüche? Ein Mann, begabt, zu einer gewaltigen Menschenmenge zu sprechen, sie zu erfreuen, zu erhöhen! Und eingeschlossen in die bitterste Einzelhaft? Ein Mann, so weise, so ruhig tief, so besonnen, der die ganze Welt abwägt, der das unbekannte wie das bekannte Land vermessen könnte und möchte – und der doch von sich sagt: »Nur das Sinnlose bekam. Zutritt«? Vielleicht führt uns eine merkwürdige Stelle des Tagebuchs etwas näher an den wohl in seiner letzten Tragik nie ganz faßbaren Kern seiner inneren Zerklüftung. Es ist die Stelle, wo er beschreibt, wie er sich bei Rudolf Steiner anmeldet und ihm seine unselige, ausweglose Situation schildert. Hier spricht er auch von »hellseherischen Zuständen«. Was aber folgt, ist nicht die Antwort des Wundertäters, weder sein Zuraten noch sein Abraten, sondern eine minuziöse Beschreibung: des Nasenbohrens Steiners, »mit dem Taschentuch bis tief in die Nase hinein, einen Finger an jedem Nasenloch«. Also: Ein Ich kommt zu einem Mann, von dem man Wunder erhofft, ihm entblößt Kafka, wie später dem Lungenarzt, seine verdorrte Brust, was er sonst allen verbirgt, von ihm erwartet er Hilfe, Rat und Trost. Ein anderes Ich aber, gänzlich abgespalten von dem ersten, sitzt hämisch in der Ecke und fängt, freilich unvergeßbar scharf und präzis, die minderen Manieren des Wundertäters auf immer ein. Ich gebe zu, es bleibt. Vielleicht wird man in späterer Zeit (ich weiß es nicht) in Kafkas grandiosen Versuchen (die er ohne das Klima von Güte und Liebe seiner Freunde Max Brod, Oskar Baum, Felix Weltsch nie gewagt hätte), vielleicht wird man in dem mit unlösbaren Rätseln voll hoher Bedeutung angefüllten Werke Kafkas das Werk eines Mannes sehen, der von Anfang an gegen den Wahnsinn ankämpfte. Und mit Glück. Mit echtem Gelingen. Denn wenn er auch unvollendet, noch die Kelle und den Hammer in Händen, mitten in seinem Bau des Tempels oder des Zentralgefängnisses, gestorben ist, so ist er an der Wunde in der Brust und nicht an der Wunde im Geiste gestorben. Er hat über den Wahnsinn gesiegt, mit jedem Tage seines unvorstellbar schweren Lebens hat er der Klarheit Raum gegeben gegen die Verwirrung. Vielleicht wird in diesem Sinn sein Werk späteren Geschlechtern ein Symbol sein für die wahren »Überlebenden« dieser Zeit.


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