Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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25

Die Unterredung mit Wolfgang Wahnschaffe wirkte auf Lorm durchaus unangenehm. Er hatte die verstimmende Empfindung, daß dieser wohlerzogene junge Herr in aller Naivität der Meinung war, vor dem Schauspieler dürfe er sich in seiner ganzen Rücksichtslosigkeit und Zwecksucht demaskieren. Was lag, vor dem Schauspieler, groß daran? Man gab sich keine Mühe und spielte jovial mit offenen Karten.

Lorm spürte an jenem Abend das Nahen schwerer Krankheit; er war wortkarg, und wenn er sprach, messerscharf.

Es wurde ihm zugemutet, an einer Verschwörung teilzunehmen. Der Plan war, Christian auf einstimmigen Beschluß der Familie in eine Nervenheilanstalt zu sperren.

»Nun, was Nervenanstalt bedeutet, kann ich mir denken,« sagte Lorm, »aber was gewinnen Sie dadurch?«

»Freie Bahn,« war die Antwort; »Beseitigung der lästigen Erstgeburtanmaßungen und -vorrechte. Schimpf und Unglimpf, die von dem Menschen ausgehen, übersteigen jeden Begriff.«

Gewisse Individuen, auch Ärzte, waren zur Zeugenschaft und Hilfe bereit. Aber das Mittel der Internierung war immerhin das äußerste. Sollte es fehlschlagen oder die elterliche Einwilligung nicht zu erlangen sein, so blieb ein andres, für das gleichfalls schon vorgearbeitet war. Es mußte ihm der Boden abgegraben werden, man mußte ihn dazu bringen, die Stadt, besser noch das Land verlassen. Boykott an der Universität, wo Christian allerdings nur noch selten auftauchte, war möglich. Auch versprach es Erfolg, in dem Quartier, wo er wohnte, die Leute gegen ihn einzunehmen; man hatte damit schon begonnen. Nur war nicht allzuviel Zeit; das Übel griff um sich, das schändliche Gerede wurde störender mit jedem Tag. Wenn erst die Gerichtsverhandlung über den Mord kam mit ihrer fatalen Öffentlichkeit, war es zu spät. Er mußte vorher vom Schauplatz verschwinden. Aussichtsvoll war es, wenn Judith zu ihm ging, ihm freundschaftlich, schwesterlich nahelegte, das Feld zu räumen und die Angehörigen nicht zur Gewalt zu reizen, einer von den Gesetzen unterstützten Gewalt. Mißlang es Judith und weigerte er sich, so mußte der Vater heran, um jeden Preis. Er habe an Vater geschrieben, und wenn Einschneidendes nicht in Bälde geschehe, wolle er, in einer Woche etwa, telegraphieren. Überdies seien Freunde hingereist, um den Geheimrat zu raschem Handeln zu veranlassen.

Wolfgang saß da, ein zornbleicher Streber, der sich aufgehalten sieht.

»Was Judith betrifft, so ist sie in dieser Angelegenheit unzugänglich,« sagte Lorm kalt. »Ich werde noch einmal mit ihr sprechen, aber ich fürchte, es wird vergeblich sein. Ich meinerseits halte es für wünschenswert, daß sie zu Christian geht, obschon nicht aus demselben Grunde wie Sie. Aber Judith ist nicht überredbar. Schicksale andrer sind ihr Phantome, sogar das des Bruders. Vor einem Jahr noch konnte sie einen Vorschlag dieser Art mit Leidenschaft zurückweisen; heute steht es wahrscheinlich so, daß sie Christian einfach vergessen hat. Sie spielt und phantasiert ihr Leben so hin. Mir tut es leid, daß ich Christian nicht kenne. Aber Menschen kommen zu mir und sind so lange zu mir gekommen, daß ich die Fähigkeit verloren habe, zu ihnen zu gehen. Damit muß ich mich abfinden, es ist ein Übel für sich.«

Wolfgang wunderte sich über diese Worte und ward frostig. Er fragte Lorm, ob er glaube, daß Judith seinen Besuch freundlich aufnehmen würde. Lorm bejahte es. Danach hatte das Gespräch ein Ende; sie drückten einander mit höflicher Gleichgültigkeit die Hand.

Lorm wagte es nicht, Judith von der Zusammenkunft mit Wolfgang zu erzählen. Er hatte Angst vor ihrem Verhör, Angst, daß sie seine Sympathie für Christian spüren könne, Angst, in ihr Puppendasein eine Wolke zu bringen. Doch aus seiner Welt raubte sie nach und nach alles Licht. Die Beschränkungen im Haushalt wurden so schlimm, daß die Dienstleute sich bei ihm beschwerten. Sie litten Hunger. Bäcker und Fleischer konnten die Bezahlung ihrer Rechnungen nur erhalten, wenn sie mit dem Gericht drohten. Die Briefe, die sie an Lorm richteten, unterschlug Judith, denn sie fing jeden Morgen die Post ab. Er wußte es. Eines der Mädchen, das sie nach einem häßlichen Streit davongejagt, hatte es ihm verraten. Er machte Judith keinen Vorwurf. Auch die Ausgaben für seine leiblichen Bedürfnisse begann sie zu verringern, und er mußte sich in Restaurants und Weinstuben schadlos halten. Dafür wuchsen die Summen, die sie für Kostüme, Mäntel, Hüte und Antiquitäten verschwendete, ins Ungemessene. Sie kaufte alte Truhen und Schränke, die sie dann auf den Dachboden stellen ließ; chinesische Vasen, Renaissancedecken, Elfenbeinkästchen, geschliffene Gläser, Leuchter aus getriebenem Metall, alles kunterbunt und wahllos, nach Augenblickslaune; alles stand oder lag ohne zu schmücken, ohne zu dienen, um sie herum wie in einem Laden; bisweilen schenkte sie ein oder das andre Stück in großmütiger Anwandlung einer von jenen Frauen, die ihr gefällig nach dem Mund redeten, und deren Gesellschaft sie deshalb nicht entbehren konnte. Hinterher bereute sie ihre Freigebigkeit und behandelte die Betreffende schlecht, als wäre sie von ihr betrogen worden. Trotz der Unzahl der Gegenstände merkte sie es sofort, wenn einer fehlte oder nicht an seinem Ort war, verdächtigte jeden, der das Zimmer betreten hatte, und ruhte nicht eher, als bis sie des Verlorenen wieder habhaft geworden war. In ihrer Garderobe hingen Dutzende von Gewändern, Hüten, Tüchern, die sie nie am Leibe getragen, außer bei der Anprobe und beim Kauf. Es genügte ihr, sie zu besitzen; mochten sie altmodisch und von Motten zerfressen werden; sie besaß sie, und das genügte.

Lorm wußte es. Er verübelte es ihr nicht. Er erhob keine Einsprache. Er ließ sie gewähren. Er sah nicht oder wollte nicht die augenscheinlichen Folgen seiner unbegrenzten Fügsamkeit sehen, ihre Entartung, ihre Verwilderung, ihre Entherzung. Sie war für ihn immer noch die Frau, die alles geopfert hatte, um in sein einsames und unfrohes Leben zu treten. Er hatte seine schmerzhaft bescheidene Seele zu dauernder Dankbarkeit verurteilt und glaubte nicht das Recht zu haben, sich zu beklagen. Er, der so viele von sich gestoßen, gegen so viele hart gewesen war, so viel echte und tätige Liebe mißachtet hatte, dessen leisester Wink nicht bloß Befehl, sondern Entzücken von tausend Lauschenden und Wartenden war, duldete Erniedrigung und Vernachlässigung, duldete und schwieg wie zum Sühneentgelt und wich nicht in beharrlicher Treue.

Im Theater zitterte man in diesen Tagen vor den Ausbrüchen seiner Gereiztheit. Auch Emanuel Herbsts philosophische Ruhe vermochte wenig über ihn. Er reiste zu Gastspielen nach Breslau, Leipzig und Stuttgart. Seine Wirkungen waren tiefer, als sie seit Jahrzehnten einem Schauspieler beschieden gewesen. Man spürte die Wende, Wende einer Zeit, Vollendung eines Menschen. Das Publikum, zur Erfassung des Phänomens erst befähigt in der Bindung durch den Geist, ahnte Letztmaligkeit und war in der Leidenschaft seines Beifalls erschüttert wie von der tragischen Scharlachglut einer untergehenden Sonne, deren Versinken Unglück bedeutet.

Er kam nach Hause und legte sich krank hin. Nach einer gründlichen Untersuchung wurde das Gesicht des Arztes sehr ernst. Er forderte eine Pflegerin. Judith war im Konzert, die Hausdame versprach, es der gnädigen Frau zu melden. Als Judith zurückkehrte, setzte sie sich ans Bett, war erstaunt, schmollte ein wenig und sprach mit Lorm wie mit einem Papagei, der sich weigert, die üblichen Phrasen zu plappern. Die Pflegerin wurde von der Hausdame aufgenommen.

»Nun, mein Möpschen,« sagte Judith am andern Morgen, »bist du noch nicht gesund? Soll ich dir ein Breichen kochen lassen? Hast wohl bei den Schwaben da unten zu viel Guti-Guti gebampft?«

»Möpschen« lächelte, langte nach der Hand der Frau und küßte sie.

Erschrocken zog Judith ihre Hand zurück. »Pfui,« rief sie aus, »willst du das gleich lassen, du schlimmer Bub! Dein Geliebtes am Ende gar noch anstecken? So etwas! Das darf Möpschen erst, wenn man weiß, was ihm fehlt, und wenn es ungefährlich ist. Verstanden?«

Für den Nachmittag dieses Tages hatte sich Lätizia angesagt. Sie kam in Crammons Begleitung. Der Herzlichkeit in Judiths Begrüßung war brennende Neugier zu gleichem Teil beigemischt. Sie sahen sich an, die beiden Frauen, die sich seit der Mädchenzeit nicht gesehen. Wo bist du gestrandet? Wo du? fragten die Augen. Schmeichelworte überstürzten sich. Crammon gerann zu einer trüben Materie.

Nach einer Viertelstunde erschien das Mädchen und meldete, der Chauffeur des Grafen Rochlitz sei draußen; der Graf warte unten im Wagen. »Er soll heraufkommen,« befahl Lätizia, »nicht wahr, du erlaubst doch?« wandte sie sich an Judith, »ein alter Freund von mir.«

Der Graf folgte dem Geheiß. Er war charmant und erzählte Episoden vom Rennen.

Abermals nach einer Viertelstunde kam die Gräfin-Tante und mit ihr Ottomar und Reinhold. Es war vereinbart gewesen, daß sie Lätizia abholen sollten. Alle diese drängten sich in Judiths Salon und sprachen durcheinander.

Crammon sagte zu Ottomar, dem er in herablassender Weise manchmal seine Anschauungen und Gefühle vermittelte: »Als ich in Tunis war, erwachte ich eines Morgens von heftigem Stimmenlärm. Ich dachte sofort an einen Aufstand der eingeborenen Bevölkerung und stürzte aus dem Bett. Aber es waren nur zwei ältere nußbraune Damen, die vor meinem Fenster eine freundschaftliche Unterhaltung pflogen. Es ist immer so bei den Frauen. Mit einem Minimum von Ursache bringen sie es zu einem Maximum von Getöse. Sie retten beständig das Kapitol. Ich glaube übrigens, daß die Römer, die ja bekanntlich die hanebüchenste Nation der Erde waren, ein Volk von Maulhelden und Säbelraßlern, mit dieser hübschen Fabel von den Gänsen einen ziemlich ungalanten Hintersinn verknüpft haben. Ansonsten standen sie in der Beurteilung weiblicher Natur auf der Stufe von mutierenden Tertianern. Beweis: die Geschichte von Tarquinius und der Lukretia. Ein haarsträubender Unsinn. Zehnpfennigromantik. In meinem Elternhaus hatten wir einen Weihnachtskalender, da war die Begebenheit in Verse gesetzt und illustriert. Dieser Katarakt von Züchtigkeit hatte mir ganz verkehrte Begriffe von grundlegenden Lebensverhältnissen eingeimpft, und es dauerte Jahre, bis ich den Schwindel durchschaut hatte.«

Ottomar sagte: »Ich gebe Ihnen alle preis, bloß Lätizia nicht. Sehen Sie mal hin, wie sie sich bewegt, wie sie den Kopf trägt. Sie ist immer die Auserlesene. Sie macht jedes Beisammensein von Menschen festlich. Ich finde, sie ist wie ein Sinnbild des schönen Augenblicks. Sie wird nie altern, und was sie tut, ist nur wie ihr Traum. Ihre Handlungen haben keine Folge, nicht einmal Wirklichkeit, und sie erwartet auch keine von ihnen.«

»Sehr tief, sehr fein,« entgegnete Crammon seufzend, »aber der Himmel behüte Sie davor, mit einem solchen Feenwesen praktische Wirtschaft zu versuchen.«

»Soll man auch nicht, darf man auch nicht,« sagte der junge Mann überzeugt.

Crammon erhob sich und ging zu Judith. »Ist Edgar Lorm nicht zu Hause, gnädige Frau?« fragte er. »Kann man zu ihm? Wir haben uns lange nicht gesehen.«

»Edgar ist krank,« antwortete Judith mit zusammengezogenen Brauen, als habe sie Grund, sich durch diese Tatsache beleidigt zu fühlen.

Ein Stillschweigen entstand. Alle spürten Unbehagen. Und Crammon sah, wie wenn es ein neues Gesicht wäre, Judiths hervorspringende Backenknochen und durch Schminke beschädigte Haut, den süchtig verpreßten Mund mit bitteren Falten, den flatternden Blick, die unsteten Hände. Es war etwas Verdorbenes an ihr und um sie, von Krampf und Spielwut Herrührendes, von gelockerten und morschen Geweben, eine Heiterkeit, die Grimm war, eine Belebtheit, die an knarrende Gliederpuppen mahnte.

Lätizia hatte vergessen, von Christian zu sprechen. Erst auf der Straße fiel ihr der Zweck des Besuches ein. Sie machte Crammon Vorwürfe, daß er sie nicht erinnert habe. »Es verschlägt nichts,« sagte Crammon, »ich will morgen wieder hin, und du kannst ja mitkommen. Ich will Lorm sehen. Mir ahnt nichts Gutes. Da ist Unheil im Zug.«

»Ach, Bernhard,« klagte Lätizia, »du unkst die Sonne um ihren Schein und die Rosen um ihren Geruch.«

»Nein, ich weiß nur, daß sich das Gesicht der Welt verändert, ohne daß ihrs merkt, ihr armen, verkauften Seelen,« antwortete Crammon mit erhobenem Finger.

Und er ging zu Borchardt, wo er köstlich zu speisen gedachte; Henkersmahlzeit nannte er es jedesmal.

26

Als Michael an Johannas Seite die Kirche verließ, war er von dem Erlebnis der Stunde durchwühlt.

Sie fuhren bis zur Schönhauser Allee, dann gingen sie zu Fuß. Das Schneegestöber und der hochliegende Schnee machte dem Hinkenden das Gehen doppelt beschwerlich.

Er hatte während der ganzen Fahrt geschwiegen, obgleich sich in seinem Gesicht Empfindungen und Gedanken mit pathetischer Heftigkeit verrieten. Sich zu äußern, hatte er erst gelernt; früher war alles in ihm erstickt. Seit er es gelernt hatte, ergriff er den Anlaß mit Begier; das Wort war frisch, die Gebärde beladen und übermäßig; der Ton, in dem er sprach, trotzte gegen sein Alter; mit schrillen Akzenten betäubte er Anfälle von Schüchternheit; aus Furcht, nicht so ernst genommen zu werden, wie er sich selbst, wie ihn seine Wirrnisse, seine Erkenntnisse, sein neues Mitleben erschienen, verteidigte er gewagte Behauptungen noch hartnäckig, während seine Überzeugung schwankend wurde.

Auf dem Hinweg hatte er immer wieder von Christian zu sprechen begonnen. Sein Gemüt war erfüllt von Christian. Verehrung, halb zaghaft, halb überschwenglich, äußerte sich in vielfacher Weise. Er hatte des Aufblicks entbehrt, sein Geist der Richtpunkte und der Trunkenheit der Jugend; nun gab er sich desto williger hin. Doch sah er, seiner Grüblernatur gemäß, an diesem einfachen Menschen Rätsel und Probleme, und hierin konnte ihn Johanna eines Besseren nicht belehren. Sie wich aus. Der Knabe war ihr zu stürmisch, zu unbedingt, zu fordernd. Er verletzte die Schamhaftigkeit ihres Gefühls, er zerriß immerfort Schleier. Gleichwohl fesselte sie sein Wesen; es hielt sie in Unruhe und leiser Qual. Sie brauchte Unruhe und leise Qual. Sie konnte sich einbilden, ihn zu schützen, und so hatte sie eine Aufgabe, so war sie besser vor sich selbst geschützt.

Er sagte, die Musik sei es nicht gewesen, die ihn überwältigt habe. Solche Musik sei eine schwere Formensprache, und um das fehlende Wissen davon dürfe man sich nicht durch den Klang herumlügen, scheine ihm. Man müsse wissen, man müsse lernen.

»Was war es also? Was hat Eindruck auf Sie gemacht?« forschte Johanna, die den Knaben abwechselnd mit Du und Sie anredete, je nach ihrer Laune und Sympathie, je nachdem er ihrer zu bedürfen schien oder nicht. Ihre Frage enthielt nur oberflächliche Neugier. Sie war müde vom Weg, müde vom Tag, unlustig zum Wort.

»Die Kirche war es,« sprach Michael, »der Lobgesang auf Christus, die andächtige Menge.« Er stockte und senkte den Kopf. Als Kind und bis vor kurzem noch habe er nur mit Haß an Jesus Christus denken können, fuhr er mit seiner ein wenig heiseren und gebrochenen Knabenstimme fort; dem draußen im Lande jüdisch erzogenen Juden, der von Andersgläubigen Hohn und Beschimpfung erfahren, sei es eingefleischt. Christus sei ihm der Feind, der, der sein Volk verlassen und verleugnet habe, der Abtrünnige, die Ursache aller Leiden. »Ich weiß es noch, wie ich an Kirchen vorübergeschlichen bin,« sagte Michael, »ich weiß es noch, mit welcher Furcht und welchem Zorn. Ruth kannte so etwas nicht; Ruth hatte keinen Sinn für so bittere Dinge. Für Ruth war alles süß und hell. Sie flog über das Gemeine hinüber. Bei mir fraß es, und ich hatte niemand, der mich hörte.«

Aber eines Abends, wenige Tage vor ihrem Verschwinden, habe ihm Ruth, ohne daß er darum gebeten und ohne daß er mit ihr gesprochen, nur als habe sie auf irgendeine Weise an ihn heran und seinen Drang und Druck lösen gewollt, eine Stelle aus dem Evangelium der Christen gelesen, die Stelle nämlich, wo der auferstandene Jesus den Simon Petrus fragt: Simon, liebst du mich? Simon antwortete: Du weißt, daß ich dich liebe; und Jesus sagt zu ihm: Weide meine Lämmer. Dann fragt er zum zweitenmal: Simon, liebst du mich? Ja, Herr, sagt Simon, du weißt, daß ich dich liebe. Und Jesus sagt: Weide meine Schafe. Und zum drittenmal fragt Jesus: Liebst du mich, Simon? Da ging es Petrus zu Herzen, daß er ihn dreimal gefragt, und er sagt: Herr, du weißt ja alles, du weißt, daß ich dich liebe. Und Jesus sagt: Weide meine Schafe. Und dann sagt er: Folge mir nach.

Er habe seiner Schwester das Buch aus der Hand gerissen und darin geblättert und sich nicht verführen lassen wollen, aber ein Satz sei ihm aufgefallen, bei dem er verweilt habe, der Satz: Und er bedurfte es nicht, daß jemand ihm Kunde von einem Menschen gab, denn er wußte, was im Menschen war. Da sei kein Haß gegen Christus mehr in ihm gewesen. Doch an ihn glauben und sich an ihn wenden, das habe er nicht vermocht. Er meine nicht Frömmigkeit und Gebet, er meine die Idee, was dem Menschen Gewähr gebe und dem Geist Bestand. Das habe er heute erfaßt, bei dem hinaufströmenden Gesang und den tausenden erst erloschenen, dann feierlich brennenden Augen; liebst du mich, Simon, das habe er erfaßt bis auf den Grund; und das »folge mir nach« bis auf den Grund; und sein Jude-Sein, Verstoßen-Sein habe sich aus Schmerz und Scham in Besitztum und Stolz verwandelt, in die Gewißheit eines Dienens und einer besonderen Kraft; »es war wunderbar, wunderbar,« beteuerte er, »ich begreife es noch nicht, ich bin wie eine angezündete Lampe.«

Johanna erschrak vor dem Ausbruch einer ihr so fremden und unverständlichen Leidenschaft.

»Weide meine Schafe,« Michael sang es beinahe in den Schnee hinein; »weide meine Schafe.«

Erweckung, dachte Johanna mit mattem Grauen und Neid, er ist erweckt worden.

Es wurde ihr immer deutlicher, mit welcher Inbrunst sich der Knabe an Christian geschlossen hatte. Als sie in der Stolpischen Straße vor der versperrten Tür warteten und Christian mit Niels Heinrich herauskam, ohne Blick und Gruß, ohne die beiden zu gewahren vorüberging und mit den. schlotternden, schlürfenden, verzerrt aussehenden Menschen im Torweg verschwand, hinkte Michael ein paar Schritte hinterher, starrte in die von weißen Schneefunken durchwirbelte Dunkelheit des Hofes, kehrte sich dann zu Johanna um und sagte flehend: »Er soll nicht mit ihm gehen. Laufen Sie ihm nach, rufen Sie ihn zurück. Er soll um Gottes willen nicht mit ihm gehen.«

Johanna, obgleich selbst erregt, beschwichtigte den Exaltierten. Sie blieb noch eine halbe Stunde bei ihm, zwang sich zur Unbefangenheit, kochte lässig plaudernd Tee und deckte den Tisch für das kalte Abendessen, dann ging sie nach Hause. Am andern Morgen um acht Uhr läutete Michael an ihrer Wohnung. Sie war kaum mit dem Anziehen fertig, und als sie zu ihm in den Flur trat, stand er bleich, übernächtig, nach Worten ringend da. »Wahnschaffe ist nicht heimgekommen,« murmelte er; »was soll man tun?«

Die erste Bestürzung niederkämpfend, mußte Johanna lächeln. Sie ergriff Michael bei der Hand und sagte: »Fürchte nicht für ihn, ihm geschieht nichts.«

»Sind Sie dessen so sicher?«

»Ganz sicher.«

»Wie geht das zu?«

»Ich weiß es nicht. Aber seinetwegen Angst haben, das könnte mir nie einfallen, das ist pure Gefühlsverschwendung.«

Ihre Ruhe und Bestimmtheit machten Eindruck auf Michael. Doch bat er sie, mit ihm zu gehen und bei ihm zu bleiben, wenn es ihr möglich sei. Sie überlegte und versprach es. Auf dem Rückweg gingen sie in eine Buchhandlung und kauften die Bücher, die Lamprecht bezeichnet hatte. Christian hatte Michael das Geld dazu gegeben. Er wollte mit Selbststudium heute gleich beginnen, aber er war nicht fähig, sich zu sammeln. Er saß am Tisch, blätterte, schlug Hefte auf, hob den Kopf und lauschte, preßte die Hände gegeneinander, sprang empor und ging im Zimmer herum, sah in den Hof, blickte forschend Johanna an, die an einer Stickerei arbeitete und fröstelnd und verhärmt in der Sophaecke kauerte und mit den kleinen weißen Zähnen an der Lippe nagte.

Es verging der Tag und die zweite Nacht, ohne daß Christian zurückkehrte. Die Ungeduld und Aufregung des Knaben war kaum mehr zu zähmen. »Wir müssen uns rühren,« sagte er; »dasitzen und warten, das ist blödsinnig.« Johanna, die nun auch besorgt wurde, wollte zu Botho von Thüngen gehen oder zu Doktor Voltolini. Während sie den Hut aufsetzte, kam Lamprecht. Als er hörte, um was es sich handelte, sagte er: »Ihr tut Wahnschaffe keinen Gefallen, wenn ihr Lärm schlagt. Kommt er nicht, so hat er seine Gründe. Eure Angst ist kindisch und seiner unwürdig. Wir wollen lieber etwas Nützliches beginnen, mein Junge.«

Auch er hatte, nur in höherem Grade, geistig befestigt, die Zuversicht, die Johanna instinktiv empfunden. Noch einmal unterwarf sich Michael und war für zwei Stunden williger Schüler. Gegen Mittag, Johanna und Lamprecht waren weggegangen, kam der Fuhrmann Scholz von nebenan mit einer unbeglichenen Rechnung. Er sagte, er habe für die Bespannung zum Leichenkondukt der verstorbenen Mamsell Engelschall sein Geld noch nicht erhalten. Michael antwortete, er werde sein Geld kriegen, er solle morgen wieder vorsprechen, Wahnschaffe habe es sicher nur vergessen. Der Mann schimpfte und entfernte sich. Aber draußen im Hof stellte er sich zu einigen Leuten, und Michael hörte, daß sie gehässige Reden führten und daß dabei Christians Name genannt wurde. Er ging in den Flur und ans Tor; die giftigen Worte und Anspielungen im ordinärsten Jargon, die er vernahm, trieben ihm das Blut in die Wangen. Er hatte sofort das Gefühl einer Verhetzung. Ein rothaariger Bursche, Zimmermaler vom vierten Stock, tat sich besonders hervor. Er machte die andern auf Michael aufmerksam; einer warf eine rohe Bemerkung hin; die ganze Gesellschaft wieherte, und als Michael mit dem Mut seiner Entrüstung ins Freie trat, maßen sie ihn mit finsteren Blicken.

»Was habt ihr gegen Wahnschaffe?« fragte er laut und duckte sich wie eine Katze.

Sie wieherten abermals. Der Rothaarige streifte feixend seine Rockärmel hoch. Ein Weib, das an einem Fenster oben lag, langte in die Stube zurück und schüttete einen Kübel voll schmutzigen Wassers herunter. Michael ward davon bespritzt. Dröhnendes Gelächter. Der Fuhrmann Scholz stemmte die Arme in die Hüften und sprach von Tagedieben, die das arbeitende Volk verhohnepiepelten mit Schnickschnack und Blendwerk. »Judenjüngel, mach dünne!« pfiff es Michael ins Gesicht. Er wurde bleich und tastete hinter sich an die Mauer.

Da kamen Botho von Thüngen und Johanna aus dem Torweg des Vorderhauses. Sie blieben stehen und schauten schweigend auf die Gruppe im Schnee und auf Michael. Sie begriffen. Johanna zog Michael ins Haus. Er berichtete atemlos. Er war so feurig, so edel empört, daß seine Züge Schönheit hatten.

Nach einer Weile klopfte es an die Tür. Amadeus Voß trat ein. Übertrieben höflich grüßend, schien er keineswegs überrascht, Johanna hier zu finden. Es schien ihn auch nicht weiter zu stören; er sagte, er müsse Christian Wahnschaffe sprechen. Thüngen erwiderte, man wisse nicht, wann Christian nach Hause komme, man wisse nicht, ob er heute überhaupt noch komme.

Voß sagte trocken, er habe Zeit und werde warten.

Johanna war wie gelähmt. Sie konnte sich nicht entschließen, fortzugehen. Nur keine Demonstrationen, nur kein Aufsehen. So dauerte sie sich in die Ecke des Ledersofas, einem Tiere gleich, das sich in einen Winkel verkriecht, und nagte mit den Zähnchen an der Lippe.

Sterben, dachte sie unvermittelt, sterben, das ist das einzige.

27

Das Fest war vorüber, die Gäste waren abgereist, Eva und Susanne waren allein im Schloß zurückgeblieben.

Die südliche Küste hatte schon den vollen Frühling empfangen; es war ein Frühlingsfest gewesen, in tropischer Blütenfülle und heroischer Landschaft. Die Flucht aus dem Winter des Nordens, so rasch vollzogen, daß ihr keine Würde standhielt, hatte die Gemüter berauscht, in erhöhter Lust des Atmens, in ungeistigem Erstaunen, wie Trinker und Schlemmer manche, wie befreite Gefangene andre, hatten sie sich dem Seltenen überschäumend hingegeben, die Kürze der vergönnten Frist wissend. Dies Wissen breitete einen Schleier von Melancholie über die Freude.

Noch bebte die Atmosphäre von berückenden Worten, von Schritt und Lachen der Frauen; noch war alles voller Echo, der Lärm nicht ganz verstummt, und in der Nacht sehnte sich das Dunkel im stillen Park nach dem Lichterglanz, den die Sterne oben nicht vergessen machen konnten.

Aber sie waren alle fort.

Der Großfürst war der Einladung eines österreichischen Erzherzogs zur Jagd gefolgt; Eva sollte ihn im April in Wien treffen und mit ihm nach Florenz fahren. Sie hatte keinen ihrer Freunde aufgefordert, länger zu verweilen, keine der Damen, keinen der Künstler und der Paladine. Einmal wieder allein zu sein, das war ein Hunger ihrer Seele geworden; sie war nicht mehr allein gewesen seit vier Jahren.

Sogar Susanne war ihr im Wege. Sie wies sie aus ihrer Nähe, wenn sie mit törichter Besorgnis die Herrin umschlich. Sie wünschte nicht, daß man zu ihr spreche, daß man sie anschaue; sie wollte ganz entschlüpfen in das kristallene Gebilde Einsamkeit. Sie hatte es geschaffen, sie wollte es erfahren; und unversehens wurde sie darin sich selber fremd. Es geschah etwas mit ihr, das ihr das Blut im Herzen kühl und krank machte.

Sie konnte nicht lesen, keine Briefe schreiben, nicht an Pläne denken. Kaum hing eine Stunde mit der andern lebendig zusammen. Tagsüber ging sie am Meer, ohne Begleitung, saß unter Blumen im Garten; den größten Teil der Nacht lag sie in einer offenen Halle, vor der sich der Himmel wie ein Vorhang aus dunkelblauem Samt spannte. Oft war die Morgendämmerung schon angebrochen, wenn sie sich zu Bett begab. Sie hatte eine Empfindung von sich wie von gelockerter Natur und aufgelöstem Rhythmus. Bisweilen spürte sie Bangigkeit; der Mittag glühte sie stählern an, der Abend war ein Tor ins Ungewisse.

Sie hatte sich Nachrichten verbeten. Post, die dringend zu sein vorgab, wurde von Susanne und Monsieur Labourdemont erledigt. Doch beim zufälligen und zerstreuten Blick in den Brief eines Freundes erfuhr sie von Iwan Becker. Was sie las, beschäftigte sie. Es war Ahnung und Berührung der Gefahr. Wenn sie nachts in der offenen Halle lag, war fahles Zucken hinter dem dunkelblauen Vorhang des Himmels, und die Stille wurde tückisch.

An der Spitze von fünfzehntausend zarentreuen Arbeitern war Iwan Becker vor das Winterpalais gezogen, um zwischen dem Kaiser und dem Volk eine unmittelbare Aussprache und Verständigung herbeizuführen. Die friedliche Armee der Demonstranten war von Kosakenregimentern umzingelt worden, und das Ende war ein Blutbad ohnegleichen. Abermals rottete sich das Volk zusammen, und Becker, auf einer Tribüne, die Arme zum Himmel gereckt, verfluchte den Zaren. Flüchtig irrte er im Land umher, verbarg sich in Klöstern und bei Bauern. Da schickten ihm die Meuterer des »Pantelejmon« und »Potemkin« Botschaft, er möge sich ihnen anschließen. Die Mannschaften der beiden Dreadnoughts hatten im Hafen von Sebastopol den Gehorsam verweigert, hatten ihre Kapitäne und Offiziere ermordet, die Leichen ins Meer geworfen oder in den Feuerungsraum, hatten sich der Schiffe bemächtigt, ihre eigenen Befehlshaber gewählt und waren in See gegangen. Ob Iwan Becker dem Ruf der Rebellen gefolgt war, wußte man nicht; seine Spur hatte sich verloren. Aber viele behaupteten bestimmt, er habe sich auf den schwimmenden Freistätten vor den Nachstellungen der politischen Polizei in Sicherheit gebracht und eine bedeutende Herrschaft über die verwilderten Matrosen erlangt.

Es war seine dritte Erscheinung, in Aufruhr und Blut.

Von Gärtnern, Fischern, Bauern zugetragen und verbreitet, liefen Gerüchte. Die Meuterer hausten auf dem Meer als Piraten, kaperten Handelsschiffe und bombardierten Hafenstädte. In manchen Nächten sah man Raketen steigen und hörte fernen Kanonendonner. Wo sie nicht Angriffe überlegener Streitkräfte zu befürchten hatten, gingen sie an der Küste vor Anker, plünderten Städte und Dörfer, machten nieder, was sich zur Wehr setzte, und erfüllten die Provinz bis weit ins Binnenland hinein mit Schrecken.

Eva wurde gewarnt. Sie wurde gewarnt von dem Ältesten eines Bauerndorfes, dessen Gemarkung an den Schloßpark grenzte; sie wurde gewarnt durch eine Estafette des Marinekommandanten in Nikolajew, der ihr mitteilte, die aufständigen Matrosen beabsichtigten einen Anschlag gegen die kaiserlichen Besitzungen in der Krim, namentlich aber gegen die des Großfürsten; und sie wurde gewarnt durch ein anonymes Telegramm aus Moskau.

Sie beachtete die Warnungen nicht. Sie glaubte, dies, gerade dies nicht fürchten zu sollen, nicht fürchten zu dürfen, Bedrohung von dorther nicht, das Niedrige, Häßliche nicht; und sie blieb. Doch dies Bleiben war Warten. Ein Gefühl der Unentrinnbarkeit war über sie gekommen, keineswegs ausgehend von den Meuterern und ihrem verbrecherischen Wüten, sondern vom Geiste her und von der tiefen Logik der Dinge.

Eines Abends stieg sie auf den Turm mit der goldenen Treppe. Auf der Plattform oben über die dunkeln Baumwipfel und Meer und Land schauend, gewahrte sie im Norden den Horizont dunkelrot besäumt. In einen Spitzenschleier gehüllt stand sie und verfolgte sinnend das Anschwellen der Glut, ohne daß Sorge oder die Frage nach der Ursache an sie rührte. Sie hatte ein durchdringendes Gefühl des Schicksals und beugte sich fatalistisch.

Susanne wartete im Saal der arabischen Fresken. Mit ihrem Derwischgang auf und ab schreitend, kämpfte sie gegen verdüsternde Befürchtungen. Die Flamme brannte nieder: was geschah mit Lukas Anselm? Das Um-ihn-Wissen und Für-ihn-Sein war in den Jahren des Glanzes und der Erfüllung nicht schwächer in ihr geworden. Das Werk, die Tänzerin, der er Art und Atem eingehaucht, hatte ihr als Zeugnis für ihn gegolten, nach wie vor, und als Kunde von ihm. Und jetzt, was wurde da? Dunkelheit kroch her; der Golem hielt inne in seinem entzückenden Spiel. Erlahmte und erkaltete die Hand, die ihn geformt hatte und befehligte? War der erhabene Geist müde geworden und besaß er die Kraft in die Ferne nicht mehr? War das Ende gekommen?

Eva trat ein, stutzte bei Susannes Anblick und setzte sich auf eine Ottomane, zu deren Häupten Stöcke mit leuchtenden Hortensien aufgestellt waren, die man jeden Morgen auswechselte. Sie war durchkältet vom Seewind; die Augen in den tiefgemeißelten Höhlen blickten streng. »Was willst du?« fragte sie.

»Ich glaube, wir sollten abreisen,« sagte Susanne, »länger zu zögern, wäre nicht klug. Die kleine Militärabteilung, die von Jalta unterwegs ist, würde uns bei einem Überfall auf das Schloß wenig nützen.«

»Wovor fürchtest du dich?« entgegnen Eva; »fürchtest du dich vor Menschen?«

»Ja, ich fürchte mich vor Menschen. Und Menschen gegenüber ist Furcht wohl am Platz, scheint mir. Nimm deine Phantasie zu Hilfe und denke ihre Körper, ihre Stimmen. Wir sollten reisen.«

»Es ist töricht, sich vor Menschen zu fürchten,« beharrte Eva, stützte den Arm auf ein Kissen und den Kopf in die Hand.

Susanne sagte: »Aber auch du hast Furcht. Oder was ist es? Was geht mit dir vor? Hast du Furcht? Wovor hast du Furcht?«

»Furcht . . . Ja, ich habe Furcht,« murmelte Eva; »wovor? Ich weiß es nicht. Vor Schatten und vor Träumen. Es ist eine Abwesenheit in mir. Meine Schutzgottheit ist abwesend. Das macht Furcht.«

Susanne erbebte bei diesen Worten der Bestätigung. »Soll ich die Koffer packen lassen?« fragte sie demütig.

Die Frage überhörend, fuhr Eva fort: »Die Furcht entsteht aus der Schuld. Siehst du, ich gehe herum und bin schuldig. Ich öffne mein Kleid, weil mir enge drin wird, und bin schuldig. Ich greife nach der blauen Blüte da, und bin schuldig. Ich sinne und sinne, grüble und grüble, und kann den Grund nicht finden. Den innersten, untersten, ich kann ihn nicht finden.«

»Schuldig?« stammelte Susanne bestürzt, »du, schuldig? Was meinst du? Was redest du? Kind, du bist krank! Süße, Einzige, du wirst mir krank.« Sie stürzte vor Eva hin, umschlang den zarten Leib und schaute mit den feuchtschwimmenden Beerenaugen zu ihr empor. »Laß uns fortgehen, Herz, laß uns wieder zu den Freunden gehen. Ich wußte es ja, dies Land wird dich töten. Die Wildnis von gestern, die du umgezaubert hast in ein lügenhaftes Paradies, sie hat noch die ganze Bosheit abgeschiedener und verdammter Erde. Steh auf und lächle, Süße; steh auf. Ich will mich ans Klavier setzen und Schumann spielen, den du liebst. Ich will einen Spiegel bringen, damit du dich anschaust und siehst, daß du noch schön bist. Wer ist schuldig, der noch so schön ist?«

Eva schüttelte schwermütig den Kopf. »Schönheit?« fragte sie, »Schönheit? Du willst mich betrügen um mein Gefühl mit deiner Schönheit. Ich weiß nichts von ihr, und wenn sie etwas Wirkliches ist, so ist sie ohne Segen. Nein, von Schönheit rede nicht. Ich habe zu viel an mich gerissen, zu viel in zu kurzer Zeit, zu viel geraubt, zu viel verbraucht, zu viel vergeudet. Zu viel Menschen, zu viel Seelen, zu viel anvertrautes Pfand. Ich konnte es nicht halten und tragen. Was ich wünschte, wurde erfüllt. Je maßloser ich wünschte, je rascher kam die Erfüllung. Da war Ruhm, da war Liebe, da war Reichtum, da war Macht, da war Dienst von Sklaven, da war Anbetung, alles, alles; so viel, um drin zu wühlen wie in einem Haufen kostbarer Steine. Ich wollte emporkommen, von wie tief, das weißt du; es nahm mich auf Flügel. Ich wollte Hindernisse zerbrechen; als ich mich dazu anschickte, waren sie nicht mehr da. Ich wollte mich hingeben für eine große Idee, und mir wurde geglaubt, kaum daß ich begonnen hatte, um sie zu ringen. Man verkündete mich, und ich war noch der Lehre bedürftig. Zu früh, zu früh, zu viel, zu viel. Millionen opfern ihr Teuerstes, angstvoll und andächtig, nur um nicht fortgeschwemmt zu werden von der Klippe, die sie sich erobert; ich war wie Aladdin, vor dem die Ifrids das Knie beugen noch vor dem Befehl. Den einzigen, dessen Herz mir Widerstand geleistet – weshalb, war ihm selber ein Geheimnis, – habe ich von mir gestoßen und mißkannt. Jeder Schritt ein Schritt in die Schuld; jede Sehnsucht Schuld; jeder Dank eine Schuld; jede Stunde der Lust eine Schuld; jedes Genießen ein Verarmen, jedes Hinauf ein Sturz.«

»Frevlerin,« murmelte Susanne, »aus Übermut und Überdruß sündigst du gegen dich und dein Geschick.«

»Wie du mich quälst,« antwortete Eva; »wie ihr mich alle quält, Männer und Weiber. Wie unfruchtbar ich durch euch werde. Wie mich eure Stimmen quälen, eure Augen, eure Worte und Gedanken. Ihr lügt so leichtsinnig. Ihr wollt nicht hören, Wahrheit ist euch verhaßt. Wer seid ihr denn? Wer bist du denn, du? Ah, Susanne ist dein Name, Susanne. Ich kenne dich nicht. Ein Du bist du. Quälst mich, weil du ein Du bist. Geh doch. Hab ich verlangt, daß du bei mir sein sollst? Ich muß zu mir hinein, und du willst mich hindern? Ich sage dir, ich bleibe, und wenn sie mir das Haus über dem Kopf abbrennen.«

Sie sprach dies mit verschlossener Leidenschaftlichkeit, erhob sich, machte sich los von der schluchzenden Gefährtin und ging in ihr Schlafgemach.

Eine Stunde später stürzte Susanne bleich und mit wirren Haaren herein. »Es wird Ernst,« rief sie der noch wachen und bei der verhängten Lampe sinnenden Herrin zu; »sie nähern sich dem Schloß. Labourdemont hat nach Jalta telephoniert; man hat geraten, daß wir uns schleunigst entfernen. Seit einer Viertelstunde ist übrigens die Leitung zerstört. Ich komme aus der Garage, das Auto wird in zwanzig Minuten vorfahren. Schnell, schnell, solang es noch Zeit ist.«

Gelassen sagte Eva: »Kein Anlaß zu Lärm und Geschrei. Beruhige dich. Die Erfahrung hat in ähnlichen Fällen bewiesen, daß man durch Flacht nur die Leute zur Plünderung und Vernichtung reizt. Sollten sie die Vermessenheit so weit treiben und hier eindringen, so werde ich ihnen entgegentreten und mit ihren Anführern verhandeln. Es ist das Richtige und das Natürliche. Ich bleibe, werde aber niemand zwingen, dasselbe zu tun.«

»Du bist sehr im Irrtum, wenn du glaubst, ich zittre für mich,« antwortete Susanne, plötzlich vollkommen trocken und gefaßt; »bleibst du, so bleibe ich selbstverständlich auch. Verlieren wir also kein Wort darüber.« Und sie reichte der Herrin das Gewand, das sie stumm gefordert hatte.

Man vernahm hastiges Laufen, Zurufe, das Schnurren des Autos, Hundegebell. Monsieur Labourdemont ging im Vorsaal erregt auf und ab. Der Gendarmeriewachtmeister sprach vor der Auffahrtstreppe laut mit seinen Leuten. Eva setzte sich gleichmütig an den Toilettentisch und ließ sich von Susanne das Haar aufstecken. Das Rauschen des Meeres drang durch die offenen Fenster. Dies schwere, schleifende Geräusch wurde auf einmal durch das Knattern von Gewehrfeuer unterbrochen.

Danach entstand eine kleine Stille. Labourdemont klopfte an die Tür des Schlafgemachs. Es sei keine Minute mehr zu versäumen, rief er mit dem Knäuel der Angst in der Kehle. »Teile ihm das Notwendige mit,« befahl Eva; Susanne ging hinaus und kehrte nach kurzer Weile mit einem düsteren Lächeln auf den Lippen zurück. Eva schaute sie fragend an. »Panik,« sagte Susanne achselzuckend; »es läßt sich denken. Sie sind ratlos.«

Abermals Zurufe, bestürzte, verworrene. Schein von Lichtern dann; leise Kommandos. Dann quollen Schreie aus der Stille. Zugleich ein Johlen von Hunderten. Plötzlich krachte es, als würde ein Holztor zerschmettert. Das Gebell der Hunde wurde verschlungen von Geprassel und gleich darauf folgendem ohrenzerreißenden Johlen, Pfeifen und Heulen. Eine Feuergarbe loderte; das Gemach war rot. Susanne stand rot in der Mitte; ihre Augen waren glasig, das Gesicht eine Maske.

Eva trat ans Fenster. Bäume und Büsche waren in Glut getaucht. Der Herd des Feuers war den Blicken entzogen. Der Platz vor dem Schloß war leer, die Wachmannschaft verschwunden. Sie hatten es für aussichtslos erkannt, der Übermacht der Meuterer beizukommen, und waren geflüchtet. Auch von den Dienern Evas war keiner mehr zu sehen. Ungewisse Schatten wälzten sich im lohenden Dunkel fauchend näher. Aus allen Richtungen knallten Schüsse. Scherbengeklirr ertönte; es waren die Glashäuser, gegen die Steine geschleudert wurden. Da brachen von links und rechts her, das Haus umflutend, Männermassen aus der feurigen Dämmerung, die von Sekunde zu Sekunde mehr in satte Brandhelle überging. Es war ein wüstes Gewimmel von Armen, Rümpfen und Köpfen, ein tobender, ungestüm sich vorwärtsschiebender Haufe, dessen Brüllen, Gurren und Pfeifen die Luft erschütterte.

»Geh fort vom Fenster!« murmelte Susanne rauh flehend.

Eva rührte sich nicht. Da blickten einige empor und gewahrten sie. Ein unverständliches Wort durchlief die wirbelnde Menge. Viele blieben stehen, aber während sie hinaufstarrten, wurden sie von Nachdrängenden weitergeschoben. Als die Bewegung vor der Freitreppe brach und zu einem Schwanken verebbte, trat Stille ein.

»Geh fort vom Fenster!« flehte Susanne mit erhobenen Händen.

Scharlachfarbene Gesichter, dichtgedrängt, waren gegen Eva gekehrt. Mann an Mann schoben sie sich auf dem weiten Halbrund vor dem Schloß, die Menge nahm zu wie dunkle Flüssigkeit in einem Gefäß, das sich füllt. Die Hintersten zerstampften den Rasen und die Beete, rissen Büsche aus, stürzten Statuen um. Die meisten trugen die Uniform der Kriegsmarine, aber es befand sich auch Pöbel aus den Städten darunter, raub- und mordgieriges Gelichter, Mitglieder der schwarzen Hundert. Sie waren bewaffnet mit Gewehren, Säbeln, Knütteln, Revolvern, Eisenstangen, Äxten, und eine große Anzahl war betrunken.

Das unverständliche Wort gellte neuerdings über die Köpfe. Die treibende Bewegung fing als Wirbel wieder an. Fäuste schraubten sich hoch. Ein Schuß wurde abgefeuert; Susanne schrie erstickt: die Ampel über dem Bett zersplitterte. Eva trat vom Fenster zurück. Sie schauderte. Sie machte ein paar Schritte, nahm geistesabwesend einen Apfel von einer Schale. Er entfiel ihrer Hand und rollte auf dem Boden weiter.

Sie drangen ins Haus. Man hörte Axthiebe, Scharren vieler Schritte, Aufreißen von Türen. Sie suchten.

»Wir Unglücklichen,« flüsterte Susanne und ergriff mit beiden Händen Evas Arm, als stoße sie jemand ins Wasser.

»Laß,« wehrte Eva ab, »laß. Ich will versuchen, mit ihnen zu reden. Ihnen Mut zu zeigen, wird genügen.«

»Geh nicht, um Gottes willen, geh nicht!« beschwor Susanne.

»Laß, sag ich dir. Ich sehe keinen Ausweg sonst. Verbirg dich du und laß mich.«

Sie ging königlich. Sie wußte vielleicht um das Urteil, das gefällt war. Über die Schwelle tretend, hatte sie ein eisiges Gefühl der Entscheidung. Sie schritt verhängten Blickes. Der Weg schien weit; er erregte Ungeduld in ihr. Aus Flammenschein und dem schwachdurchleuchteten Grau prallten Menschen auf sie zu, wichen zurück, umstellten sie, wichen zurück. Der Adel der Gestalt bezwang sie noch. Aber dahinter rasten, geiferten Dämonen und wühlten sich Bahn zu ihr. Sie sprach russische Worte. Das brandige Wirrsal der Köpfe und Schultern wogte überwirklich auf und nieder. Sie sah Hälse, Bärte, Zähne, Fäuste, Ohren, Augen, Stirnen, Adern, Fingernägel. Mienen verschwammen; das Ganze der Gesichter zerloderte. Im Übungssaal prasselte Feuer. Beilhiebe zertrümmerten Kostbares. Rauch füllte die Gänge. Geschrei von Wahnwitzigen tobte. Eva wandte sich.

Es war zu spät. Da wirkte kein Zauber eines Blickes und einer Gebärde mehr. Da war Raserei des Elements.

Sie lief; gazellenhaft leicht. Hinter ihr plumpe Schritte, Lungen, die laut pumpten. Sie gelangte zur Treppe des viereckigen Turms, dieses Gebildes ihrer Laune. Sie lief hinan. Als sie höher kam, funkelten die vergoldeten Stufen im ersten Tageslicht. Die Hand glitt am Geländer reibungslos; das bemalte Email, Erzeugnis ihrer Laune, fühlte sich kühl und beschwichtigend an. Die Verfolger knurrten wie Wölfe. Das Licht hob sie. Sie stürzte in den silbernen Morgen hinauf, erblickte brennende Gebäude, die sich im Wind bogen, das Meer. Die Verfolger wälzten sich nach wie ein Gliederhaufen, ein Polyp mit Haaren, Nasen und gefletschten Zähnen.

Sie schwang sich auf die Brüstung. Arme langten nach ihr. Höher. Könnte man doch höher. Den Himmel belagerten Wolken. Einst war es anders gewesen. Sterne hatten getröstet, ein herrlich entfaltetes Firmament. Die Erinnerung blieb nur eine Sekunde. Hände griffen, an ihre Brust krallten sich Finger. Vier, sechs, acht Armpaare streckten sich aus; ein letztes Besinnen, eine letzte Anstrengung, ein letzter Seufzer, die Luft wich sausend, sie stürzte . . .

Auf Marmorfliesen lag ihre Leiche. Der wunderbarste Körper, zu blutigem Brei entformt. Die gebrochenen Augen leer aufgeschlagen, ohne Tiefe, ohne Wissen, ohne Sinn. Von der Brüstung oben heulten die Menschenwölfe gierig und enttäuscht; unten fielen andre über die Tote her. Sie rissen die Gewänder vom Leib und steckten sie wie Fahnenfetzen auf Stangen und Zweige.

Auf der Schwelle des Schlafzimmers ihrer Herrin lag erschlagen Susanne Rappard.

Als das Werk der Plünderung und Zerstörung beendet war, zog der wilde Haufe ab. Über den nackten, besudelten Leichnam der Tänzerin hatte zuletzt ein barmherzig Schamvoller eine Pferdedecke geworfen.

Es ging aber bis zum Abend noch ein Mann auf der Trümmerstätte umher, einsam, in einsamer Not. Er trug das Kleid eines Popen und in den Zügen, auch er, das Mal erfüllten Schicksals. Und die in später Stunde kamen, ihn zu suchen und zu holen, grüßten ihn ehrfürchtig, denn er galt ihnen als der Heilige des Volkes und der Prophet des neuen Reiches.

Er sagte zu ihnen: »Ich habe euch belogen, ich bin ein schwacher Mensch wie ihr.«

Da raufwiegten sie die Köpfe, und einer antwortete: »Väterchen Iwan Michailowitsch, mache unsre Hoffnung nicht zuschanden und geleite uns in unsrer Schwäche.«

Da blickte der Heilige des Volkes auf die Leiche, die wenige Schritte entfernt zwischen ausgerissenen Blumen und verkohlten Trümmern unter der Pferdedecke lag und sagte: »So laßt uns denn bis zum Ende gehen.«

28

Dreimal blieb Niels Heinrich auf der Straße stehen und starrte Christian ins Gesicht. Hierauf ging er weiter, stieß seine Füße in den Asphalt und rundete seinen Rücken. Anfangs schleppte er sich mühsam, dann wurde der Schritt fester.

Vor Kahles Laden fragte er tonlos höhnisch, ob der Herr bei der Polizei angestellt sei. In dem Fall möge der Herr kurzen Prozeß machen, er seinerseits werde seinen Weg dann schon kennen.

»Nicht deswegen bin ich mit Ihnen gegangen,« erwiderte Christian.

»Also weswegen sonst?« Der Herr rede wieder mal wie 'n Schnösel; der Herr denke immer, man könne ihn mit Redensarten besoffen machen.

»Wohnen Sie hier in dem Hause?« fragte Christian.

Jawoll, da wohne er. Der Herr wünsche vielleicht, sich die stinkige Bude anzugucken? Na, denn immer ran. Er bleibe allerdings nicht lange oben, er wolle sich bißchen adrett machen und denn zum flinken Jottlieb gehen. Der flinke Jottlieb, das sei 'n besseres Lokal mit Mächens und Sekt. Er wolle heute so fünfzehn bis zwanzig Pullen Sekt schmeißen. Man habe es ja dazu. Vorher müsse er aber noch zum Juden Grünbusch in die Pappelallee, was versetzen. Werde dem Herrn wohl zu viel werden. Vielleicht nee?

Dies schnarrte er auf der finsteren Treppe in Wut heraus. Aber dahinter war die Siedhölle der Angst.

Das Licht der Straßenlaterne, die dicht vor einem der niedrigen Halbfenster stand, goß grünfahlen Schein in die Stube und ersparte es Niels Heinrich, die Lampe anzuzünden. Er wies darauf hin und bemerkte kichernd, es sei barer Profit, daß die Beleuchtung auf öffentliche Kosten gehe. Er könne die Zeitung im Bett lesen und brauche dann nicht mal einen Huster zu machen beim Einschlafen. Da sehe man, wie ein Kerl hause, ders zu was hätte bringen können im Leben und nicht auf den Kopf gefallen sei, da sehe mans. Ein Lauseloch sei das, ein Drecknest. Aber jetzt werde die Sache anders werden; jetzt werde er ins »Adlong« ziehen, Zimmer mit Badd, und sich ein Auto kaufen und Wäsche im Nürnberger Bazar oder bei Old England.

Er steckte die Hand in die Hosentasche und ließ ein Klappern hören. Christian hielt, was er sagte, für zusammenhangloses Geschwätz und schwieg.

Niels Heinrich riß den zerknitterten Hemdkragen herunter und warf Rock und Weste aufs Bett. Er öffnete eine Kommodenlade und den Schrank, zog mit erstaunlicher Fixigkeit einen frischen Kragen an, der so hoch war, daß er den Hals wie eine weiße Röhre umpreßte, band eine gelbe Seidenkrawatte um und schlüpfte sodann in ein schwarz und weiß gestreiftes Gilet und einen Rock mit Schößen. Das alles sah neu aus und stach lächerlich von den karierten, befleckten Beinkleidern ab, die er aus irgendeinem Grund zu wechseln unterließ. Auch die Manschetten waren schmutzig.

»Also weswegen?« fragte er plötzlich wieder, und seine Augen flackerten rabiat im grünfahlen Laternenlicht; »weswegen denn? Weswegen jehn Se mir nich von der Pelle?«

»Ich brauche Sie,« antwortete Christian, der an der Tür stehengeblieben war.

»Sie brauchen mir? Wozu denn? Versteh ich nich. Erklären Sie sich man deutlicher, Mensch.« Da Christian schwieg, steigerte er sich giftig zu Haß und Drohung. »Sie wolln mir woll dreckig kommen? Sie nich, verstehn Se, mir nich. Kommen Se mir nich dumm, sonst komm ich Ihnen noch dümmer.«

»Es nutzt nichts, in dieser Art zu sprechen,« sagte Christian. »Sie fassen mein Hiersein und mein . . . wie soll ich es ausdrücken, mein Interesse an Ihnen falsch auf. Interesse, nein, das ist nicht das richtige Wort. Aber es kommt ja auf das Wort nicht an. Sie glauben wahrscheinlich, mir wäre es darum zu tun, daß Sie sich dem Gericht stellen, daß Sie das Geständnis, das Sie mir abgelegt haben, dort wiederholen. Aber daran liegt mir nichts, ich versichere es Ihnen, oder es liegt mir nur insofern daran, als ich es um des unschuldigen und, wie man annehmen kann, durch seine Lage und durch seine Gemütsverwirrung sehr unglücklichen Joachim Heinzen willen für wünschenswert hielte. Es muß ihm entsetzlich zumute sein, ich spüre es fortwährend, es geht mir nah, und besonders, seit Sie sich gegen mich ausgesprochen haben. Ich sehe ihn förmlich. Ich sehe ihn, wie wenn er sich bei der Bemühung, an einer steinernen Mauer emporzuklettern, die Finger und die Knie blutig schürfen würde. Er begreift es nicht. Er begreift nicht, daß eine Mauer so steinern und so steil sein kann. Er begreift nicht, was mit ihm vorgeht. Die ganze Welt muß ihm krank erscheinen. Es ist Ihnen offenbar gelungen, ihn in eine so stark nachwirkende Hypnose zu bringen, daß er unter diesem furchtbaren Einfluß die Kontrolle über seine Handlungen verloren hat. Sie haben etwas im Wesen, das an eine solche Gewalt glauben läßt. Ganz bestimmt ist ihm Ihr Name aus dem Gedächtnis entschwunden. Ginge einer hin und flüsterte ihm den Namen ins Ohr, Niels Heinrich Engelschall, er würde vielleicht wie vom Schlag getroffen zusammenstürzen. Das ist natürlich ausgedacht, eine Übertreibung. Aber stellen Sie sich ihn einmal vor. Man muß sich die Menschen und die Dinge vorstellen; die wenigsten tun das, sie schwindeln sich daran vorbei. Ich sehe ihn innerlich so ausgeraubt, so mittellos, daß der Gedanke kaum zu ertragen ist. Sie werden mir entgegenhalten: ein Idiot; ein Unzurechnungsfähiger mit herabgemindertem Sensorium, mehr Tier als Mensch. Es ist das sogar ein Argument, dessen sich die Wissenschaft bedient. Aber es ist ein falsches Argument; die Voraussetzung ist falsch, und der Schluß, den man daraus zieht, ist falsch. Meine Ansicht ist, daß alle Menschen gleich tief empfinden, daß es keine Verschiedenheit in der Schmerzempfindlichkeit gibt. Nur das Bewußtsein davon ist verschieden. Es ist sozusagen kein Unterschied in der Buchführung, es ist ein Unterschied in der Abrechnung.«

Er machte mit gesenktem Kopf einen Schritt gegen Niels Heinrich, der sich nicht rührte, und während ein verschleiertes Lächeln um seine Lippen huschte, fuhr er fort: »Mißdeuten Sie mich nicht. Ich will auf Ihre Entschließungen nicht im mindesten einwirken. Was Sie tun oder unterlassen, ist Ihre persönliche Angelegenheit. Es ist eine Frage des Anstands und der Menschlichkeit, ob man den armen Teufel aus seiner schrecklichen Situation befreien will oder nicht. Was mich betrifft, so bin ich weit davon entfernt, Ihnen eine Handlung zuzumuten, die nicht aus Ihrer eignen Überzeugung stammt. Ich betrachte mich nicht als Vertreter der öffentlichen Ordnung; ich habe nicht dafür zu sorgen, daß die Gesetze befolgt und die Menschen über ein Verbrechen, das sie beunruhigt, aufgeklärt werden. Wozu wäre das nütze? Was würde besser dadurch? Ich will Sie nicht fangen, ich will Sie nicht übertölpeln. Der Gang zu Gericht, die Enthüllung der Tat, die Sühne vor der Welt, die Strafe, was hab ich mit all dem zu schaffen? Nicht deshalb bin ich bei Ihnen.«

Niels Heinrich war es, als drehe sich sein Gehirn mit einem knackenden Geräusch. Er faßte nach der Tischkante und hielt sich fest. Ein Urstaunen war in seinen Mienen. Der Unterkiefer sank herab; er lauschte mit offenem Mund.

»Strafe, was heißt das? Bin ich befugt, Sie der Strafe zuzuführen? List anzuwenden oder Gewalt, damit Sie Strafe erleiden? Es kommt mir nicht einmal zu, Ihnen zu sagen: Sie sind schuldig. Ich weiß es nicht, ob Sie schuldig sind. Ich weiß, daß Schuld da ist, aber ob Sie schuldig sind, und in welchem Verhältnis Sie zur Schuld stehen, kann ich nicht wissen. Nur Sie selbst können es wissen. Nur Sie selbst haben das Maß für das, was Sie getan haben, nicht die, die Ihre Richter sein werden. Auch ich habe kein Maß dafür, aber ich richte nicht. Ich frage mich: Wer darf richten? Ich sehe keinen, ich kenne keinen. Für das Zusammenleben der Menschen ist es vielleicht notwendig, daß gerichtet wird, aber der einzelne gewinnt nichts durch den Richtspruch, an seinem Seele nicht und an seiner Erkenntnis nicht.«

Es war ein bodenloses Schweigen, in welches Niels Heinrich versunken war. Er erinnerte sich plötzlich des Augenblicks, wie es ihn getrieben hatte, die Maschine zu ermorden. Mit völliger Klarheit sah er die ölschwitzenden Stahlteile vor sich, die hurtig schnurrenden Räder, das ganze exakt arbeitende Gefüge, das ihm irgendwo verderblich und feindselig erschienen war. Warum das Bild vor ihm auftauchte, gerade jetzt, und warum er sich seines rachsüchtigen Verlangens mit einem Anflug von Scham entsann, gerade jetzt, begriff er nicht.

Christian sprach: »Das alles spielt also keine Rolle. Sie können ohne Furcht sein. Was ich will, hat damit nichts zu tun. Ich will,« er stockte, zauderte, rang um den Ausdruck, »ich will Sie haben. Ich brauche Sie . . .«

»Brauchen mich? Brauchen mich?« murmelte Niels Heinrich, ohne zu verstehen; »wie denn? Wozu denn?«

»Ich kann es nicht erklären, kann es unmöglich erklären,« sagte Christian.

Niels Heinrich lachte auf. Es war ein klangloses, abgebrochenes Haha. Dann ging er mit seinem Stechschritt rund um den Tisch herum. Dann kam wieder das verpreßte, irre Haha.

»Sie haben ein Wesen von der Erde fortgenommen,« sagte Christian leise, »ein Wesen vernichtet, so kostbar, so unersetzlich einzig, daß Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende vergehen werden, bis wieder eines sich bilden kann, das ihm ähnlich oder gleich ist. Wissen Sie das nicht? Jedes lebendige Geschöpf ist wie eine Schraube an einer äußerst wunderbar gebauten Maschine –«

Niels Heinrich fing an so heftig zu zittern, daß Christian es bemerkte. »Was ist Ihnen?« forschte er, »sind Sie unwohl?«

Niels Heinrich griff nach seinem steifen Filzhut, der an einem Nagel hing, und strich mit nervösen Bewegungen darüber hin. »Mensch, Sie machen einen ja ganz unsinnig,« stieß er dumpf hervor.

»Hören Sie nur,« fuhr Christian eindringlich fort, »– an einer wundervoll gebauten Maschine. Nun gibt es aber wichtige Schrauben und minder wichtige. Und dieses Wesen war eine allerwichtigste. So wichtig, daß ich das Gefühl habe, die Maschine ist auf immer beschädigt, seit sie nicht mehr darin funktioniert. Niemand kann einen Bestandteil von solcher Feinheit und Zweckmäßigkeit je wieder herstellen, und wenn auch Ersatz beschafft wird, so ist die Maschine doch nicht mehr das, was sie war. Aber abgesehen von der Maschine, abgesehen von dem Vergleich, haben Sie mir etwas zugefügt, was in Worten nicht gesagt werden kann. Schmerz, Kummer, Traurigkeit, das sind keine Worte dafür. Sie haben mir etwas geraubt, etwas Kostbares, unersetzlich Einziges, und Sie müssen mir etwas dafür geben. Sie müssen mir etwas dafür geben, hören Sie das! Deswegen steh ich da. Deswegen folg ich Ihnen nach. Sie müssen mir etwas dafür geben, was, weiß ich nicht, aber sonst verzweifle ich, sonst werd ich selber zum Mörder!«

Er schlug die Hände vors Gesicht und brach in heiseres, wildes, ungestümes Weinen aus.

Mit bebenden Lippen, kleinlaut, wie ein Kind, stammelte Niels Heinrich: »Ja du großer Heiland, was soll ich Ihnen denn dafür geben?«

Christian weinte und antwortete nicht.


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