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Östliche Landschaft

In einem Augenblick, da China von neuem im Mittelpunkt des politischen Interesses steht, ist jede Aufklärung über östliche Kultur doppelt erfreulich. Es ist heute so, daß chinesische Philosophie, als die einzige wirklich friedliche, mitten im Herzen Europas Fuß zu fassen beginnt, daß chinesisches Kunstgewerbe in London mit Gold aufgewogen wird: Und da es sich um letzte Reste, um Bruchstücke, um Reliquien handelt, um Plastik aus Ton oder um »Mandarinenstreifen« am gelben Seidenmantel der chinesischen Minister von einst, wird man diese Bewertung verstehen. Vor Jahren bekam man noch große Säcke dieser abgetrennten Streifen gewichtsweise, wie alte Lumpen oder altes Eisen in den chinesischen Fremdenhäfen angeboten. Unter einer Menge wertloser, bis zur Unerkennbarkeit zerschlissener Seidenstreifen fand sich ein Stück gestickte Malerei; kleine Romane, in den duftigsten, rührendsten Farben auf fingerbreite Seide mit der Nadel gemalt, Wälder und Wiesen, Baum, Schnee und Nebel, mit vergilbten Fäden auf eines Daumennagels Umfang eingezaubert, fremde Vögel, Goldfasanen im Fluge, Schüler, lernend zu Füßen kahlköpfiger Lehrer, Liebende Hand in Hand, Berauschte, die Weinschale am Munde, mitten im Mondlicht, Li-tai-pe und seine Zauberwelt. Das waren Reste einer großen malerischen Kultur, Reliquien einer vergangenen Zeit, abgetragene Seide vom Mantel des toten Mandarinen.

Aber war er wirklich tot? Nicht bloß scheintot? Die Chinesen sind das einzige Volk des Ostens, bei dem Bildung mit Adel völlig identisch geworden ist, so wie die Juden das einzige Volk des Westens sind, bei dem das ganze geistige Leben sich auf Studium und Wiederstudium eines Stückes Pergament konzentriert. Wenn solch ein Volk schwertmüde geworden ist, dann kann es erstorben scheinen, und diese Gefahr liegt bei den Chinesen näher als bei den Juden, da die Chinesen nach ungeheuren Gipfelleistungen der Kultur, nach tiefster Kolonisation des Herzens in den letzten Jahrhunderten nicht nur schwertmüde, sondern auch geistesmüde geworden sind. Deshalb haben die Kulturdokumente von dort einen so großen relativen Wert; in dem Gebiet aber, in das uns ein Werk eines deutschen Forschers, Otto Fischer, über chinesische Landschaftsmalerei einführt, handelt es sich auch um einen sehr bedeutenden absoluten Wert. Hier ist große Kunst, hier ist neue Welt, alle Freunde reiner Gestaltung werden diesem schönen Buch Stunden fast religiöser Ergriffenheit verdanken.

Die Hauptwerke dieser Malerei sind fast tausend Jahre alt, und es gibt Anfänge, Urgründe, die in das zweite Jahrhundert nach Christi Geburt zurückreichen. Die spätesten Arbeiten stammen aus dem siebzehnten Jahrhundert. Obgleich sich eine Fülle von Erscheinungen, von Stilarten, von Meistern und Vormeistern vor uns ausbreitet, so ist in dem Buch nur ein kleiner Kreis chinesischen (und japanischen) Schaffens umschrieben, es fehlen sowohl die ins Kunstgewerbe herüberspielenden, aber durch die Dauerhaftigkeit des Materials bevorzugten Porzellanmalereien, welche diese Kunst zuerst nach dem Westen gebracht haben, als auch die Darstellung der menschlichen Seele im menschlichen Antlitz.

Mit Recht weist der Autor darauf hin, daß die Landschaft des chinesischen Malers nicht das Porträt eines bestimmten Flecks Erde ist, sondern Porträt einer bestimmten menschlichen Seele; eine Einstellung, die sich bis ins letzte mit den sogenannten Expressionisten wie Munch, van Gogh, Cézanne berührt. Ebendeshalb verschwimmt auch die Grenze zwischen dem Menschen in der Landschaft und der Landschaft im Menschen. Es zeigt sich auch hier, daß das Barocke, der Schnörkel, die chinesische Pagode, das klingelnde spielerische Porzellan nicht für die chinesische Kunst charakteristisch sind. Chinas Maler sind, so Unerhörtes sie technisch leisten, der Gefahr entgangen, mit den Ergebnissen der Technik zu spielen. Sie sind groß geblieben, in jeder, selbst der kleinsten Form. Es mag sein, daß diese ein Jahrtausend lang blühende Jugend der chinesischen Meister alles ihrer seelischen Vielfalt verdankt – also nicht l'art pour l'art, trotz höchster verfeinerter Technik keine Spezialisierung, trotz der hauchartigen, kaum aussprechbaren Wirkungen keine Beschränkung auf den einzelnen Kunstkenner, sondern immer etwas, das von der Gesamtheit getragen, von der Gesamtheit geschaffen, von der Gesamtheit aufgenommen wird. Und dies, obgleich der Chinese den Begriff des Nationalen nicht kennt.

Hier fließt alles noch aus einer Quelle. Unbeschadet der ins minutiöse Detail getriebenen Handwerkstüchtigkeit ist der chinesische Maler nicht beschränkt auf sein Fach: Er ist Gelehrter, Staatsmann, Feldherr, »man findet gerade in den größten Zeiten und unter den ersten führenden Meistern immer wieder die Namen von Dichtern, von Schriftstellern, Philosophen, Ministern, ja selbst von Kaisern, die gleichzeitig auf dem Gebiete der Poesie, der Stilistik, der Ideen und der Staatskunst unter den größten Geistern ihres Landes heute noch berühmt sind«. Wenn man diese Bilder sieht, in denen jeder Strich von dem unbedingten »Muß« erfüllt ist, das den Meister kennzeichnet, wenn man die Technik bedenkt, bei der auf Seide oder Papier die Farbe in flüssigem Auftrag unverlöschbar und unverbesserbar (im höchsten Sinne) eindringt, so findet man die Vielseitigkeit solcher Zauberkünstler fast unbegreiflich.

Was sie schaffen und wie sie es schaffen, ist bei ihnen im tiefsten Grunde eins; Form und Gestalt sind einander nicht feindlich, sondern eine sehr innige Gemeinschaft umfriedet beide; jede Schöpfung ist voll von Geheimnissen, deutbaren und undeutbaren. Zu den deutbaren gehört ihr Realismus. Jede Kleinigkeit, jeder Fuß Boden, jedes Zittern der sommerhellen Luft, jede Bewegung des Menschen, hier hingegossen auf dem frühlingshaft wieder umgrünten Felsen, dort überstäubt vom grauen Geriesel des stürmenden Herbstes, der Hufschlag des Wildbüffels, der durch hohen Schnee winterlich trabt – dies alles und alles andere aus der Natur ist mit der emsigsten Treue, mit der Liebe zum Kleinsten, wie sie Dürer hatte, nachgebildet. Aber während Dürers Veilchensträuße nur Blumen, seine Hasen und Löwen nur Tiere, seine Ritter nur Menschen sind, ist bei den chinesischen Meistern aus den ungeheuer plastisch gesehenen und erlebten Details eine Gesamtheit von Traumtiefe, von Sphärenfremdheit geworden, ein Unbeschreibliches, eine Welt über der Welt.

»Wird auf einem Wandschirm eine Frau unter einem Bäumchen dargestellt«, schreibt Otto Fischer, »so sind Weib und Gewächs von demselben Rhythmus und Wohllaut durchströmt, der knorrige Stamm aber mit seinen unendlichen Windungen und Verzweigungen in Linien so zart erfühlt und durchformt, daß man von einer Beseelung dieses Baumwesens sprechen möchte ... Auf dem Deckel einer hölzernen Lade sind mit Goldstaub aufsteigende Bergzüge mit verworrnen Baumriesen flüchtig gemalt: die anstrebenden und wieder niederstürzenden Berg- und Felsenformen sind von einem gewaltigen und überaus reich gefügten Rhythmus erfüllt, der bis in die hinausgeworfenen Äste der Bäume und den Nebelhauch aus den Schluchten mit einer lebendigen Bewegtheit alles durchdringt, wie wir sie bei Landschaften gar nicht gewohnt sind. Auf der Ledereinlage einer chinesischen Laute tanzt dann ein ganzes farbiges Bild aus dem Dunkel der Jahrhunderte: einen Teich durchwatet vorn ein munterer weißer Elefant, auf dessen Schabracke eine Gesellschaft von Musikanten und Tänzern springt und spielt, indessen nach rückwärts abstürzende Felswände ein unendlich weit in die Ferne sich verlierendes Tal – oder ist es ein See? – bis hinaus zu blauenden Bergen begleiten: und es scheint hier wie nach dem Takte der Musik, die ganze Landschaft sich tönend zu regen und beleben, die Bergzüge, die Felswände, die bekrönenden Bäume und der Flug der fernen, ziehenden Vögel ist von einem unendlich pulsenden Tanze bewegt ...«

Sieht man die Bilder, die in unausschöpflichem Reichtum, nicht nur eine einzige Landschaft, sondern wie eine Meereswoge nach der andern, unendliche Reihen von Landschaften entfalten, dann glaubt man den Film hier vorausgeahnt und in gewissem Sinn auch schon erfüllt. Aber es ist nicht der Film der Maschine, sondern der Film des Traumes. Im Traume sind diese wahrhaft unbeschreiblichen Bilder geahnt und durchgeführt, in einem besseren, tröstlichen, anderen Wissen um die Welt.

Fischer erzählt folgende Anekdote: Kno Sheng, ein Landschafter der T'ang-Zeit, pflegte folgendermaßen zu malen: Zunächst breitete er Seide auf den Boden und mischte die Farben. Dann ließ er eine Anzahl Musikanten Trompeten blasen, Trommel schlagen und einen wirren Lärm vollführen. Währenddessen legte er ein Brokatgewand an, setzte eine kostbare Kopfbedeckung auf und trank, bis er halb berauscht war. Dann begann er Umrisse zu ziehen und Farben anzulegen und siehe: Berghöhen und Inselränder entstanden auf wundervolle Weise ...

Von einem anderen Meister heißt es, er hielt Wolken und Berge in seiner hohlen Hand. Ein dritter schreitet in Mondnächten einsam durch den starren Schnee, bis er die lebende Natur sieht, den ruhevoll kreisenden Stern, die ewig blinkende, ewig sinkende Schneefläche, den winzigen Planeten, das Große im Kleinen, das Ewige in der wechselnden Erscheinung.

Die singende Stille, das lautlose Wandern ist es, was viele der in dem Werke wiedergegebenen herrlichen Bilder füllt; das ist es auch, was so tief, so herzlich, so unentrinnbar sanft zu unserer verstörten Zeit spricht. Tiere und Menschen, Wolken und Erde, Wald und Licht und Dämmerung – alles ein Fluß, eine Flut, eine unendliche Melodie; eine Melodie von der Art, wie sie der Dichter bildet:

Weich zum Ahnen ist der Traum der Vögel,
Die auf der Winternachtreise über das Ost-Meer rauschen,
Die schlafen im Dunst und Flaum der brüderlich verwandten Flügel,
Die auf das Traumgezirp der Bruderseelen lauschen.
Der graue Kranich schläft auf seinem Herbstgewässer,
Vereisend matt auf stille eingehaltnem Strom.
Um ihn wallt hochgefaltet Laub. In den Nebelnächten ruht er einsam,
Einsam blühendes Blut; nie besuchter, tief verschneiter Dom ...


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