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Über die Sprache

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Erst die Sprache macht den Menschen zum Menschen. Die Fähigkeit der Sprache, alle möglichen menschlichen Beziehungen zu vertiefen, geht so weit, daß selbst dann, wenn Menschen zueinander in »fremden« Sprachen reden und das Verständnis im altgewohnten Sinne ausgeschlossen erscheint, daß selbst dann noch der eine den andern in seiner eigenen Sprache aufnehmen, begreifen und erleben könnte. Es wäre zum Beispiel eine Szene möglich, in der Menschen in verschiedenen Sprachen zueinander sprechen und einander in großen Zügen doch folgen können, wenn der Tonfall der Worte in verwandten Seelen widerklingt. Spricht man doch auch nicht ganz ohne Erfolg zu Tieren. Möglich auch, daß seelisch Fremde in der eigenen Sprache aneinander vorbeireden. Wenn jemand an die seelische Aura glaubt, die jeden Menschen und jede ernstere menschliche Beziehung geheimnisvoll umhüllt, dann können die Auswirkungen dieser Aura auf dem Wege dieser an sich unverständlichen Silben mit einem gewissen Grade von Sicherheit zu ihrem Ziel gelangen. Die Sprache ist eine mystische Insel mitten im Getriebe der Welt. Wenn man nur den Menschen dazu bringen kann, dem reinen Tonlaut einer fremden Sprache hingegeben zu lauschen, diese Klänge und Geräusche ganz naiv, im Zustande einer sprachlichen Unschuld aufzunehmen, dann ist der erste Schritt getan. Nur kurze Zeit klingt der fremde Laut ganz leer, bald füllt er sich mit Bedeutung, er kleidet sich in Sinn, und man wandert in die fremde Sprache hinein wie in ein fremdes Land, das aber aus dem Traume wohl vertraut ist und das sich bald um den Wanderer zusammenschließt, ihn sicher wandeln, ihn noch einmal aufleben läßt.

Aber nicht allein die Erwerbung einer Sprache, auch ihr Gebrauch und Besitz ist ein Geheimnis. Mit Recht spricht man vom Erbgut der Sprache, eben in der Erkenntnis, daß weder Erziehung noch Anlage, noch eigene Kraft oder Fleiß dieses Gut erwerben können – sondern wir ererben es wie die Erbsünde, mit der die Sprache viel gemeinsam hat (denn sie ist: die Fähigkeit, die Welt zu fassen, und ist der Mund der Sünde zugleich mit ihrem Maß). So ist die Sprache außer dem reinsten Heilmittel das ätzendste Gift, neben dem innigsten Band die härteste Schneide, sie hat das doppelte Gesicht, wie es alles wahrhaft und im tiefsten Sinn Erfaßte auf Erden zeigt, und wir wissen nicht, ob wir die Sprache eine Gnade oder einen Fluch nennen sollen.

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Von diesem Erbgut, Gnadengeschenk und ewig wirkenden Fluch geht ein weiter Weg hinab bis zu dem Instrument des täglichen Sprachgebrauches. Von einer religiösen Funktion sinkt das Wort hinab zu dem praktischen Mittel, einander zu verstehen, sich miteinander in Verständnis zu setzen oder sich, kontradiktorisch, auseinanderzusetzen.

Diese Auseinandersetzung könnte vielfach durch rein mechanische Mittel ebensogut erfolgen. Als reines Gebrauchswerkzeug kann die Sprache noch verschärft, noch vervollkommnet werden, sie hat auch in ihren Gebrauchswerten, auf der Börse, in den Handelsusancen, in der Technik, im charakteristischen Jargon jedes Metiers, sei es Pferderennen oder irgendein Handwerk, ohnehin die Neigung, sich zu fixieren, eben nur das zu bringen, was einen im großen ganzen schon bekannten Tatbestand von einem andern, ähnlichen unterscheidet. Der sogenannte Telegrammstil ist daher dort, wo er wirkliche Existenzberechtigung hat, durchaus keine Konzentration, keine Steigerung der Sprache ins Wesentliche; er sagt weiter nichts, als daß man unter seinesgleichen ist und einander genügend kennt. Man spricht zwar lobend von der Kürze des Witzes, aber die erste Voraussetzung des Witzes ist das Bekanntsein mit den Typen, mit der ewig gleichen Umwelt. Müßte man einen Witz einem wahrhaft Unbefangenen erzählen (etwa einem Menschen, der zweihundert Jahre nach uns lebt), dann wäre es fast immer mit der Kürze und auch mit dem Witze vorbei. Daher haben Witze, Anekdoten und telegrammartige Fügungen viel Zeitcharakter. An einer Anekdote sieht man die ganze Zeit wieder aufleben. Die Sprache aber braucht die breiteste Grundlage, eben weil alle, auch die späteren, von ihr leben sollen, weil die früheren noch durch die Sprache zu uns reden wollen – so ist es nur recht, daß auch sie von allen lebe und von allen Seelen gespeist werde und daß sie allen Körpern auch im einfachsten Gebrauch als tägliches Brot diene.

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Etwas anderes ist die Sprache der Dichtung. Die Dichtung, die vom ältesten Erbgut und reinsten Gnadengut der Sprache lebt, hat vom Erbe die Tradition und von der Gnade die Weihe. Jede Dichtung ist nur in einer Sprache geschrieben. Es mag Weltliteratur geben, aber internationale Literatur gibt es kaum, oder doch keine internationale Dichtung. Die Hauptwerte der Sprachen sind zu verschieden: Bei den einen wirkt vorerst die Logik, bei den andern die vitale Bezwingung, Treue, Unentrinnbarkeit. Beides wird man selten vereinigt finden. In den ungeheuren Dichtungen primitiver Völker gibt es wohl bezwingende Szenen, Augenblicke, Landschaften des Meeres und der Seele, aber kaum Logik. (Sehr deutlich wird dies bei Leo Frobenius' »Atlantis«.) Und selbst bei der sogenannten klassischen Dichtung beginnt das wahrhaft Bezwingende oft erst dort, wo das rein Logische aufhört. Beides, Logik wie Bezwingerkraft (Evidenz), gehört zu den Kräften der Sprache an sich. Die Bezwingerkraft liegt von Anfang in der Sprache schon dort, wo sie bloß Namen schafft und sie mit imperativer Geste auf immer mit dem adäquaten Gegenstande zusammenkettet. Logik aber ist die Verbindung dieser souverän geschaffenen Elemente durch eine neue Herrschergebärde. Jede Logik des Denkens ist Logik der Sprache, und die Sprache lügt nur deshalb, weil unser Denken lügt, ein Lehrsatz, der umkehrbar ist.

Es gilt bei unsern europäischen Literaturen als das höchste und nie welkende Lob, wenn ein Werk logisch und zwingend zugleich genannt werden kann. Das Logische setzt höchste Klarheit der Sprache voraus, da nur dann die einzelnen Elemente genau ihrer Wesenheit entsprechend ineinandergreifen oder auch nur beieinanderstehen werden. Die Architektur eines guten Satzes ist die Architektur eines guten Kapitels, eines gut gebauten Theaterauftrittes; eine gute Szene, ein gutes Kapitel ist der Grundriß für die Komposition eines ganzen Werkes, nicht in grob mechanischem, sondern im weitest gefaßten Sinn der künstlerischen Ordnung. Und so sonderbar es klingt, eher kann die Erzählung die Ordnung entbehren als die Theaterszene; denn die Erzählung ordnet sich, wenn auch primitiv, bereits durch die Grammatik und den Stil. Grammatik und Stil stützen aber den Dramatiker durchaus nicht in ebenso hohem Maße. Seine Kraft muß entscheiden. Man kann den dramatischen Dichter geradezu als genialen Ordner erfassen, vorausgesetzt, daß er auch über die zweite Haupteigenschaft des Dichters, nämlich die Evidenz, das Zwingende, verfügt. Dieses Zwingende setzt seinerseits die höchste Wahrheit voraus. Denn wie soll man von der Unvermeidlichkeit eines Geschehens bezwungen werden, wenn nicht jeder Teil ein lebenswahres, ja überlebenswahres Antlitz trägt? Wenn nicht im begrenzten Einzelnen auch das Wesentliche der unbegrenzbaren Vielfalt mit einbegriffen worden ist? Wenn das Weltgesetz, das an sich nicht in engen zeitlichen und räumlichen Grenzen verständlich sein kann, sich doch wenigstens in der gegebenen Spanne Zeit und in dem kleinen Winkel Raum annähernd getreu spiegelt? Dieses Annähernd kann man so wörtlich nehmen wie nur möglich, dann wird man verstehen, daß die oft beengende Nähe des Helden mit dem Mitfühlenden, Mitlebenden eine unbedingte Voraussetzung, eine nie zu erlassende Bedingung ist, denn in dieser Annäherung liegt ja der Zwang, mitzugehen und etwas von seinem eigenen Teil an Zeit und Raum zwangsmäßig der dargestellten, der vorgestellten Person zu leihen. So gleicht jede Wirkung der Kunst jenem Augenblick in der Odyssee, wo die Gespenster am vergossenen Opferblute lecken, um selbst für einen Augenblick das blutige, das blühende Dasein zu erraffen. Hier ist der Zwang von beiden Seiten da, die Gespenster dürsten danach, sich in lebenden Seelen noch einmal zu spiegeln, und Odysseus hungert danach, seine unermeßliche Reise auch nach der Unterwelt fortzusetzen und seine Gefährten, die Begleiter eines fast völlig versunkenen Lebens dort unten wieder zu treffen. In dieser unsterblichen Szene ist das Logische mit dem Zwingenden vereint. Solche Werke dürfen wir klassische nennen.

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Zu den tiefsten Wesenheiten der Sprache gehört das Geheimnis der Zahl. Wie alle echten Geheimnisse ist es nicht eine Frage nach der Wahrheit, sondern ein Weg aus der Sinnenwelt ins Übersinnliche, also nur eine Tendenz und hat als solche auch nur eine transzendente Faßbarkeit wie etwa das Gebet. Das hat mit der praktischen Brauchbarkeit des Zahlengeheimnisses nichts zu tun. So wie die Urmutter der Zahl, wie das Wort, hat auch die Zahl ein doppeltes Gesicht. Einstein gehört in diesem Sinne nicht unter die Aufklärer, wie es die Rationalisten gern haben möchten, also nicht in die Reihe d'Alembert, Diderot, Voltaire, Lessing, Popper-Lynkeus, Brandes, Shaw, sondern er steht dem Wirken eines Lao-Tse, eines Spinoza, eines Goethe (in seiner letzten Periode) nahe. Einstein ist nur der besonders intensive Exponent eines wissenschaftlichen Erlebens, das mit der größten Unschuld, mit der reinsten Naivität der Welt gegenübertritt. Eine starke, kantige Persönlichkeit ist mit dem Begriff der Unschuld nicht vereinbar. Unschuld kann gelebt werden, aber nicht gewollt. Aber gerade dem Unschuldigsten fällt die Gnade der Erleuchtung zu. Der Unschuldige nimmt nicht den Gegensatz von Ich und Nicht-Ich zum Grundprinzip. Sondern seine Weisheit ist sein Gleichgewicht; so verliert er auch nie das Gefühl für alles andere auf der Welt, das sich im Gleichgewichte befindet, wie die ideale Zahl, oder für das, was ins Gleichgewicht strebt, wie die reale Zahl. Der chinesische Weise spricht davon mit folgenden Worten: »Der Zustand, wo Ich und Nicht-Ich keinen Gegensatz mehr bilden, heißt der Angelpunkt des Sinns. Das ist der Mittelpunkt, um den sich die Gegensätze drehen können, so daß jeder seine Berechtigung im Unendlichen hat. Darum sagt er, es gibt keinen besseren Weg als die Erleuchtung.«

Zu den wenigen klassischen deutschen Werken gehört Goethes »Iphigenie«: Hier ist in der kleinsten Spanne Zeit und in einem ganz primitiven äußeren Vorgang (im Grunde hat er etwas Odysseisches an sich), in ganz eng umgrenzten Formen, in dem Schicksal der wenigen Menschen und der wenigen Dinge, die sie bewegen, in diesen Elementen ist auch der metaphysische Hintergrund, die höhere Ebene, das Weltgeschehen dargestellt, und zwar richtet sich das Werk, mit dem Augenblick seiner Entstehung auch die ganze Welt neu schaffend, an das unbefangene Gemüt des Hörers.

5

So kann man es verstehen, wenn die katholische Kirche das Mysterium der Zahl zugleich mit dem Mysterium des Wortes aufnimmt, ja, es wird stets ein Beweis höchster pädagogischer Einsicht sein, wenn die Kirche ihre Riten in einer der Masse unverständlichen Sprache abwickeln läßt. Die Messe, welcher der Beter verstandesmäßig nicht folgen kann, die er aber in höherem Sinne schon deshalb irgendwie in sich aufnimmt, weil er sie an seine Adresse gerichtet und ihm persönlich (Kommunion) zugedacht weiß, dies ist das höchste Zeugnis auch für die zweite Bedeutung der Sprache, die nicht nur zwischen Gleichgestellten kommuniziert, sondern auch unser einziges Mittel darstellt, uns den höheren Sphären, den durch Logik nicht erreichbaren Lebensbezirken anzunähern, kraft der Tendenz der Sprache, aus dem Irdischen ins Überirdische aufzusteigen und aus dem vergänglichsten Hauche der vergänglichsten Brust ein Siegel für den ewig dauernden Bund zu prägen. Diese Probleme liegen schon hart an der oberen, an der Schneegrenze der Sprache, so ist es auch nicht leicht, sie bis in ihre letzten Konsequenzen zu verfolgen. Doch ist dieses ahnungsvolle Wissen dem Dichter angeboren; wenn einer, dann lebt er in besonderer Intensität das Zwingende der Sprache nach, während dem Gelehrten und dem Gesetzgeber eher das Logische der Sprache zum Grunderlebnis werden mag. Die Sprache ist der Boden, den wir täglich pflügen, aus dem wir geworden sind und wo man das, was an uns die Lebensdauer vielleicht überdauert, auch einmal bestatten mag. Wer immer mit uns lebt, lebt nicht nur auf der Scholle der Erde, sondern auch auf der Scholle der Sprache. Sie ist das Dach des heimatlichen Hauses; und das Wichtigste, das Menschlichste ist, daß einer sich nie ganz verlassen fühlen kann, solange seine Sprache um ihn ist. So ist dem Odysseus die Stimme seiner Freunde, selbst unter den Zorneswolken der Götter, immer ein herrlicher Trost.

Freilich verbirgt sich auch hier das doppelte Angesicht dieses Lebenselements nicht. Die Sprache hat ihre unversöhnliche Gegenwelt. Die Vielheit der Sprachen ist der tiefste, der wahrhaft beweisende Ausdruck für die Feindschaft zwischen Mensch und Mensch. Hier setzt das Alte Testament den Zorn Gottes als unverrückbaren Markstein mitten in die Historie der lebenden Geschlechter. Wohl mag einmal Gott die Sprache der Menschen sprechen, aber untereinander sollen die Menschen einander sich in dem Maße nähern dürfen, wie sie sich von den andern entfernen. Die Völker sind durch Sprachen wie mit Ruten aneinandergebunden. Die Ultima Thule menschlicher Gemeinschaft ist der Turm von Babel.


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