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Das Ende der Novelle

Es heißt, daß kein Verleger von 1937 mehr einen Novellenband veröffentlichen will. Das Publikum, das sonst so geduldig ist und das seine Gunst weder dem Roman noch auch der Biographie vorenthält, sei einig in seiner Abneigung gegen dieses technisch so schwierige Gebilde der Novelle. In den Listen der Verleger fehlen tatsächlich schon seit geraumer Zeit die Novellensammlungen. Man erinnert sich keines jüngeren europäischen Autors, der einen Weltruhm der Novelle verdankt. Ist sie also wirklich tot? Obliegt uns nur die Pflicht, ihr einen Nachruf zu halten, der alle ihre herrlichen Glanzpunkte, alle die »unerhörten Begebenheiten«, angefangen vom »Falken« Boccaccios, den Novellen Cervantes', Stendhals, Goethes, Kleists, Gottfried Kellers, Maupassants, Tschechows, Turgenjews, Schnitzlers, bis zu den Novellen Thomas und Heinrich Manns, Stefan Zweigs, zu einer letzten Totenschau der Verehrung und Bewunderung aufbahrt, um sie dann zu ewiger Ruh zu bestatten? In Amerika ist die Novelle gesucht. Es besteht, um sich kaufmännisch auszudrücken, ein kuranter Bedarf an dieser Ware. Zeitschriften, Magazine, Tagesblätter, auch in Europa, in unstillbarem Hunger nach geistiger Hausmannskost, bestreiten wohl oder übel ihren allmonatlichen oder täglichen Konsum an Novellen. Aber damit soll das Leben dieser Kurzgeschichten beendet sein. Sie sollen ein kurzes Leben haben. Geschrieben, gedruckt, bezahlt (in Europa mäßig, in Amerika fürstlich)– und abgetan. Keine Dauer. Nicht einmal Eintagsruhm. Keine literarische Prüfung, die sich doch erst an dem in Buchform gesammelten Werkchen ausüben ließe.

So wird aus einer der großartigsten, weil schon in kleinem Rahmen weitbedeutenden Kunstform, die, ganz abgesehen von der Eigenleistung, zum Beispiel die Dramatik eines Shakespeare über Boccaccio befruchtet hat, eine Art Gebrauchsgraphik. Von jeher hat ein kleiner Umfang den Künstler gezwungen, zu äußerster Konzentration zu schreiten. Wenn dem Schriftsteller nur wenige Seiten zur Verfügung stehen, dann gilt kein literarisches Messe-Zelebrieren, kein langes Federlesen: Heran an den Stoff, an die dramatische Anekdote, heran an den Leser! »Aussi mit die tiafen Töne!« wie es in der Wiener Oper die ungeduldigen Hörer von der Galerie her verlangten! Mit Recht! Nicht mehr als zehn Seiten, Dichter, und werde trotzdem unvergeßbar, wirf den Leser um, vergewaltige ihn mit einem stürmischen, männlichen Glück! Gib die tiefsten (und höchsten) Töne, und damit sei es genug! Ich will die Meisterwerke nicht aufzählen, denen dies gelungen ist. Ihre Zahl ist zu groß, und ihre Wirkung umfaßt alle Bezirke der menschlichen Seele, Erschütterung, Grauen, Lachen, Technik, Jagdtrieb, Neugier, Humor, Spott; Philosophie und blütenhafte Lyrik, Haß, Liebe, Wollust, Hunger und Tod. Und immer der federnde Sprung, die Überraschung, die ganze Tragikomödie eines menschlichen Daseins, »in der Nuß«. Ist es wirklich an der Zeit, an den Seilen zu ziehen und das Sterbeglöckchen zu läuten?

Wie der Roman ist die Novelle eine internationale Kunstform. Eine gute Novelle von 1500 oder von 1900 verstand man und versteht man in der ganzen Welt. Das anglosächsische Genie strahlt in der Novelle ebenso wie das slawische. Was treibt sie also dem Niedergang zu? Kann sie vielleicht nicht mit den »unerhörten Begebenheiten« wetteifern, die jede Tageszeitung in der Rubrik: Politik und Volkswirtschaft bringt? Oder ist es vielleicht ihre summarische Kürze, die unbarmherzige Prägnanz, die vielleicht, um im Bilde zu bleiben, den Nagel zu ihrem Sarg darstellt? Möglich wäre es immerhin, daß der Leser von 1937 in dem unsäglichen Chaos einer glaubenslosen Zeit nicht mehr den Panthersprung des suggestiven Erzählers erträgt. Was er vorzieht, ist der manchmal so träge Aufbau einer kleinen Welt in sich, der ordentliche, kleinbürgerliche, private Mikrokosmos, wie ihn eigentlich fast jeder Roman darstellt. Im Roman fühlt man sich daheim. Er ist Brot. Die Novelle ist Feuer, Funke oder Blut, Träne, Schrei. Die Welt von heute stöhnt vor Hunger. Sie schreit nach substanzhafter Nahrung, nach einer lange anhaltenden Illusion zum mindesten. In angelsächsischen Ländern sind dickleibige Romane mehr erwünscht denn je. Ist dort Zeit nicht Geld? Aber sie sind friedlich, behaglich am Kamin zu lesen; sie bedeuten eine lange ausgedehnte Lebensillusion. Die Novelle gibt diesen behaglichen Genuß nicht her. Sie peitscht auf. Dann stößt sie den Leser zurück in die Tatsachenwelt. Aber die Menschen sind auf der Flucht vor den Tatsachen. Fakire drehen sich und Derwische heulen. Auch im Orient liebt man die nicht enden wollende Erzählung. Die Lebenswahrheit, die Logik, die Nacktheit jeder guten Novelle stößt den Leser ab, sie ernüchtert ihn vor der Zeit. Aber diese Zeit, sie geht vorüber. Ein gesünderes Geschlecht wächst heran, und möglicherweise wird mit ihm die alte Novelle wiederaufstehen, unsterblich; eine starke Form für starke Menschen, eine wahre für solche, die sehen können und wollen, was ist.


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