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Daumier

Es scheint festzustehen, daß der Teufel nicht bloß mehr Macht über den Menschen besitzt als das gute, das wohlwollende menschliche Prinzip, sondern daß auch die Einsicht des Bösen in das Innerste der menschlichen Triebe und Getriebenheiten tiefer ist als die wohlmeinende, eudaimonistische Blickrichtung von der anderen Seite.

Aber der Teufel schafft nicht, sondern er verneint nur das zur fragwürdigen Gestalt Herangeborene. Er lächelt wie die erbarmungsloseste Wirklichkeit, von Zorn und Liebe unberührt, da er, wenigstens der Heiligen Schrift nach, aus dem wirklichen Leben längst ausgeschieden, nur als Gespenst Gottes unter uns wandert und webt.

In dem unhemmbaren Schaffensdrang mancher Irrsinnigen ist ein wenn auch verzerrter Spiegel einer dem Teufel entgegengesetzten Welt. Es liegt sogar in jedem Schaffen und Wollen, wenn es einer mit dem äußersten Ernst betreibt, ohne zu wissen, ob sein Gewinn mehr Bestand hat als das unweigerlich im Herbst sterbende und im Winter verfaulende Blatt, etwas von dieser Besessenheit der Irrsinnigen, etwas von dem Schaffenswahn und der zügellosen Gewalt des Kranken, welcher der erbarmungslosen Wahrheit mit schäumendem Munde, rollenden Augen und fieberhaft emsigen Händen entrinnen will und muß.

Aus diesen beiden Elementen, hier der überscharfen Einsicht des Bösen ins Böse und dort der Gottbesessenheit, dem Zeugungswahn des Irren, besteht jede dämonische Kunst. Sie ist im innersten Grunde disharmonisch. Da aber die ganze Welt, wie wir alle sie zu erleben verflucht und gesegnet sind, disharmonisch ist, wird diese dämonische Kunst, so abstoßend sie sich im ersten Augenblick auch darbietet, doch das wahrste Abbild der doppelt gespiegelten, zwischen Hölle und Erlösung schwankenden Seele des wahren Menschen sein. Rembrandt ist in diesem Sinne wahrer als Raffael und Tizian, Kleist wahrer als Schiller, Cervantes wahrer als Calderon, und Daumier wahrer als alle Meister und Schüler seiner Zeit.

Daumier ist geboren in Marseille, im Jahre 1808, er stand in den Jahren 1830-1860 auf der Höhe seines Schaffens. Man vergleicht ihn mit Balzac, denn seine unzählbaren Zeichnungen, Bilder, Lithographien geben in ihrer Gesamtheit ein ebenso ausführliches Lexikon der Mitwelt und Umwelt wie Balzacs »Comédie humaine«. Man vergleicht ihn mit Rembrandt, da seine ungeheure, in der engsten Kunstform (Gemälde kleinen Formates und hauptsächlich Lithographien) brausend explodierende Genialität zu den ergreifendsten Antithesen von Licht gegen Schatten kommt. Sein gegen Nichtsein, Himmel gegen Hölle, Myriadenzahl des dargestellten kleinbürgerlichen Objektes gegen die fast anonyme Einsamkeit, mönchische Verlassenheit des Schöpfers. Daß sich in Honoré Daumier einer der gewaltigsten Dichter und Gestalter ausspricht, ist in den letzten Jahren, als man den ungehobenen Schatz seiner Gemälde entdeckte, allen offenbar geworden. Er hat die Ergebnisse dessen, was man Expressionismus nennt, ebenso vorweggenommen wie Rembrandt. Rembrandts Hundertguldenblatt ist eine Schöpfung, die an Intensität, an Gottesbesessenheit, an Verzicht auf äußeren Lärm und Erfassung der inneren Musik alles leistet, was die Expressionisten verlangen; aber auch Daumier hat Blätter, Gemälde, Situationen, Zusammenballungen, Ausstrahlungen von so unerhörter Kraft, daß alle Meister seiner Zeit, selbst der große, glühende Delacroix, neben ihnen verblassen. Es gibt ein Bild von Daumier, L'émeute, Der Aufruhr, genannt, das die kühnste Fahne ist, die je zwischen den Grenzen eines Rahmens geschwungen wurde, ein einziger rasender Zug nach oben, nach vorwärts. Eine Hand, ein Arm, ein Auge, ein blonder Lichtfetzen, tiefe Abgründe von Schwarz zu beiden Seiten, nichts an Impression, nichts an Empfindung. Alles an Ausdruck, alles an Gewalt; nichts von Wehmut, Besinnung, alles der Gestalt. Ein Dramatiker von unglaublicher Geste, Aristophanes voll Spott, Shakespeare in der Fülle und Überfülle der von allen Seiten erfaßten menschlichen und unmenschlichen Herzen. Ein Realist, der den tollsten Phantasien unterworfen ist und dieser tollen Phantasie nicht anders gerecht werden kann als dadurch, daß er die Wirklichkeit, durch die Augen des Satans gesehen, mit der schaffenden Hand eines Gottes nachzeichnet. Ein Mann des größten Mutes, und schon deswegen ein ganz ungewöhnliches, am ersten Himmel strahlendes Gestirn. An lebender Freude, am Appetit auf das Dasein und seine tausend Verkleidungen ist ihm nur der in seiner Sphäre einzige Peter Paul Rubens verwandt. Er, Daumier, ist aktuell in einer Weise, die jeden Beschauer heute erschreckt. Würde dieser Daumier heute in die Zellen des Strafgefängnisses Moabit eingelassen, oder hätte er die Bürger in den Straßen, die Reichen am blendenden Bankett, die Redner auf den Tribünen von heute, die Kranken in ihren Betten und Zellen, die Liebenden im dunklen Park, die Alternden in den Asylen, die Mörder, die Hochstapler, Eitlen und Melancholischen von heute zu zeichnen, und als erstes und letztes: hätte er uns selbst zu zeichnen, so würde es nicht ein einziger neuer Strich, nicht eine neue Kontur in dem Schattenspiel von Helle und Finsternis sein als das, das schon seit fünfzig Jahren in seinem gesammelten Werk beschlossen und vollendet ist.

Es gibt nichts, was an uns allen sterblich ist, und das schon heute, mit jeder Stunde und an jedem Ort stirbt, das nicht schon dastünde in seinen Blättern. Man sieht sie nicht wie Kunst, nicht wie Traum, man sieht sie wie seinen Spiegel, man sieht sich, wie der Mensch nach dem Sündenfall sich sieht, verarmt, müde, von kleinen Leidenschaften gehetzt, immer hungrig, nie befriedigt, man erlebt den Buckel, die Krankheit, das Groteske, man sieht die Gemeinheit, den Schmutz, die Komik; man erkennt schaudernd die Notwendigkeit des allgemeinen Vergehens, man versteht die Häßlichkeit der menschlichen Kreatur, ihre Lächerlichkeit, ihr Grauen, ihre Leere, ihr Grab. Hier freilich endet auch sein Reich. Grandeur et misère, aus zwei Quellen wird die menschliche Existenz gespeist. Die Größe des Menschen, sein mit ihm geborenes Gottesgnadentum, seinen wohl zu verleugnenden, aber nie zu verlierenden Adel findet man bei Daumier nicht. Wo er positiv ist, wo er warm empfindet, wird er leicht sentimental, er hat nur den menschlichen Teil des Genies, Rembrandt aber den göttlichen, aufgebaut auf dem menschlichen.


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