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Mozart, ein Meister des Ostens

Was ich hier wiedergebe, ist nur ein imaginäres Porträt. Mir scheint seine Wahrheit stärker, mag auch die Ähnlichkeit geringer sein.

Mozart ist, so fühle ich ihn, mehr als Musik. Eine Welt, ein Komplex, eine Welt mit ihrem Widerspruch.

Das China, das aus Dschuang Dsi, dem wahren Buch vom südlichen Blütenland, sich offenbart, war mir nicht nur Erkennen, sondern auch Wiedererkennen, Bestätigung tiefsten Gefühls und daher auch Trost und Beglückung. Diese Welt schien mir mit Mozarts Welt vom gleichen Himmel überblaut, friedensvoll, gesegnet.

Was ich über China und Mozart sagen kann, hat vielleicht nur für mich zwingende Gültigkeit. Aber kann jemand mehr von einem Erlebnis seiner Seele sagen?

1

Zum zweiten (und wievielten?) Male nähert sich der Osten, Chinas Urweisheit, in Urworten ruhend, tröstlich einem zertrümmerten Europa: Ein helles Sternengebäude erhebt sich über eine entgötterte, mehr als das, eine entseelte Welt.

Unreine, verkehrt gerichtete (praktische) Zeiten sahen in dieser Welt des Ostens nur die barocke Form, den unnatürlichen Schnörkel, das fremde Gelb. Reinere Geister fühlten hier Beseligung, Durchdringung alles Seins durch zauberhafte Erkenntnis, Weltaufbau vom Fundament her, vom Grund der Dinge, vom Untergrund der Sprache. Wenn irgendwo, so war hier Kants letzte Weisheit, aber in den Weisheitsschriften des Ostens ist reines und praktisches Denken und Dichten eins. Weiß umblüht, farbig umblättert, heiter durchtönt, ein dauernder Besitz der Menschheit.

Wer, um nur ein Werk zu nennen, das »Wahre Buch vom südlichen Blütenland«, den Dschuang Dsi liest, empfindet nicht: sich und einen Teil seines Lebens an eine zufällige Erscheinung, an »ein« Buch hingegeben zu haben, sondern er fühlt die Ewigkeit des Werkes, seine eigene Zeitlichkeit, und ihm ist, als hätte das Buch ihn, den Leser, gelesen.

Heute hebt sich langsam, immer noch halb verdeckt und durch die Schatten allzu naher Dinge zackig verdüstert, so wie ein hoher Berg zu seinen Füßen noch den Schatten nachbarlicher Hügel trägt in dunklen Zacken, Wolfgang Amadé Mozarts Erscheinung aus dem Zufälligen ins Notwendige.

Aber vielleicht vermögen ihn heute manche zu erkennen als Meister von der Art der Meister des Ostens, deren Namen er nie gehört hat, deren Lehre er lebte, ohne ihre Buchstaben zu kennen. Im Lichte dieser Meister wird sein Leben wie seine Kunst, die so wenig Europa ist, ruhevoll und klar; jenseits der Form Europa, jenseits des Schnörkels Rokoko, entfaltet sich in kindhafter Fülle, zur Unsterblichkeit geboren, sein unbeschreibliches Werk, seine weise Seele, seine reine, schmerzlose Tragik, seine östliche Erfüllung und Vollendung.

Zwei europäische, westliche Probleme kennt China nicht: die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, das ist das Problem Hiob, und die nach der wirklichen metaphysischen Entwicklungsfähigkeit des Menschen, das ist die Frage Faust.

Wenn zwischen (irdischer) Ordnung und (himmlischer) Gerechtigkeit zu wählen ist, dann wählt China Ordnung, es bleibt in der Problemstellung bürgerlich, rastet auf der ersten Ebene; aber diese Ebene wird so tief wissend umfaßt, so tief umfassend emporgehoben ins Entstehen, Verstehen, daß die Lehre mühelos, leicht wie im Lerchenflug zur Vergeistung gelangt: Nachdenken, Nachschaffen, Entstehen, Verstehen, Wissen, Fassen, in Worte Fassen. Und wenn es den Wissenden faßt, den Berufenen ruft, gibt sich, als lauterste Begnadigung, der Sinn.

Wer China und seine unsagbare Zartheit kennt und weiß, mit welchem Übermaß an richtender Leidenschaft und leidenschaftlicher Richtung (hin nach der vorgefaßten Entscheidung) dagegen unser Abendland Probleme und Entscheidungen packt und an sein stürmendes Herz reißt, wird es begreiflich und mehr als das, wird es zwingend finden, daß sowohl Hiob als Faust urgewaltig aufwühlende Introduktionen haben, aber ermattete Schlüsse. So tragisch sich die Erfassung der Welt auf der höheren Ebene im Anfang (eben im Augenblick der Entscheidung des rasenden Herzens) gibt, so bleibt zum Schluß nichts bis zum Ende Gültiges, nichts des großen Anfangs Wertes. Im Faust ist des Spieles Schluß nur eine poetische Entschuldigung, welche die erst so leidenschaftlich geforderte Entscheidung zwischen Gott und Satan in hymnisch-himmlischen Worten auflöst. Was als die Tragödie begann, endet als die Oper.

Im Hiob bleibt der gewaltige Dichter in seiner Ebene, aber er ist nur an einen anderen Punkt derselben Ebene gelangt, es war »alles umsonst«, die irdischen Glücksgüter werden anstelle der »Idee des Gerechten« zurückerstattet, und er, der zum Spielball. Gottes Ausersehene, wieder in seine alte Lebenswürde zurückgestellt, wird nicht einmal mit der Heiligkeit eines Abraham oder mit dem Purpurhut des Salomo gekrönt.

Auch die Musik hat ihre Metaphysik. Schon Dschuang Dsi sagt: »Die Welt der Wirklichkeit, in der der Sinn verblaßt ist, gleicht der Musik, die den Saiten entströmt. Die Welt aber jenseits der Welt und der Verblassung des Sinns, sie gleicht der Musik, die nicht mit Saiten hervorgebracht wird.«

Er meint damit das Aufsteigen der Seele mit den Mitteln der Musik auf den Treppenstufen der Töne in eine höhere Sphäre. Beethoven scheint mir mit der Mehrzahl seiner Werke metaphysisch ganz in der Ebene Faust und Hiob zu leben. Musik als Schrei. Als Abgrund zwischen Sein und Schicksal (Hiob, fünfte Symphonie), sich selbst zerreißen zwischen »Ist« und »Muß«. Ein schreckenerregend gespannter Bogen, dessen Schwingungen in die tiefste Tiefe der Seele greifen. Gewiß, Simson rüttelt an den Säulen der Welt, er erschüttert die Urfeste, er bricht sie: aber geblendet, blind. Wenn nachher noch etwas bleibt, dann nur Morgenröte von morgen. Was bleibt, ist neue Welt hinter trübem Schmerzensgespinst.

Ja, eine des Lebens nicht werte Welt geht zugrunde, aber nicht an ihrem Herrlichsten geht sie zugrunde, nicht allein an dem Herrlichsten, nicht gerade mit ihrem Herrlichsten bricht sie ein in den friedlichen Himmel der Götter und wirft sich jubelnd, schauerlich schön in den Abgrund, den Übertod. Erst an der Neige seiner Tage fühle ich bei Beethoven rein das reinste tragische: herrlich leben ist herrlich untergehen. Da, am Ende des Lebens, ertaubt, verelendet, vereinsamt, da wird er tragisch, da wird er beglückend. In seinen spätesten Quartetten, zum Beispiel im Adagio des letzten F-Dur-Quartetts, entschwebt er dem höchsten Jammer auf eine nicht beschreibliche Weise: heiter, aus der Welt ausgelöst, mit ihr verbunden nur noch durch den seidendünnen Faden der vier Instrumente, aus dem Wandel ruheloser Zeiten sich hebend wie der Glanz des Mondes über den Wasserfall in den schwarzen Wäldern: Da begegnet Beethoven seinem Ahn und Meister Mozart, hier rührt er an Chinas Grenzen.

Die irdisch gebundenen Glieder strecken sich über Raum und Zeit, emporblühend in südlichem Hauch aus uralter Versteinerung.

Hier haucht er mit vergöttlichtem Hauch an die bösen Dinge, winkt fernhin über vernichtete Sternenwelten. Jetzt steht er, jetzt lebt er über den niederen Dämonen. Bohrend und wühlend mitten durch den Höllengrund der Erde hat er es erreicht, das letzte Geheimnis: sorgenlos, mühelos, selbstverständlich, sich selbst verständlich, sich selbst tröstlich, sich selbst zusprechend in ruhigster, biblischer Intracht: Da ist er Mozarts jüngerer Bruder, sein geliebter Sohn. Mit Morgenfreudenrot zu malen, mit weitem Sternenschlag zu tönen, sich zu erleben, um sich zu vergessen, dort zu wandern, wo es keine Grenzen mehr gibt, fern der Welt, im tiefsten Grunde ihr verwandt, denn er ist ja nur ihr Spiegel, denn er spielt ja nur ihr Spiel, das ist Mozarts Tröstlichkeit, das ist Chinas Freude, das ist das Ziel des Ostens.

Beethoven, ein tragisch-trotzender Kämpfer, ein Heros und Gigant, ein Herakles. Aber wer kann sagen, daß Mozart die »tragischen Töne« gefehlt haben, wenn er die zwei Klaviersonaten in c-Moll und a-Moll gehört hat, wenn er Don Giovanni kennt? Liegt nicht zwischen den tragischen d-Moll-Synkopen der Ouvertüre und denen des letzten Finales die ganze blühende Welt, vom ersten Takte bestimmt, als ein Spielball Gottes unterzugehen? Wohl, eine des Lebens nicht werte Welt geht unter, aber mit seinem Herrlichsten bricht Don Giovanni ein in den friedlichen Himmel der Götter, schauerlich schön wirft er sich in den Abgrund, den Übertod. Herrlich leben ist herrlich untergehen.

China ist tragisch? Nicht Held, nicht Heros? Vielleicht nicht im Sinne des Zweikampfes, sicher aber im Sinne der vielpoligen Welt, des Kampfes zwischen tausend höheren und abertausend niederen Sphären, zwischen Göttern und Menschen, Werdenden und Seienden, Wirkenden und Spielenden. Nur im Spiel kann der Mensch die Welt gewinnen, sich über sie winden, sie überwinden, im tiefsten Grunde erleben, über den Sprach- und Wortgrund hinaus. Philosophie ist nicht Teleologie (Hiob), Philosophie ist nicht Theologie (Faust). Philosophie ist Spiel, ist abgekürztes Verfahren, so wie das Würfelspiel abgekürztes Verfahren des Strebens nach Glück ist, Glücksspiel heißt.

Im Spiel hat China längst den Kampf des einzelnen, das Heroische erfaßt. Dies hat es tiefer erfaßt, als es Worte sagen können, deshalb steht hinter den Worten der Sinn. Nicht das Ergebnis, nein, nur die Richtung der Worte führt näher an den Sinn. Die unermeßliche Welt spiegelt sich in dem Unermeßlichen des Menschen. Die unermeßliche Welt spielt mit dem Unermeßlichen des Menschen, und die bezwingende, erschütternde, bezaubernde Einsicht in diese Urweisheit empfinden wir nie stärker als beim Genie, und reiner vielleicht nie, nie lächelnder, müheloser als bei Mozart.

Nicht auf Skepsis ruht die Grundsäule dieses Spieles, sondern auf Mystik. Deshalb scheint mir Mozart unbegreiflicher in seiner Mystik als Sebastian Bach. Darin liegt das Geheimnis seiner Heiterkeit. Nicht in der Begrenzung, sondern in seiner Unermeßlichkeit. Denn diese Erkenntnis muß beglücken: Der Mensch ist tiefer als die Welt, die er begreift. Er ist tiefer um die Tiefe der Worte, um die Tiefe der Gedanken, er ist tiefer um die Tiefe seiner künstlerischen Wesenheit. Nicht die Nacht ist tiefer als der Tag gedacht, sondern der Tag ist tiefer, und nur wer es weiß, ruht sicher auf dem Urgrund des Inmitten. Er gibt sich nicht auf, sondern er erfüllt sich; er haßt sich nicht, um mit den Brocken seiner Selbstliebe andere zu füttern; er ist stoisch, aber nicht mit der verachtenden Strenge Roms, sondern mit der vollendeten Eintracht mit allem Seienden. Er ist homogen geworden, »Ist« und »Muß« haben sich versöhnt, selbst der Übermensch tritt nicht über die Grenzen. Wer Mozarts herrlich reiche, aber doch einfache Kunstmittel kennt, wird Dschuang Dsi verstehen: »Der Übermensch steht über den Menschen, aber er steht im Einklang mit der Natur.« Mit zarten, aber unbegreiflich sicheren Linien scheint der große Meister des Ostens Dschuang Dsi vor vielen Jahrhunderten bereits Mozarts Erscheinung umrissen zu haben, wenn er sagt: »Die wahren Menschen vollbrachten keine Heldentaten, sie schmiedeten keine Pläne. Deshalb hatten sie beim Mißlingen keinen Grund zur Reue, beim Gelingen keinen Grund zum Selbstgefühl. Sie konnten durchs Feuer schreiten, ohne verbrannt zu werden. Auf diese Weise konnten sie ihre Erkenntnis erheben bis zur Übereinstimmung mit dem Sinn.

Die wahren Menschen der göttlichen Zeit hatten während des Schlafens keine Träume, beim Erwachen keine Angst. Ihre Speise war einfach, ihr Atem tief.

Die wahren Menschen holen ihren Atem ganz von unten herauf, während die gewöhnlichen Menschen nur mit der Kehle atmen. Krampfhaft und mühsam stoßen sie die Worte heraus, als erbrächen sie sich.

Je tiefer die Leidenschaften eines Menschen sind, desto seichter sind die Regungen des Göttlichen in ihm.

Die wahren Menschen der Vorzeit kannten nicht die Lust am Geborensein, nicht den Abscheu vor dem Sterben: gelassen kamen sie, gelassen gingen sie. Sie nahmen ihr Schicksal hin und freuten sich darüber.

So beeinträchtigten sie nicht durch ihre eigene Bewußtheit den Sinn und suchten nicht durch ihr Menschliches der Natur zu Hilfe zu kommen.

Dadurch erreichten sie es, daß ihr Herz fest wurde, ihr Antlitz unbewegt, ihre Stirne einfach, heiter. Waren sie kühl, so war es wie die Kühle des Herbstes, waren sie warm, so war es wie die Wärme des Frühlings. Allen Wesen begegneten sie, wie es ihnen entsprach, und niemand konnte ihr Letztes durchschauen. Die Art der wahren Menschen war es, ihre Pflicht zu tun gegen die Menschen, aber sich nicht durch Bande der Freundschaft an sie zu ketten. Sie waren weit erhaben über jede kleinliche Wirklichkeit, ohne damit zu glänzen. Freundlich lächelnd schienen sie fröhlich zu sein, und doch waren sie zurückhaltend.

Sie ziehen uns an und dringen ein in unser Innerstes, und reich beschenkt wird unser Geist durch sie gefestigt. Streng halten sie sich an die Formen ihrer Zeit, und stolz sind sie in ihrer Unbezwinglichkeit...

Bei wem Natürliches und Menschliches sich das Gleichgewicht halten, das ist der wahre Mensch.«

2

Wie einsam strahlt das Phänomen Mozart in der westlichen Welt, in der wir leben, und in der auch er gelebt zu haben scheint! Nur scheint: Denn kein Weg zu ihm – keiner, gipfelabwärts, von ihm. Kein Volk kann sich das Volk Mozarts nennen. Keines Reiches fruchtbar quellender Erdkrume entspringt dieser Genius. Aus keiner sozialen Schicht explodiert revolutionär seine menschliche Erscheinung. So wenig wie der Mensch, so wenig kristallisiert sich Mozarts Musik. In der Geschichte des Geistes der Menschheit eine einzige, unerreichte, scheinbar ganz willkürliche Zufälligkeit, ein gold- und grünfarbiger Raketenglanz, unerforschbar glühend über nie befahrenem Meer.

Verständlich ist es in diesem Sinne, daß Mozart als Ganzes nicht verständlich ist. Ein Paradoxon von Kierkegaardscher Tiefe, und nicht das einzige! Als Naturspiel des Glücks, ein wundertätiger Knabe, ganz Lächeln und ganz Schöpfung, so tritt, so funkelt Mozart, das Kind, in die Welt. Bestaunt, bewundert, angebetet zu werden, aber nicht geliebt, mit Geld, mit Ruhm überschüttet zu werden, verwöhnt, behütet zu sein, aber nicht geliebt, das schienen seine Gaben, seine Sterne, sein fast glückseliger Aspekt. Zum Lohn für die unverdiente Gnade des Himmels, am Kinde Mozart fast ebenso strahlend angezeichnet wie am Kinde Jesus, wird der Name geadelt, das Kind mit der Schwester von dem Vater auf Händen getragen, der Glanz schmeichelt sich durch das königliche Rokoko: Mozart, ein großer, ein unbestrittener Name: Man erkennt die einmal in tausend Jahren blühende Palme; die Welt fühlt, wenn der Fünfjährige eigene Kompositionen von seraphischer Holdseligkeit spielt, wenn er, kaum imstande, mit den kinderweichen Knöchelchen die Tasten zu zwingen, doch die regellos flutende Welt bezwingt in dem gemessenen Strom der fugenhaft getürmten Harmonien, da fühlt die Mitwelt, halb von der Sensation geblendet, halb religiösem Gefühl hingegeben, daß das Wunderkind mehr ist als ein Wunder: Wenn der unbewußte Knabe die Harmonie der Sphären meistert, ahnt man hinter den Tönen den Sinn. Die unermeßliche Welt spiegelt sich in dem Unermeßlichen des Menschen, des fünfjährigen Kindes ohne Vergangenheit. Nie hat das Kind schweren Kummer, nie durchdringende Freude erlebt. Aber seine Musik hat beides und mehr als das.

Und des Paradoxon erster Schritt: Das Wunderkind verwelkt nicht. Die überreif unreife Blüte sinkt nicht verdorrt oder verfault vom Stengel. Keineswegs geht der junge Mensch an der ungeheuren, kaum zu ertragenden Spannung zwischen sich und der Welt zugrunde. Der östliche Weise sagt: »Bei wem Natürliches und Menschliches sich das Gleichgewicht halten, das ist der wahre Mensch.« Das Menschliche Mozarts: das ist das Kind, das ist das reine, harte, unberührbar zarte Email der Kindheit.

Das Natürliche ist dem jungen Genius: die letzte Erfassung und reinste Auflösung der ganzen Welt musikalisch in der vollendeten Form. Wie kann sich dieses »Natürliche« mit diesem »Menschlichen« vereinigen?

Jedes Wesen muß wachsen können, wenn es gedeihen, ja, auch wenn es nur vegetieren soll; nicht zum Spaß altert und wächst der Mensch in einem Zuge, sondern: wie ein Tiefseefisch taucht er langsam aus dem Urgrunde des Seins, stößt sich sacht ab von der anderen Welt, der Vor-Geburt, um unermüdet über schillerndes Zwielicht sich hoch empor zu falten. Schießt aber diese menschliche Seele, vulkanisch befeuert, in einem Sprung mitten aus der anderen Zeit in die unsere, kommt solch ein Tiefseegebilde, noch mit dem matten Reif der schwarzblauen Woge beschattet, in einem Sprung in die lichtgesättigte Sphäre der Oberwelt, dann wird es sich selbst zerstören, wird sein Innerstes nach außen kehren, seine Seele wird ihm aus dem Munde hervorquellen. Der Mensch wird daran sterben, daß sich sein Inneres gegen ihn empört.

Bei Mozart aber der unbegreifliche Glücksfall, daß das Wunderkind trotz des »Sturzes nach oben« gerettet wird, daß sein gnadenspendendes Jünglingstum noch zauberhafter, noch ergreifender wird als die prämature Süße der Kindheit. Aber, zweites Paradoxon, hier jubelt die Mitwelt nicht, sie zögert, stockt, versagt – versagt alles. Je höher W. A. Mozart steigt, je mehr er sich mühelos, ruhig lächelnd dem hold Göttlichen nähert, je weiter er ins Feuer schreitet, ohne verbrannt zu werden, desto kälter wird die Welt, desto abstoßender werden die Menschen einer sonst zum Geben und Nehmen gleich dankbar bereiten Epoche. Hier ist einer, ecce homo; aber nicht vom Qual- und Marterpfahl herab stöhnt er verzweifelte Weltgebanntheit, Weltverbanntheit; er versöhnt die Welt mit ihrem Widerspruch, aber niemand hört ihn, und wenn ihn einer hört, klatscht er mit den Fingerspitzen Beifall, sieht zu, daß W. A. Mozart, um ärmlich sein Brot zu verdienen, stundenweise elend bezahlte Lektionen gibt, daß er tagsüber das Öl für die Lampe aufrobotet, bei der nachts zu schaffen er den ganzen Tag in Vorfreude zittert. Noch freut er sich, noch lebt er ohne Bitterkeit, ohne Revolte, tieferer Harmonie mit dem All gewärtig und bewußt, aber er lebt: von sich, für sich, mit sich. Dem Wunderjüngling ist das Wunderkind im Licht, die höhere Form wird überschattet von der niederen.

Man kann es verstehen und fassen, daß Bach hundert Jahre verschollen blieb, um dann neu zu erstehen. Er war Protestant, war mystischer Mathematiker, war kontrapunktlich gebundener Gottesanbeter, und die ihm folgende Epoche wandte sich von religiösen Problemen zu sozialen: Dem Dreißigjährigen Krieg folgte die Französische Revolution. Von der Form des Raumes (Bach ist Seele, im Kubischen erfühlt, ist in und aus der gotischen Architektur erblüht) ging sie über zur Kultur der Fläche und Oberfläche. Da aber der Fläche nur Malerei, nicht aber Musik entspringt, so war die Zeit nach Bach musikalisch trotz bezaubernder Einzelheiten ohne Entscheidendes. Aber in der nächsten aufsteigenden Linie Europas, die man Romantik nennt, lebte Bach auf, und so intensiv, als wäre er nie gestorben. Ganz anders Mozart: Er kommt aus keiner Zeit. Sein Wesentliches geht in keine Zeit.

Göttlich, ungeliebt, ungetrübt, unberührt, ein strahlend weißer Komet, schweift er durch unsere Welt des Grauens und der Vernunft.

Ungeliebt? Das dritte Paradoxon, aber, wie alle Paradoxa, nur scheinbar widersprechend dem wahren Lauf der Welt: Wahr ist, daß dem mit 35 Jahren Gestorbenen der gutherzige Vater das tiefste Erlebnis der Seele gewesen ist. Seine Frau war eine Nichtigkeit, seine Freunde waren Schemen, seine Herren waren Knechte. Mozarts Erscheinung, als Mensch wie als Genius, war glanzlos, machte nicht Epoche, verging, wie sie existiert hatte, ohne Aufsehen, nicht ohne Augenblickserfolge (Prag), aber ohne lauthallenden Ausklang. Ein Mann in der Menge. Eine Schöpfung chaotisch im Chaos.

Erkannte er die Zeit? Erkannte ihn die Zeit? Wird nicht aus dem Zufälligen sein Schicksal ins Notwendige gehoben, wenn man den östlichen Weisen hört: »Himmel auf Erden. Der Berufene: er braucht keine irdischen Güter; wozu bedarf er da der Handelsware? In allen diesen Dingen genießt er des Himmels Speise. Er hat der Menschen Gestalt, aber nicht der Menschen Leidenschaften. Weil er menschliche Gestalt hat, darum gesellt er sich den Menschen. Da er aber nicht menschliche Leidenschaften kennt, so haben ihre Wertungen keinen Einfluß auf sein Leben. Verschwindend klein ist, was ihn mit den Menschen verbindet; in stolzer Größe schafft er sich einsam seinen Himmel.«

Des Paradoxon nächster Schritt: daß W. A. Mozart auch von sich selbst nicht geliebt, nicht verstanden, nicht gewürdigt (und nicht entwürdigt von dem infamen Neingefühl der bösen Welt) dahinlebte, daß er als Persönlichkeit ein netter Junge, ein sympathischer Sohn, ein scharmanter Oberösterreicher oder Salzburger gewesen ist, daß ihm nie (?) das Bewußtsein seiner Größe und daher nie das Gefühl seiner Tragik gekommen ist, daß er nicht an dem Gegensatz zwischen »Ist« und »Muß« zerbrach.

Nie (?) heißt, daß es aber doch eine Zeit, eine Stunde im Leben (?) W. A. Mozarts gegeben hat, nämlich zwischen »Zauberflöte« und »Requiem«, an der letzten Neige seines Daseins, da ihm sein Leben als sonderbar, seine Existenz als gespenstisch, unnahbar erschien. Leben (?) heißt, daß jetzt, bei dem späten Jüngling Mozart, jene ungeheure Spannung zwischen Schicksal und Bestimmung, zwischen »Muß« und »Ist« zum Ausbruch gekommen war, so daß alles, was er als Mensch und als Bürger erlebte, kaum als Schatten seiner wirklichen Existenz, das ist: seiner Verwirklichung außer der Zeit und wahrhaft im Sinn, zu folgen vermochte. Man lese den Bericht seines letzten Lebensjahres und erfasse die Werke dieser letzten Zeit, und man wird fühlen: ecce homo, ein Mensch, entmenscht, geflügelt, aufgeschwebt in eine Überwelt. Der Schatten übersprungen.

Waren nicht Mozart, die Erscheinung von dieser Welt, und Mozart, die Erscheinung vom anderen Ufer, etwas anderes, Fremdes, Feindliches, mußte nicht der eine fallen, damit der andere auferstand?

Welche menschliche Existenz wäre adäquat den himmlischen Chören des oro supplex des »Requiems«?

Jetzt kam es, daß das furchtbare Wissen um die kämpfenden, um die schauerlich schönen Urgewalten der Welt in ihm zutage trat. Ihr Untergang an ihrem Herrlichsten, ihre Vernichtung dem Herrlichsten zuliebe. Mußte sich nicht der mitleidlos, tödlich fulgurante Sternensturz nach oben über ihn türmen, um ihn zu erdrücken?

Der Mensch W. A. Mozart war tiefer als die Welt, die er in seiner irdischen, lebentragenden Erscheinung begriff. Wie bei Kleists Penthesilea öffnet sich ihm in seinem Busen selbst der Abgrund des Unermeßlichen.

Was der Knabe W. A. Mozart überwunden hatte, übermannte nun den Mann: daß das Herz seines Herzens gegen sein leibliches Herz schlug. Daß die andere Seite aus seinem Munde trat. Ihn tötete, indem sie ihn erfüllte.

3

Eine so europafremde Erscheinung konnte, mußte verkannt werden. Mußte sie aber verkannt bleiben? Sieht man nicht immer noch W. A. Mozart als den Rokokokavalier mit dem »Mozartzopf«, glaubt ihn zu begreifen, wenn man ihn graziös, barock, zierlich, fein, scharmant und spielerisch nennt? Erfaßt man damit den tiefsten, lautersten, weil leisesten Tragiker, den die Musik (soweit wir sie kennen) hervorgebracht hat? Muß Mozarts Tragik, seine Art der Erfassung der Welt in ihren tiefsten Gegensätzen deshalb im Dunklen bleiben, weil sie bei ihm ganz von innen heraus, aus dem Herzen der Erscheinungen heraus, ganz nahe beim Mittelpunkt der rasenden Bewegung, also in der Stille, ohne Krampf, ohne Tränen, also auf wahrhaft göttlich lächelnde und nicht auf menschlich problematische Weise gelungen ist? Wer Mozart kennt, erkennt die Welt in ihren tiefsten Gründen. Alles weht im Schleierflug der Maja: der letzte Himmel, der Himmel auf Erden des Ostens, sein schmerzloses Gewölbe, sein mildes, siebenfach regenbogenfarbiges Licht.

Mozart entscheidet nicht. Er singt nicht die Schuld der Menschheit und ihre Sühne. Don Giovanni, Figaro, Zauberflöte sind mehr als Opern, aber Gleichnisse sind sie nicht. Mozart ist vollendet. Kung Dsi spricht: »Nichts kommt an ebenmäßiger Ruhe dem stillen Wasser gleich: das kann man zum Vorbild nehmen ... wer es vermag, mit dem inneren Einklang sein ganzes Leben im voraus zu durchdringen und seine Freudigkeit nie verliert, wer Tag und Nacht ohne Unterbrechung der Welt diese Frühlingsmilde zeigt und so entgegennimmt, was der Zeit entsprechend in seinem Herzen entsteht: der beweist die Völligkeit seiner Naturanlagen.« Mozart ist vollendet. Deshalb trägt er auf kaum zu begreifende Art in sich den Spiegel jeder Kreatur. Das wissende Kind. Das Göttliche.

Wie alles Vollendete ist auch er unmenschlich in gewöhnlichem Sinn. Denn menschlich ist nur Erschütterung, Unruhe und weher, wehender Schrei. Menschlich ist es, nicht der Welt gewachsen zu sein. Zu vollenden, zu versöhnen, zu trösten, zu vereinigen, das ist Sache und Segen der Göttlichen. In W. A. Mozart findet sich der Schatten aller Dinge, nicht auf dem Erdboden dunkel hingezeichnet, sondern hell auf mild durchleuchtetem Wolkengrunde. Schatten aller Worte, aller Jugend, aller Gefühle.

Hier konnte einer sagen, ich habe vollendet.

Leicht bewegt der Vollendete die ganze Welt in ihren Angeln. Mit einem Akkord wandelt sich die opera buffa vom Satyrspiel zur Tragödie des lebenden, lebensgierigen, lebensvergifteten Helden, denn der Vollendete sieht die Welt von allen Seiten. Er begreift sie mit beiden Händen, er sieht die Kugel von beiden Seiten, wie Gott sie sieht. Er spricht ohne Absicht und findet doch den Sinn. Oft singt Mozart wie ein Vogel, wie ein animal, aber es ist nicht das animal triste, sondern das glückliche, das nicht zerrissen wird zwischen Hier und Dort.

Mozart ist erotisch in allen seinen Werken, aber er ist nicht sinnlich; und das ist das Berückende seiner Gesänge, seines Cherubim, seiner Pamina, seines Don Oktavio. Er ahnt die Welt der trüben Gebilde, der heißen Taifune, aber er ist durch göttliche Fügung wahrhaft, ein Liebling Gottes, dem Stern der Dämonen entronnen; ein Tropfen, silberglänzend und zart singend, stürzt er nach oben, Symbol einer höheren Welt und ihr urkräftiger Zeuge.


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