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Die Jugend im Roman

1

Der Verlag »Die Schmiede« in Berlin kündigt eine Sammlung der besten zeitgenössischen Romane der Welt an. Er kann sicher sein, daß man sich mit besonderen Erwartungen dieser Sammlung zuwendet. Das Drama hat in den letzten Jahren eine selbst von Mißgünstigen nicht zu leugnende Bereicherung durch eine Zahl junger Menschen erhalten, über deren Genie sich Streit erheben mag, deren Genius, deren Kraft, deren hochgespannter Wille jedenfalls auch dem Auge und Urteil wenig Wohlwollender nicht entgehen kann. Bei den jungen Dramatikern handelt es sich nicht mehr um Entscheidung, sondern um eine, wenn auch noch begrenzte, so doch schon in Kraft getretene Wirksamkeit, um eine Bewährung auf der lebendigen Bühne. Anders ist es mit der epischen Kunst. Wir sind jetzt im dritten Dezennium eines gewaltigen Jahrhunderts. Gemessen an der Größe der Ereignisse ist das Resultat gerade im Roman nicht bedeutend. Man kann mit einem Schein von Berechtigung von einem Versagen der jüngsten Generation gerade im Roman sprechen. Wir haben von 1900–10 bedeutende Erzähler gehabt, deren einer, Thomas Mann, sich heute noch als der gewaltigsten einer erweist, wir haben in der Altersklasse von 1910–20 eine zweite Generation an der Arbeit gesehen (auch ich zähle mich zu dieser Generation). Aber aus der nächsten Geschlechterfolge kommen wohl dramatische, auch lyrische Gestaltungen von Wert, was aber bis jetzt fast völlig zu fehlen scheint, sind neue Epiker und, sonderbarerweise, neue kritische Köpfe. Zwischen diesen Erscheinungen mag ein hier nicht näher zu erörternder Zusammenhang bestehen. Kündigt nun ein Unternehmen, wie »Die Schmiede«, eine Sammlung der besten zeitgenössischen Romane der Welt an, kann es sich nur um solche Werke handeln, die eben dieser dritten Generation ihren Ursprung verdanken, und mit Ausnahme Franz Kafkas sind es auch neue Namen, neue Männer, vielleicht auch, so hoffen wir, neue Darstellungsmethoden, neue Wesenheiten (nirgends ist das Wesenhafte so entscheidend wie im Roman – und in der Kritik), die sich ans Tageslicht drängen und die wir Älteren mit wahrer Freude begrüßen wollen, wenn sie sich als echt erweisen im Kern, in der Fülle des Daseins, mögen sie auch in der Form noch Mängel haben, die man der Kraft, der Überkraft verschwendender Jugend gern verzeiht. Diese Erwartungen, das muß ich am Beginn sagen, werden durch die vorliegende Sammlung nicht erfüllt.

Franz Kafka ist bei diesem Urteil ausgenommen. Sein »Hungerkünstler« ist vollendet. Mochte dieser Dichter Großes wollen oder sich mit dem Bescheidensten begnügen, ihm war als Künstler das Glück der letzten Erfüllung, daher auch der letzten, schrecklichsten Einsamkeit beschieden. Denn was er brachte, waren absolute Spiegelungen seiner selbst, magische Verkleidungen eines von sich selbst verfolgten Mannes, der das Chaos seiner Seele in die strengste, härteste, eisigste Form bannte. Es ist Zeitlosigkeit um Kafka – oder dürfen wir sagen: Ewigkeit? Ewigkeit ist es nicht, denn Ewigkeit ist das über die Zeiten hinweg freudig wirkende, das ist Goethe. Aber Kafkas keusches, männliches Leben und Sterben, seine mystischen Karikaturen des Zellensträflings, der die Wände seines engen Raums bis an den Rand mit seiner Zeichensprache bedeckt, das alles hat Bleiben, hat Wahrheit, hat Gültigkeit in sich. Ob er gültig sei, daran hat Franz Kafka immer gezweifelt, das ist auch das ewig variierte Grundproblem seiner Schöpfung gewesen. Man darf glauben, daß die Zeit die Gültigkeit dieses unglücklichen Mannes und großen Dichters bestätigen wird.

Nach Franz Kafka kann man die anderen Autoren nur in weitem Abstande nennen. Sehr dünn erscheint der sehr gerühmte Francis Carco, mit seinem »Der Gehetzte«. Als Grundtatsache eine gewaltige, eine unwiderstehliche, eine Kafkasche Vision: Ein Bäcker, in seinem Keller arbeitend, wird nachts von den zur Arbeit umherstreifenden Dirnen um warmes Brot gebeten. Sie werfen ihm Kupferstücke zu, sie lassen Stricke in seine warme Höhle hinab, um das Brot daran heraufzuziehen. In einer Nacht entfernt sich der Mann aus der Backstube, um eine alte Frau zu ermorden, zu berauben. Er kommt nach einer Minute zurück, findet alles, wie es war, nur ein Strick hängt herab, es war also jemand da, hat ihn belauscht. Es ist eine Dirne, die von dem Morde des Mannes weiß und, durch Grauen an ihn gekettet, ihm folgt, ihn schützt und mit ihm verhaftet wird. Ist die Ausgangssituation zwingend, einfach, gegenständlich, so wird im folgenden alles durch Gerede und Gedenke auseinandergezwirnt, es wird inhaltloser, psychologischer, vernünftelnder mit jeder Seite, und es gelingt dem Autor, der offenbar von Bourget (Schlechtes) gelernt hat, aus einer lebendigen Figur ein psychologisches, blutloses Schattenspiel zu machen, das auch nur den entferntesten Vergleich mit einem andern Mörder und einer anderen Dirne, Raskolnikow und Sonja, nicht erträgt.

Ist bei dem Franzosen Carco wenigstens der Beginn des Romanes wesenhaft und zwingend, ist der Tscheche Karel Capek von vornherein äußerst bescheiden in seiner Aufgabe. Sein Buch heißt: »Das Absolutum oder die Gottesfabrik«. Die Atomzertrümmerung macht nach Capek göttliche Kräfte frei. Sie schafft Brot in Fülle, das ist gut, sie schafft auch Gott in Fülle, das ist vom Übel. Nimmt man die mäßig amüsante, halbwegs gut geschriebene, nicht gerade dumme Sache mit allem, was sie ist und will, hat man einen epischen Schüler von Shaw vor sich, aber es ist nicht der Shaw der guten Jahre, sondern der zwar erfolgreich, aber auch zahnlos witzelnde Shaw der »Heiligen Johanna«. Da aber Capek nicht Shaws immerhin ruhmvolle Vergangenheit hat, lohnt es der Mühe bei ihm kaum.

2

Die zwei Bücher des jungen Joseph Roth, die in der Sammlung der Romane des zwanzigsten Jahrhunderts erscheinen, muß man als wertvolle Erzählungen ansprechen. Es sind Werke von einem gesteigerten, dabei maßvollen Realismus, von einer etwas erhöhten Blutwärme, die das fieberhaft Eisige dämonischer Phantasie ebenso zu vermeiden weiß wie eine im Stofflichen erstickende, breite, erdige Darstellung. Man sieht, es sind im wesentlichen negative Vorzüge, die bei diesen Büchern auffallen. Aber es ist in jedem der Bücher ein Moment, wo das Werk ans Gültige heranreicht. In dem schwächeren, dem Roman »Die Rebellion« handelt es sich um einen Kriegskrüppel, der aus dem Weltuntergang zwar nicht seine gesunden Glieder, aber doch den Glauben an die Gerechtigkeit des Staates, den Glauben an eine weise waltende Ordnung bewahrt hat. Daß er daran, und nicht an dem rein körperlichen Versagen strandet, ist ein guter Vorwurf, dem der Autor mit seinen sparsamen, aber doch wirkungsvollen Mitteln gewachsen ist. Denn wir haben es bei Roth mit einem guten Erzähler zu tun, dem die Darstellung, die Mitteilung als solche Freude bereitet. Wie dieser invalide, bis auf sein amputiertes Bein gesunde, arbeitswillige, lebensfähige Mann an einem Übeln Zufall bürokratischer Natur zugrunde geht, nachdem er sich den in seiner Lage unverzeihlichen Luxus jähzorniger Aufwallung gegönnt hat, das ist das Thema des Buches. Wir kennen aus Gogols unsterblichen, unbeschreiblich lebenstollen »Toten Seelen« eine ähnliche Figur, die dort nur umrissen ist, da ein Tölpel sie mit dem fabelhaften Tschirikow verwechselt, der doch eher eine Gliedmaße zuviel hat als eine zu wenig. Gogol strotzt von Humor, die Figur springt aus dem Buche, dies ist selbst bei den Russen unerreicht. Von Roths Figur kann man dies nicht sagen. Und doch hat sein Held einen heldenhaften, mehr als das, er erlebt einen echt menschenhaften Augenblick, nämlich den, als der Fünfundzwanzigjährige sich nach einem zweimonatlichen Aufenthalt in der Gefängniszelle im Spiegel sieht: sich als Greis, als silberhaarigen, gebrochenen Mann mit kindlichem Staunen wiederfindet.

Auch der andere Roman Roths, »Hotel Savoy«, entbehrt nicht des Schicksalhaften, Mythischen. Ein Kriegsteilnehmer (Soldat oder Krieger kann man den Kämpfer des Weltkriegs hier nicht nennen) kehrt nach langjähriger Gefangenschaft heim, er verweilt einige Zeit in einer polnisch-russisch-jüdischen Stadt oder, besser gesagt, in einem großen, gigantischen Hotel, es mag ein Hotel in Warschau oder Lodz gedacht sein. Wie dem Vereinsamten die ganze Menschheit in ihrer sozialen Schichtung, in ihrer seelischen Wesensart entgegentritt, daraus entwickelt sich das eigenartige Werk. Es soll nur flüchtige Begegnungen zwischen den Menschen geben. Sie sind, teils durch die Wahl des Stoffes, teils aus dem Wesenskern des Autors heraus, immer wieder auseinander komponiert, sie streifen sich eben nur. Atmen, flüstern, andeuten, schweigen. Zart, verwehend, ähnlich (wenn auch nicht so ganz schattenhaft und ganz seelenhaft) wie bei dem in seiner Art großen Herman Bang, dem früh gestorbenen. Immerhin ist hier ein Versuch des Baues, wenn auch nicht des Aufbaues unternommen, der rühmenswert ist. Die Reichen, die Satten, die Übermütigen unten in den Prachtgemächern des großen Hotels, die Mühseligen, die Beladenen oben in den kümmerlichen Stuben in der Nähe der durstig dumpfigen, feuchten «Waschküche, die der Autor unter das Dach verlegt hat. Es ist nicht eigentlich ein großes, mondänes Hotel mit 800 Zimmern, es ist nur ein groß gewolltes, wenn auch nicht immer groß gekonntes Symbol der menschlichen Schichtung, des Übereinander und, in herzlicher, keuscher Seelenbeziehung auch des Nebeneinander, der Kameraderie und Freundschaft, der scheuen, knabenhaften Erotik.

Eine ganz eigenartige Erscheinung ist Albert Daudistel mit seinen zwei Erzählungen, die er aus unbegreiflichen Gründen unter dem hohlklingenden Titel »Die lahmen Götter« vereinigt hat. Die erste Erzählung schildert in gewaltsam optimistischer, oft kindischer Weise das Leben der Gefangenen in der »politischen« Festung Niederschönenfeld, offenbar ein Stück Autobiographie, Reflex der Münchener Rätezeit, die sich hier als verspäteter, alberner Karnevalsjux darstellt. Ob sie mehr gewesen ist, läßt die ganz zerfahrene, trotz des interessanten Stoffes langweilige Erzählung nicht erkennen. Daudistel scheint hier Romain Rollands akademisch blutloser Schaffensart ohne die Kultur und ohne den Gelehrtenfleiß des so sehr überschätzten Franzosen Gefolgschaft geleistet zu haben. Bestände der Band nur aus dieser einen, der ersten Erzählung, dann könnte man über Daudistel als eine Begabung zweiten (das ist letzten) Grades beruhigt sein. Aber der Band enthält noch eine zweite Geschichte, ein ganz unliterarisches, oft rohes, aber fabelhaft echtes, packendes und unvergeßbares Schicksal zweier Menschen aus dem Volke, einem Matrosen und einer Dienstmagd, die heiraten, in Glück miteinander leben und zusammen untergehen an dem Jammer ihrer erbärmlichen Zeit, die ihnen das beste Blut aus den Adern gesogen hat, ohne daß man sagen könnte, wer schuld ist, das Schicksalhafte, das Unberechenbare, das Tolle, das strotzend Blühende und, plötzlich Vergehende wird in dieser Erzählung schlechthin meisterlich gestaltet. Man muß schon an Büchners »Woyzeck« erinnern, um zu einer ähnlichen Mischung von überquellender, im eigenen Blut erstickender Sinnlichkeit und wortloser echter Keuschheit zu gelangen. Höheres kann zu dem Lobe dieses neuen Mannes Daudistel nicht gesagt werden.


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