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Von Chinas Göttern

1

Perzynski, der Autor eines Buches, das der Verlag Kurt Wolff vor kurzem unter obenstehendem Titel veröffentlicht hat, hält es in seiner Einleitung für nötig, seine Art des künstlerischen Reisens zu verteidigen gegen den Vorwurf, man könnte es für die zeitvergeudende Beschäftigung geistig verkümmernder Menschen halten. In den letzten sechs Jahren, die offenbar dem Entstehungsjahr des Buches gefolgt sind, hat sich freilich gezeigt, daß geistig verkümmernde Menschen andere Arten von Betätigung gesucht haben, und es ist ebenso bitter als wahr, daß die ungeheuerste Ansammlung von Macht mit dem geringsten Aufwände von Geist verknüpfbar ist, daß die vernichtendsten Kämpfe, bei denen der einzelne weniger bedeutet als ein Kilogramm Messing, ganz unter Ausschaltung jeder Idee durchgefochten werden, das Sinnbild dieser Jahre scheint das öde und maschinenmäßig bemalte bunte Flaggentuch zu sein, das Menschen der gleichen westlichen, freilich schwer verrotteten Zivilisation gegeneinander antreten ließ.

Aus Perzynskis Buch lernen wir eine vollständig kampfesmüde und wie es scheint militärisch unfähige, politisch ziellose Welt kennen: China. Perzynski hat sich seine Sache manchmal leicht und, man möchte sagen, eben dadurch schwer gemacht. Denn er vermittelt uns mit lässiger Hand die Welt, von der er unzweifelhaft neue Teile entdeckt hat, im Vorübergehen, an unnötiger Stelle bei Kochrezepten verweilend, die nicht ganz so bezeichnend für das Land sind, als es dem mehr körperlich als geistig ausgehungerten Reisenden erscheinen mag. Immerhin hat er sich den Blick in der richtigen Einstellung gewahrt, und das Buch bringt als Wesentlichstes unerhörte Reste alter Bauwerke und herrlich lebende Trümmer jahrtausendealter Skulpturen. Diese sind von ungeheurer Eindringlichkeit, von einer unerschütterlichen Glaubensstärke; Bewunderung und Ehrfurcht sind mein einziges Gefühl. Neugierde und der Reiz des Exotischen entschwinden vollkommen.

Man hat oft den Eindruck bei chinesischen Kunstwerken, daß es sich um Erzeugnisse einer überfeinerten Kultur, um etwas Barockes handelt. Hier zum ersten Male sieht man Dinge von solcher Größe, von so mächtigen seelischen Dimensionen, jenseits aller Formate, daß man sie als klassisch bezeichnen würde, wenn das Wort nicht einen akademischen Beiklang hätte. Perzynski hat in den Grotten von Ichou ein Götterstandbild entdeckt, einen »Lohan«, offenbar nur einen kleinen Rest von zahlreichen anderen Kunstwerken, die inzwischen im wahrsten Sinn des Wortes in den Staub zerfallen sind, aus dem sie kamen. Aber dieser kleine Rest lebt. Es ist der Zeus von Otrikoli Chinas. Ein Mann ohne Haare, mit breiten Wülsten über den Augen, ein Lächeln unendlichen Ernstes um den breiten Mund, das Erkennen der Verruchtheit der Welt in gewaltigen Furchen des Antlitzes und einen Blick von solcher Intensität, von solcher Göttlichkeit, daß er uns eine ganze Welt zu spiegeln scheint und doch bleibt, was er ist: Blick eines vergöttlichten Menschen. Die Herrschergewalt ist so überzeugend, daß sie eher tröstlich als bedrückend wirkt. Und dieses Gefühl von Trost, von Ruhe in aller Verwirrung bleibt sich treu selbst im Anblick der furchtbarsten Zerstörung, die das Schicksal dieses Gottes war und das Verhängnis des Volkes, das diesen Gott geschaffen hat und mit ihm unterging. Und über alle Wahrscheinlichkeitsrechnungen der Vernunftshistoriker und Tatsachen-Rechner fühlt man, daß Leben und Tod eines Volkes nicht durch die Einführung von Eisenbahnen und durch die Verluste und Gewinne »an Mensch und Material« entschieden werden können. Es ist mehr als China zugrunde gegangen. Aber es gibt auch da Auferstehungen. Haben wir Götter, deren Gestalten Menschen noch nach Jahrtausenden das Schweigen tiefster Ergriffenheit abzwingen werden?

2

Die Wellen der Weltgeschichte und des Weltgeschehens pflanzen sich nicht in gerader Richtung fort. Alles, was wir von vergangenen Epochen wissen, ist Fragment, und es ist kaum möglich zu sagen, ob gerade die überlebenden Fragmente gerade die wichtigsten waren.

Wir nähern uns in Europa, wenn nicht alle Anzeichen trügen, einer zweiten Renaissance chinesischen Geistes. Die erste geht in die späteren Jahrzehnte des achtzehnten Jahrhunderts zurück, und vieles, was wir bei dem großen und sehr klugen Voltaire bewundern, war die erste Auferstehung chinesischen Geistes, sein Lächeln, weise und mild zugleich, war das eines östlichen Weisen, seine Abwehr des Katholischen und Christlichen war ein Abglanz des asiatischen Panzers, der das menschlichste Herz umschloß, das je in der Brust eines französischen Spötters und Kavaliers gelebt hat.

Die Französische Revolution war im letzten Sinn die Auswirkung dieser Ideen, sie war der Versuch, den großen Entscheidungskampf zwischen Gott und der Welt aus der Seele des einzelnen in die Seelen ganzer Klassen zu verlegen. Die furchtbaren Hungersnöte, die grauenhaften Leiden der niederen Stände, die den Revolutionsjahren vorausgingen, hätte die christlich-katholische Menschheit so beantwortet, wie es das christlich-katholische Spanien getan hat, nämlich mit dem Aussterben der Bevölkerung, mit der Verödung einst blühender Provinzen und mit dem Fortbestande der alten, zwar längst Lügen gestraften, aber doch unzerstörbaren Mächte: des Herrschertums von Thron und Altar.

Die Französische Revolution ging nicht an das Metaphysische, sondern an das Wirkliche, nicht die Erbsünde wird bekämpft, sondern die großen und kleinen Mißstände, man betet nicht mehr, sondern ordnet die Welt. Man ordnet. Man ordnet die Welt einem Sinn unter, einer Idee, einer Utopie, einem Schlagwort, das Schlagwort ist falsch, aber es gibt den Menschen eine ungeahnte Stärke, einen riesenhaften Willen zum Leben. Dieses Wort lautet: Der Mensch ist eines Fortschritts fähig. Er ist zu erziehen. Die ganze Revolution ist nichts als ein grandioser Erziehungsversuch, niemand kann das Schulmeisterliche in der Bewegung verkennen, und wenn auch Rousseau den Fortschritt der Menschheit in seinem berühmten Versuch geleugnet hat, so lautet doch der Titel seines Ewigkeitswerkes Emile, und die Bekenntnisse, die Beichte seines Erdenlebens sind nicht die Geschichten seiner Abenteuer und Begegnungen, sondern die Geschichte seiner Erziehung durch sich selbst und durch die Welt. Gleichviel, was das positive Ergebnis war, die Einstellung ist es, der unbezähmbare Elan, der unerschütterlich brennende Glaube an den Adel des Menschen, der wert ist zu leben, also auch wert, erzogen zu sein. Das ist die Maxime der chinesischen Weisen, und von hier wäre auch eine Brücke zu schlagen zu dem Lebenswerk des Arnos Komenius, zu dem tiefsten Geheimnis der böhmischen Wälder.

Hier möchte ich nur auf ein zweites Fragment des Ostens hinweisen. Wie der Lohan als Fragment einer alles überragenden plastischen Kunst Ostasiens in unsere Tage ernst erschütternd hinüberragt, ist es ein Monument einer ungemein reichen schöpferischen, glücklichen Zeit, die dem Denken und Schaffen des Konfuzius und Lao Tse nachfolgte. Urälteste Tradition, Kritik an allem schon Erreichten, tiefinnerste Gläubigkeit, zusammengefaßt in einem Erziehungswerk freiester Fügung. Gespräch, Anekdote, Mirakel, Tier- und Menschenfabel, das alles und noch mehr ist der fast unerschöpfliche Inhalt des Werkes, an das ich denke: Dschuang Dsi. Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Es ist schon vor fast zehn Jahren in einer Sammlung östlicher Weisheit erschienen, die der in Europa unerreichte Verlag des Eugen Diederichs in Jena erscheinen läßt.

Die Lehre des Dschuang Dsi ist groß, sie ist umfassend und mehr als das, sie ist beglückend. Sie erfaßt die Welt und vernichtet sie nicht. Sie erkennt das Böse und leugnet es nicht. Sie weiß, daß der Mensch böse ist von Urbeginn, und glaubt doch an ihn, denn was wäre der Sinn des Lebens eines Weisen, wenn nicht die Erziehung? Sie begnügt sich nicht mit der sichtbaren Welt, die zu ermessen und zu messen ist, sondern er nimmt mystischen Aufschwung in das unbegrenzte und nie zu ermessende Reich. Aber das ist keine Mystik des müden Unterganges, sondern die des aufblühenden Lotus, der aufgehenden Sonne, des aufrauschenden, unbeschreiblich mächtigen, unbeschreiblich freudigen Vogels Rockh.

Das höchste und tiefste, das dieser Mensch der Vorzeit uns zu geben hat, ist eben diese Vereinigung des Tiefsten mit dem Höchsten. Es ist eine Religion der Versöhnung, nicht auf dem Boden eines Dogmas, also auch nicht auf dem Boden des ewig unerfüllbaren: Liebet einander, sondern durch den Weg, den er jedem zu (seinem) innersten Erlebnis, zum Sinn des Lebens führen will. Dann gehen alle Farben ein in den unwandelbaren Regenbogen der Vereinigung. Er ist der einzige Weltgelehrte, der die Weltanschauung nicht durchsetzen, sondern alle Weltanschauungen zur Ruhe bringen will. Keine Zeit konnte so dürsten nach der Ruhe und der Vereinigung wie die unsere. Und unsere Zeit, kann man ihr auch nachsagen, wieviel man will und wieviel sie verdient, sie hat viel gelitten; und hier, in der Freude des lichten Ostens, könnte sie Heilung finden; wenn irgendwie und irgendwo, so im südlichen Blütenland.


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