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Ein Wort zu Wedekinds »Schloss Wetterstein«

Eigenartig, nicht minder durch das, was sie aussprechen, als durch das, was sie verschweigen, sind die Worte, die Wedekind der Buchausgabe von »Schloß Wetterstein« vorausschickt: »Das Schauspiel ›Schloß Wetterstein‹ enthält meine Anschauungen über die inneren Notwendigkeiten, auf denen Ehe und Familie beruhen. Das Stoffliche, die Geschehnisse, der Gang der Handlung sind dabei vollkommen Nebensache. In ihrer Abenteuerlichkeit waren sie durch die weiten Grenzen und die Bewegungsfreiheit bedingt, die ich nötig hatte, um meinen Anschauungen Platz zu schaffen. Wichtiger waren mir dramatische Steigerungen, Bühnenwirksamkeit. Zensurverbote dieses Schauspiels werden mich nicht überraschen, da sie nur eine logisch bedingte Begleiterscheinung der notorischen Gleichgültigkeit und Stumpfheit sind, die unser ganzes öffentliches Leben kennzeichnen.«

Erlösend wirkt die große Tragödie nicht durch Furcht oder Mitleid, sondern vielmehr durch das Gefühl der freiesten Fülle. Tod sei kein Zwang, sondern ersehnte Wahl. Die Gestalten sinken nicht verdorrend in das All-Gemeine des Schicksals, sondern sie entzünden sich am Untergang, nicht, weil sie nicht mehr weiterleben können, sondern weil sie nicht weiter leben können.

Das ist kein Wortspiel. Wie sehr Wedekind seiner Zeit voraus war, ergibt jeder Vergleich mit seinen erfolgreichen Zeitgenossen, dem älteren Ibsen, dem jüngeren Hauptmann, dem damals noch unverbrauchten Schnitzler. Denen war das noch Problem, was Wedekind längst Voraussetzung geworden war. Das Lebensgefühl, der élan vital ist bei Wedekind keine Frage, der Dichter hat nicht das mindeste Mitleid mit denen, die für ihren inneren Gehalt nicht die völlig adäquat äußere Gestalt finden können, das heißt: den Mut zu sich. Dies ist nicht die Tragödie, doch ihre Vorbedingung, so wie Sprache die Vorbedingung für Aussprache ist. Wedekind setzt Menschen in die Welt, die für diese ihre Welt ein Gegensatz sind; aber sie sind nicht Gegensätze in sich selbst. Damit ist das Problem Hamlet verlassen, es öffnet sich die Welt Richards des Dritten, und, in anderem Sinne, die Welt Romeos. Nur ein echter Tragiker, das heißt ein in Gegensätzen dichtendes Genie konnte ein Werk wie »Frühlings Erwachen« schaffen, in dem die bloße Jugend zum tragischen Verhängnis wird. Nicht durch Zufälle fallen diese lebensvollen, lebenstollen Gestalten, nicht durch Verstrickung, Trübung, sondern gerade durch ihre besondere Kraft, ihre besondere vitale Wahrheit, durch ihr Einmal-und-nie-wieder-Sein, durch die wirklich und auf immer gefaßte Urwurzel ihres seelischen Baues. Die Gegensätze werden nicht betont, nicht ausgenützt, um die theatralische Maschine vorwärts zu treiben, sondern sie sind eben aus dem innersten Kern der äußerst mutvoll erfaßten menschlichen Natur hervorgewachsen; und so sind sie wie alles, was ganz aus Wachstum und ganz ohne zufällige Bildung Gewordene geworden ist, völlig frei von Schuld und Sühne.

Was die Hauptgrößen der naturalistischen Zeit und mit ihnen auch Henrik Ibsen kennzeichnet, ist der Mangel an Gegensätzen, ihr emsiges Überbetonen der Mitte, ihr Ausmalen dessen, was sie Atmosphäre nennen, was aber ebensogut oder besser »juste milieu« hieße. Bei Ibsen sind die organischen Gegensätze so minimal, daß seine Menschen nur durch raffiniert, oder wenn man will, genial ersonnene Vorgeschichten in scheinbaren Kampf treten, der sich im wesentlichen darauf beschränkt, einander bis auf den letzten Rest klar zu werden. Es sind seelische Entkleidungskomödien. Wo Ibsen wirklich ergreift, etwa mit dem Schicksal der Frau Alving, ist nichts, was aus dieser Gestalt, aus ihrer besonderen Kraft, aus ihrer besonderen Wahrheit, aus ihrem Einmal-und-nie-wieder-Sein hervorgeht, sondern es ist das armselige Schicksal jeder menschlichen Kreatur, die im Schicksal ersäuft wie ein Bergmann in einer Kohlengrube. Traurig ist das gewiß, erschütternd sogar, aber niemals tragisch. Es ist eine Katastrophe, etwas, das jedem einmal begegnen kann, aber nichts, was dem innersten Urgrund des menschlichen Seins positiv entspricht, es ist eben nur die traurige Kehrseite menschlicher Unzulänglichkeit, Wertlosigkeit, unserer Vergänglichkeit, unserer mangelnden Erleuchtung, unserer fehlenden Besinnung, unsrer Dummheit im metaphysischen Begriff, denn, dem Universum gegenüber sind wir immer unzulänglich und winzig, und im Punkte des Erkennens und logischen Handelns immer stupid und unfähig. Wahrhaft erleuchtet zu leben ist keinem gegeben. Keiner kann sein Dasein so gestalten, wie es seiner absoluten Stellung im Weltall entspricht. Kosmisches Dasein und bürgerliches Dasein decken sich nie, sub specie aeternitatis sind wir alle, was immer wir schaffen und bilden, zwar nicht Sünder, aber Dilettanten. Das Unzulängliche, im Kleinsten wie im Höchsten, ist die Erbsünde. Aber daß der einzelne das Kosmische in sich überhaupt ahnt, daß er es wagt, sich selbst zu Ende zu leben und, wenn auch nicht der unendlichen Welt, so doch sich selbst gerecht zu werden, das ist schon ein herrliches Zeichen von Kühnheit, ein Beweis für das Heroische der so furchtbar in der Welt vereinsamten menschlichen Natur. Das Endliche, ins Unendliche gestellt, muß mit dem Untergang des Endlichen abschließen, aber es ist zweierlei, an den Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur trübe zu erlöschen, nachdem man ringsum das Mitleid der sich glücklicher Wähnenden erfleht hat, etwas anderes ist es, an dem Besten zugrunde zu gehen, das in einer Seele lebt, weil es am tiefsten in ihr lebt, weil es am wärmsten alles umarmt, weil es am feurigsten sich auswebt, weil es am buntesten blüht. Dies heißt dann wahrhaft in Freude und an Freude sterben, das ist tragisch, nicht traurig, denn das Überleben, die tiefere tröstlichere Bedeutung der menschlichen Existenz wird dadurch zur Gewißheit, und hier liegt das Lösende, Erlösende, das im großen Sinne Religiöse einer tragischen Dichtung und eines jeden anderen großen Menschenwerkes. Mit zwei Hauptfiguren setzt »Schloß Wetterstein« ein: Eleonore, der Mutter mit der ganzen fast tropisch strotzenden Glut einer überströmenden Leidenschaft, und Effie, der aufgehenden Flamme des reinsten Gefühls. Im gleichen Rhythmus die zwei anderen Gegenfiguren, Rüdiger, einst lebenbeherrschend, einst der Mann der Stunde, der das Schicksal am schweißbedeckten Zügel geführt hat, um wenige Jahre nachher nicht wie ein Reiter, sondern wie ein niedergebrochenes Pferd von den Jüngeren, Schwächeren auf den Karren geladen zu werden, um irgendwo in der Stille das Gnadenbrot zu erhalten statt des Gnadenstoßes; und Luckner, der sardanapalische Nabob, Herr über Diamanten und über lebendes, blühendes Fleisch, der am Lachen über sich selbst stirbt – welch eine Freiheit! Welch ein unmenschlich-übermenschlicher Humor! Aber diese Gestalten sind mit dem zweiten Akt erloschen, nur Effie bleibt, und muß sich dem dritten, dem großen Überlebenden stellen, um ganz entblößt, ganz aufgelöst dem bösen Dämon des Unterganges zu begegnen, der selbst nach Untergang hungert, und doch diese einzig ihn sättigende Speise nicht finden kann, dem Amerikaner Atakama, dieser antiken Gestalt des alles verzehrenden Todes. Aus ihm spricht die Stumpfheit, die Gleichgültigkeit der Welt, ihre alles in den Staub der Namenlosigkeit zerbröckelnde Gemeinheit und Ironie: Denn dieser zahlt nur in einer Münze, in Gold, und Gold kennt nicht Namen, nicht Ruhm, nicht Würde, nicht Zorn, nicht Lachen noch Liebe, es kennt nur sich, deshalb gilt es als Geld, es währt ewig als Währung. Wer in Geld denkt, der denkt nicht in unserer lebenden Welt, er ist skeptisch, zynisch, er ist unmenschlich in einem so furchtbaren Begriff, wie ihn die Gesellschaft bis in unsere Zeit nicht gekannt hat. Was ist Balzacs Wucherer Gobseck gegen einen Mann wie Stinnes? Hier steht der eine Pfeiler dieser Kathedrale. Aber Effie, das gesammelte, in sich selbst zum höchsten Liebreiz zusammengeschmiegte Leben! Diese stark und rein duftende süßeste Essenz alles dessen, was das Leben lebenswert macht! Hier ist die Freude ohne Reue. Die Niewiederkehr des schönsten frühlingshaften Tags. Die Wonne ohne Schuld. Flamme ohne Asche. Hier lächelt ein Mensch ohne Bitterkeit. Hier will sich jemand im höchsten Augenblick loslösen von unserem trüben Stern, unzerstörbar lebend in Todesfreude vergehen. Seit Shakespeares Julia ward so mädchenhaft Blühendes, bezaubernd Holdes nicht geschaffen. Wie sind diese beiden, Atakama, das Gift in Menschengestalt, und Effie, der freudenvoll zitternde Stern, im letzten Akte aneinander gesteigert, wie sprechen sie immer tiefer das Geheimnis ihrer eigenen Natur aus und geben dennoch dem Herzen des andern die klarste, deutlichste Antwort damit. Wie sich hier Seelen berühren, während sie nur einfach ihre Flügel für sich allein zu entfalten scheinen, das hat vor Wedekind keiner zu gestalten die Kraft gehabt. Wie sich hier ein Mensch in den Abgrund der Welt stürzt, in dem sichersten, gott- und weltgläubigsten Gefühl, daß er sich selbst noch nie treuer gewesen, daß er Gott nie näher gewesen, das hat mir auf der Bühne einen Eindruck gemacht, den nichts anderes erreichen, nichts Stärkeres je übertreffen wird. Nie sah ich den überlebensgroßen, glühenden Menschen, das leuchtend leidende Herz so strahlen. Nie Menschen so herrlich leben, das ist: herrlich untergehen.


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