Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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19

Christian konnte nicht sein ohne Eva. Wenn er sie für kurze Zeit verließ, wurde es dunkel um ihn.

Von ihm zu ihr war alles wie Abschiednehmen. Ging er an ihrer Seite, so war es wie zum letztenmal. Jedes Händereichen und Tauschen von Blicken hatte den Schmelz und Schmerz des letzten Mals.

Demgemäß war auch seine Liebe zu ihr beschaffen. Es war eine anklammernde, darbietende, geduldige, nicht selten sogar gehorsame Liebe.

Es drückte sich in der Art aus, wie er ihr den Mantel hielt, in den sie schlüpfte; wie er ihr das Glas gab, aus dem sie zu trinken verlangte; wie er ihr den Arm zur Stütze ließ, wenn sie müde war; wie er auf sie wartete, wenn sie später an einen Ort kam als er.

Sie spürte es oft, und sie fragte ihn. Er wußte nicht darauf zu antworten. Er hätte vielleicht seine Empfindung des Abschieds ungefähr umschreiben können, aber was dann kommen sollte, nach dem Abschied, hätte er nicht zu sagen vermocht.

Es war ihm auch klar, daß es sich nicht allein um den Abschied von ihr handelte, sondern von allem, was ihm bisher teuer, angenehm und unentbehrlich gewesen war. Aber sonst begriff er nichts, hatte keinen Plan und grübelte auch nicht über einen.

Er war so ohne Begehrlichkeit und Forderung, daß sich Eva zu hundert Wünschen hinreißen ließ und zornig wurde, wenn keiner unerfüllt blieb. Sie wollte aufs Meer; er mietete eine Jacht, und sie fuhren vierzehn Tage lang auf dem Atlantischen Ozean umher. Sie hatte Sehnsucht nach Paris, und er fuhr mit ihr im Auto nach Paris. Sie speisten bei Foyot in der Rue de Tournon, wohin sie ihre Freunde, Schriftsteller, Maler, Musiker bestellt hatte, und am andern Tag kehrten sie zurück. Es wurde von einem Schloß in der Normandie gesprochen, das wie ein Traum vom frühen Mittelalter sei. Sie wollte es sehen, bei Mondschein wollte sie es sehen, und die Reise wurde angetreten, als es Vollmond war und auf wolkenlose Nächte gehofft werden konnte. Dann lockte die Kathedrale von Rouen; dann die berühmte Rosenzucht, die ein Baron Zerkaulen in der Nähe von Gent besaß; dann ein Ausflug in die Ardennen; dann ein Sonnenuntergang an der Zuidersee; dann ein Spazierritt im Park von Richmond; dann ein Rembrandt im Haag; dann ein festlicher Umzug in Antwerpen.

»Wirst du niemals müde?« fragte Christian eines Tages mit seinem unbestimmten Lächeln, das wie Falschheit wirkte.

Eva antwortete: »Die Welt ist groß, die Jugend ist kurz. Das Schöne will zu mir, für mich ist es da, ohne mich stirbt es. Seit ich den Ignifer besitze, ist mein Hunger gar nicht mehr zu stillen. Er leuchtet über meine Erde und macht mir alle Wege leicht. Du siehst nun, was du getan hast, Lieber.«

»Hüte dich vor dem Ignifer,« sagte Christian mit demselben, scheinbar verschlagenen Lächeln.

»Fjodor Szilaghin ist angekommen,« sagte Eva, und ihre Lider senkten sich schwer.

»Es sind ja so viele da,« erwiderte Christian; »ich kenne die meisten nicht.«

»Du siehst keinen, aber alle sehen dich,« sagte Eva. »Alle staunen dir nach. Alle fragen: Wer mag der Schlanke, Vornehme sein, mit den weißen Zähnen und blauen Augen, wer mag es sein? Hörst du nicht das Gewisper? Sie machen mich eitel.«

»Was wissen sie von mir? Laß sie doch.«

»Die Frauen erbleichen, wenn du kommst. Gestern sah ich auf der Promenade eine junge Blumenverkäuferin, eine Flamin. Sie schaute dir nach, und dann fing sie an zu singen. Hast dus nicht gehört?«

»Nein. Was war es für ein Lied?«

Eva verdeckte die Augen mit der Hand und sang leise, mit halb leidvollem, halb schalkhaftem Ausdruck um den Mund: »Où sont nos amoureuses? / Elles sont au tombeau / Dans un séjour plus beau / Elles sont heureuses / Elles sont près des anges / Au fond du ciel bleu / Où elles chantent les louanges / De la Mère de Dieu. Es griff mir an die Seele, und ich haßte dich eine Minute lang. Wieviel Empfindung strömt aus Menschenherzen und findet kein Gefäß!«

Plötzlich erhob sie sich: »Fjodor Szilaghin ist da,« sagte sie mit brennendem Blick.

Christian ging zum Fenster. »Es regnet,« sagte er.

Da verließ Eva das Zimmer, indem sie mit erstickter Stimme sang: »Où sont nos amoureuses? / Elles sont au tombeau.«

Am Abend gingen sie den Strand hinab. »Ich habe das Fräulein Gamaleja gesehen,« erzählte Eva. »Fjodor Szilaghin hat sie mir vorgestellt. Sie ist seine Geliebte. Eine Tatarin. Schön wie eine Giftschlange. Seltsam wie unbekannte Landschaften, die man träumt. Sie maß mich, und wir rangen heimlich miteinander. Wir sprachen von Marie Bashkirtseff und ihrem Tagebuch. Sie meinte, solche Wesen müßten bei der Geburt erdrosselt werden. Aber ich seh dirs an, mein armer Freund, daß du nicht weißt, wer Marie Bashkirtseff war. Nun, eine von den Frauen, die um ein Jahrhundert zu früh gelebt haben und die erfrieren müssen wie Blumen im Februar.«

Christian schwieg. Er dachte an die Gesichter der toten Fischer, die er in der Nacht zuvor gesehen.

»Fräulein Gamaleja brachte mir aus London Grüße vom Großfürsten,« fuhr Eva fort. »Er wird in einer Woche hier sein.«

Christian schwieg. Zwölf Frauen und neunzehn Kinder waren um die Leichen der Fischer herumgestanden, alle dürftig gekleidet, alle in eisigen Schmerz versunken.

Als sie weiter gingen und sich vom Lärm der Wogen entfernten, sagte Eva: »Warum lachst du nicht? Hast du das Lachen verlernt?« Es war wie ein Aufschrei.

Christian schwieg.

»Morgen ist Jahrmarkt in Dudzeele,« sagte Eva hastig und griff nach ihrem Schleier, der in der Luft wehte, »komm mit mir nach Dudzeele. Pulcinell spielt. Wir wollen lachen, Christian, wir wollen lachen.«

»In der letzten Nacht war ein Sturm,« berichtete Christian; »du weißt es, wir waren ja lange in den Dünen oben. Gegen Morgen bin ich noch einmal an den Strand gegangen, denn ich konnte nicht schlafen. Gerade als ich kam, trugen sie die angeschwemmten Leichen von den Fischern weg. Drei Boote waren in der Nacht zerschellt, ganz nah vom Molo, man hatte ihnen keine Hilfe bringen können. Sieben Männer trugen sie auf Bahren in die Totenkammer. Einige Leute gingen mit, lauter armes Volk, und da ging ich auch mit. Dort in der Totenkammer brannte eine Laterne, und wie sie die nassen Leichen hinlegten, sammelte sich eine Menge Wasser an. Über die Gesichter der Ertrunkenen waren die Mäntel gebreitet, und von den Frauen sah ich nur eine einzige weinen. Sie war so häßlich wie ein morscher Baumstrunk, aber als sie weinte, war alle Häßlichkeit verschwunden. Warum soll ich lachen, Eva? warum soll ich lachen? Ich muß an die Fischer denken, die Tag um Tag auf dem Meere draußen ihr Brot verdienen. Warum soll ich da lachen? Gerade heute?«

Eva drückte ihren Schleier mit beiden Händen an die Wangen.

Im Ton der Unerheblichkeit, den er nie steigerte, fuhr Christian fort: »Gestern zeigten sie mir in einer Bar, Wiguniewski und Botho Thüngen, einen fünfzigjährigen Mann, einen ehemaligen Opernsänger, der berühmt gewesen war und viel Geld verdient hatte. Er war den Tag vorher auf der Straße zusammengebrochen, und zwar aus Hunger. In seiner Tasche befanden sich aber zwanzig Franken. Als man ihn fragte, weshalb er seinen Hunger nicht gestillt habe mit Hilfe dieser zwanzig Franken, antwortete er, das Geld habe er als Reisevorschuß erhalten; er sei in einem Kabarett in Havre engagiert; nach monatelangen Bemühungen sei es ihm gelungen, den Posten zu bekommen, doch koste die Fahrt bis Havre fünfunddreißig Franken, und seit sechs Tagen war er unaufhörlich unterwegs gewesen, um die fehlenden fünfzehn Franken zusammenzuscharren. Jeder Versuchung, die zwanzig Franken anzutasten, die er bei sich getragen, habe er widerstanden, denn er habe genau gewußt, daß sein Leben, wenn er nur einen einzigen Centime davon nahm, endgültig zerstört sei. An jenem Tag war auch der Termin verstrichen, an dem er in Havre hätte sein müssen, und er ging später zu dem Agenten und gab ihm das Geld zurück. Den Mann haben sie mir gezeigt. Er saß mit aufgestützten Armen bei einer leeren Tasse. Als ich mich zu ihm setzen wollte, war er schon fort. Er war auch nicht mehr zu finden. Warum soll ich lachen, Eva, während ich an so etwas denken muß? Verlang nicht von mir, gerade heute, daß ich lachen soll.«

Eva sagte nichts. Aber als sie zu Hause waren, stürzte sie wie außer sich in seine Arme und rief: »Ich will dich küssen.«

Sie küßte ihn und biß ihn dabei so heftig in die Lippe, daß das Blut hervorquoll.

»Geh jetzt,« sagte sie mit fortweisender Gebärde, »geh. Und morgen, vergiß es nicht, wollen wir zum Jahrmarkt nach Dudzeele.«

20

Sie fuhren zum Jahrmarkt und drängten sich bis zu dem kleinen Marionettentheater durch. Die Bänke waren von Kindern dicht besetzt; um die Bankreihen standen Kopf an Kopf die Erwachsenen. Vom Hafen herüber zogen die Gerüche von Maschinenöl, Leder und gesalzenem Hering, in der Luft widerhallten die Mißtöne von allerlei Musik und die Stimmen der Ausrufer.

Christian bahnte eine Gasse für Eva; die Leute machten halb widerwillig, halb verwundert Platz. Mit heiterer Spannung verfolgte Eva das Spiel. Seit Kinderzeiten liebte sie solche Schaustellungen, und auf die Jahre der Verschollenheit warfen sie einen reizvoll-schwermütigen Glanz.

Der Pulcinell, in der Rolle des geprellten Bauernfängers, mußte erkennen, daß keine Schlauheit gegen den Zauber guter Feen etwas vermag. Seine Einfalt war zu witzig und seine Niederlage zu wohlverdient, um Mitleid zu erwecken. Der Regen von Prügeln, unter dem er endete, war ein befriedigender Sieg der Moral.

Eva klatschte in die Hände und freute sich wie die Kleinsten. »Lachst du nicht, Christian?« fragte sie.

Und Christian lachte. Nicht so sehr über die Albernheiten des Schelms, als weil ihn Evas Lachen bezwang.

Als der Vorhang sich über die kleine Bühne gesenkt hatte, ließen sie sich vom Strom der Lustbarkeiten weiter tragen. Es bildete sich aber hinter ihnen ein Schwanz von Nachläufern; Gewisper ging von Mund zu Mund, und einer machte den andern auf Eva aufmerksam. Insbesondere ein paar junge Mädchen waren hartnäckig in der Verfolgung der apart gekleideten Fremden. Eva trug einen Hut mit Rosen und einen seidenen Mantel, der blau war wie das Meer in der Sonne.

Eines der jungen Mädchen hatte sich einen Fliederstrauß verschafft, und auf dem Platz vor einer Schenke überreichte sie ihn der Verehrten mit zierlichem Knicks. Eva dankte ihr und neigte das Gesicht über die Blumen, da schlossen fünf oder sechs Mädchen einen Ring um sie, faßten sich bei den Händen und drehten sich im Kreise, wobei sie eine übermütige Melodie trällerten.

»Nun bin ich gefangen,« rief Eva munter zu Christian hinüber, der außerhalb des Kreises geblieben war und sich die spöttischen Blicke der Mädchen gefallen lassen mußte.

»Nun bist du gefangen,« antwortete er und suchte Verständigung mit der Fröhlichkeit der Zuschauer.

An der Treppe, die zur Schenke führte, stand ein betrunkener Mensch, der mit unerklärlichem Ingrimm beobachtete, was zwischen Eva und den Mädchen geschah. Zuerst erging er sich in wüsten Beschimpfungen, und als sich niemand darum kümmerte, geriet er in tätliche Wut. Er hob einen faustgroßen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn gegen die Gruppe der Mädchen. Diese schrien erschrocken; einige duckten sich, einige wichen hastig aus. Der Stein fuhr hart am Arm derjenigen vorüber, die die Blumen gespendet hatte, und traf im Niederfallen Evas beide Füße.

Eva verfärbte sich und preßte die Lippen aufeinander. Ein paar Männer stürzten auf den Betrunkenen los, der mit drohend erhobenem Arm in die Schenke taumelte. Auch Christian lief zu der Treppe hin, kehrte aber auf halbem Weg um, denn sich Evas anzunehmen, schien wichtiger. Die Mädchen hatten sich um sie geschart, befragten, beklagten sie, er schob sie beiseite.

»Kannst du gehen?« fragte er. Sie bejahte mit angestrengt beherrschter Miene, hinkte aber, als sie zu gehen versuchte. Da hob er sie auf den Arm und trug sie zum Auto, das in geringer Entfernung hielt. Die Mädchen waren nachgelaufen und winkten beim Abschied mit Tüchern; aus der Schenke drang Geschrei.

»Pulcinell ist rabiat geworden,« sagte Eva lächelnd und verbiß ihren Schmerz. »Es ist nichts, Liebling,« flüsterte sie nach einer Weile, »es vergeht; sei unbesorgt.« Sie fuhren mit hundert Kilometer Geschwindigkeit.

Eine halbe Stunde später saß sie in einem Zimmer der Villa in einem Fauteuil, und Christian kniete vor ihr und hielt ihre beiden nackten Füße in seinen Händen.

Susanne war angstverstört herbeigelaufen, hatte Ratschläge gestammelt, von denen einer dem andern widersprach, hatte die Leute zusammengerufen und aufgeregt nach dem Arzt verlangt, hatte der Herrin Schuhe und Strümpfe abgerissen und mit weiten Augen voll Entsetzen die roten Flecke betrachtet, die von dem Steinwurf herrührten. Schließlich hatte Eva sie zur Ruhe verwiesen und aus dem Zimmer geschickt.

»Es tut fast nicht mehr weh,« sagte Eva und schmiegte die nackten Füße wohlig in Christians trockenkühle Hände.

Die Zofe brachte ein Becken mit Wasser und zwei Tücher für Umschläge.

Christian hielt und betrachtete die beiden nackten Füße, diese herrlichen Werkzeuge, vergleichbar den Händen eines großen Malers oder den Schwingen eines weit- und hochfliegenden Vogels. Indem er sich noch an der Form erfreute, der Klarheit der Muskulatur, der vollendeten Wölbung, den rosigen Zehen und durchsichtigen Nägeln, kam eine innere Aufmerksamkeit über ihn, und es sprach jemand: Da kniest du, Christian, da kniest du. Ja, ich knie, antwortete er im stillen und nicht ohne eine gewisse Bestürzung, warum sollt ich nicht? Er begegnete den Blicken Evas, und der lustvolle Glanz in ihren Augen vermehrte seine Bestürzung.

Eva sagte: »Deine Hände sind gute Doktoren, und daß du vor mir kniest, ist wunderbar, mein süßer Freund.«

Die Dämmerung war eingebrochen; vor den Fenstern, zwischen leise bebenden Gardinen, strahlte der Abendstern.

»Was findest du so wunderbar daran, daß ich knie?« fragte Christian stockend.

Eva schüttelte den Kopf. »Ich liebe es eben,« erwiderte sie, und ihre halbgelösten Haare fielen auf die Schultern. »Ich liebe es eben,« wiederholte sie, legte die Hände auf seinen Scheitel und drückte sein Haupt tiefer hinab. »Ich liebe es eben.«

Da kniest du ja, hörte Christian abermals. Und er sah einen Waschkrug mit abgebrochenem Henkel; und ein schiefes Fenster mit einem Schneerand in der Rille; und einen einzelnen Stiefel mit einer Kotkruste an der Sohle und einen Strick, der von einem Balken herunterhing, und eine Petroleumlampe mit geschwärztem Zylinder. Nur Dinge, niedrige und armselige Dinge.

»Sind es viele, vor denen du schon gekniet hast wie einer, der anbetet?« fragte Eva.

Er antwortete nicht, und ihre nackten Füße wurden schwer in seinen Händen. Die sinnliche Empfindung, die sie ihm durch ihre Wärme, ihre Glätte, ihre triebartige Beweglichkeit eingeflößt hatten, verschwand und machte einem Gefühl Platz, das aus Furcht, Scham und Trauer gemischt war. Diese menschenhaften Gebilde, diese Füße einer Tänzerin, Glieder einer geliebten Frau, das Seltenste und Kostbarste der Welt, schienen ihm auf einmal häßlich und abstoßend, und jene niedrigen und armseligen Dinge, der Krug mit dem abgebrochenen Henkel und der grünen Bemalung, das schiefe Fenster mit dem Schneerand, der Stiefel mit der Kotkruste, der Strick, der vom Balken hing, und das Lämpchen mit dem berußten Zylinder waren dagegen schön und verehrenswert.

»Sprich, sind es viele, vor denen du gekniet hast?« vernahm er Evas beinahe angstvoll zärtliche Stimme, und ihm dünkte, Iwan Becker antwortete für ihn: »Daß Sie vor ihr niedergekniet sind, das war es, das allein. Das andre, darin lag Verhängnis und Bitterkeit. Aber daß Sie hingekniet sind, das, ja das.«

Er atmete tief, mit geschlossenen Augen und war bleich. Und jetzt erlebte er deutlicher, näher und wahrer jene Stunde des Schicksals. Er spürte den Kuß Beckers auf seiner Stirn, und er begriff den Sinn davon. Er begriff die fieberhaften Verwandlungen des bösen Gewissens, daß er selbst zum Krug, zum Fenster, zum Stiefel, zum Strick und zum Lämpchen geworden war, bloß um zu fliehen und Zeit zu gewinnen; und daß er, im Wechsel von Gestalt zu Gestalt, die Menschen wohl gesehen und gehört, den Bettler, das Weib, Iwan Michailowitsch, die kranken, halbnackten Kinder, daß es aber dabei sein innigstes Bemühen gewesen, sie noch von sich abzuhalten, eine kleine Weile noch, ehe sie mit ihrer Qual, ihrer Verzweiflung, ihrer Besessenheit und ihrer Grausamkeit über ihn stürzten wie die wilden Hunde über ein Stück Fleisch.

Die Frist war verstrichen. Er erhob sich mit einem Ausdruck von Eile und Festigkeit. »Entlasse mich, Eva,« sprach er zu ihr; »schick mich fort. Es ist besser, du schickst mich fort, als daß ich mich losringen muß, Schritt um Schritt, Riß um Riß. Ich kann nicht bei dir bleiben, ich kann für dich nicht sein.« In diesem Augenblick fühlte er die Liebe zu ihr wie einen Flammensturm, und er hätte sein Herz dafür ausgerissen, wenn er das Gesagte wieder ungesagt hätte machen können.

Eva schnellte pfeilrasch auf. Regungslos stand sie da und packte mit den Händen Strähne ihres Haars.

Er trat ans Fenster. Er erblickte den ganzen Raum des Himmels vor sich, den Abendstern und das bewegte Meer. Und er wußte, daß dies alles täuschte, dieser Frieden, dieser blitzende Stern, die leicht phosphoreszierende Flut, daß es nur ein Gewand war, ein bemalter Vorhang, und daß man sich nicht davon beruhigen lassen durfte. Dahinter war Schrecken und Furchtbarkeit, dahinter war unergründlicher Schmerz. Er begriff, er begriff.

Er begriff die Tausende und Tausende am Ufer des Stroms, ihr finsteres Schweigen. Er begriff die Tochter des Schiffers, die geschändeten Leibes auf schlechtem Linnen lag. Er begriff den Todeswillen Adda Castillos. Er begriff Jean Cardillacs trübsinniges Herumirren und seinen Kummer über Weib und Kind. Er begriff den siebzigjährigen Wollüstling, der hinter Klostergittern schrie: Was soll ich tun, Herrgott, und du, mein Heiland, was soll ich tun? Er begriff den taubstummen Dietrich, der sich ertränkt hatte; er begriff Beckers Hinweis auf den nassen Mantel und Franz Lothars Entsetzen über die Leichname, die sich umschlungen hielten; er begriff Amadeus Vossens lechzenden Hunger und das Wort vom Silberstrick und von der Ölflasche. Er begriff den versteinerten Gram der Fischerweiber, und er begriff den Opernsänger mit seinen zwanzig Franken in der Tasche.

Er begriff, er begriff.

»Christian,« rief Eva mit einem Ton, als spähe sie in die Finsternis.

»Es ist Abend geworden,« sagte Christian bebend.

»Christian!« rief Eva.

Er gewahrte plötzlich Amadeus Voß, der draußen aus dem Dunkel von Bäumen trat und auf ihn gewartet zu haben schien, denn er machte lebhafte Zeichen gegen das Fenster. Mit hastigem Gruß verließ er das Zimmer.

Sie schaute ihm nach, ohne sich zu rühren.

Ein wenig später ging sie, die noch schmerzenden Füße vergessend, in ihr Ankleidegemach, öffnete die Schmuckkassette, nahm den Ignifer heraus und betrachtete ihn lange und mit grübelndem Ernst.

Dann steckte sie den Stein ins Haar und trat vor den Spiegel: kühl am Leibe, blassen Gesichts, ruhigen Auges. Sie verschränkte die Arme und blieb im Anschauen verloren.

21

Christian und Amadeus gingen über den Damm gegen Duinbergen.

»Ich habe Ihnen eine Eröffnung zu machen, Wahnschaffe,« begann Amadeus Voß; »ich habe gespielt. Ich habe drüben in Ostende beim Roulett gespielt.«

»Man hat mir davon erzählt,« antwortete Christian zerstreut. »Natürlich haben Sie verloren?«

»Der Teufel ist mir erschienen,« sagte Amadeus dumpf.

»Wieviel haben Sie verloren?« fragte Christian.

»Sie denken vielleicht an irgendeinen verfeinerten Teufel, eine Halluzination, ein poetisches Gehirnprodukt,« fuhr Amadeus in seiner atemlosen und sonderbar feindseligen Weise fort. »Nein, nein, es war ein richtiger, altmodischer Teufel mit Bockskopf und Klauenfüßen. Er sprach zu mir: Nimm von ihrem Überfluß; umkleide dich mit dem Panzer, der unempfindlich macht; laß dich nicht einschüchtern, laß dich nicht vom Hauch ihrer frechgeschmückten Welt in die wolkige Enge deiner Qualen treiben. Und mit seinen kundigen Fingern lenkte er die kleine hüpfende Kugel für mich. Das Licht der Lampen schrie, von den Wangen der Weiber fiel die Schminke ab, über zitternde Bärte rann der Geifer schmutziger Habgier. Ich gewann, Christian Wahnschaffe, ich gewann. Zehntausend, zwölftausend, ich weiß nicht mehr, wieviel. So ein Tausendfrankschein sieht aus wie ein verwaschener Fahnenfetzen. Blendende Säle, Treppen, Gärten, weißgedeckte Tische, Champagnerkübel, Austernplatten, ich ziehe Luft in die Lungen, ich lebe, ich bin Herr. Wildfremde Bursche beglückwünschen mich, schenken mir die Ehre ihrer Gesellschaft, tafeln mit mir, gesiebte Leute, adrette Leute, ehrenwerte Leute. Im Hotel de la Plage verwandelte sich mein bocksfüßiger Teufel endlich in ein würdiges Symbol; er wurde zu einer Spinne mit einem ungeheuren Ei zwischen den Füßen, und daran saugte er, unersättlich. Gallerte, die anschwillt, um vor Wonne zu platzen.«

»Ich glaube, Sie sollten zu Bett gehen und sich ausschlafen,« sagte Christian trocken. »Wieviel haben Sie also schließlich verspielt?«

»Ja, ich bin ein wenig übernächtig,« gestand Amadeus Voß. »Wieviel ich verspielt habe? Vierzehntausend sind es ungefähr. Der Fürst Wiguniewski hat mir das Geld vorgeschossen. Er meinte, Sie würden es ihm schon zurückgeben. Ein vornehmer Mann; alle Achtung. Kein Muskel zuckt in seinem Gesicht, wenn er höflich ist; nichts an ihm verrät, daß er den Proletarier wittert.«

»Ich werde die Angelegenheit mit ihm regeln,« sagte Christian.

»Es genügt nicht, Wahnschaffe, es genügt nicht,« antwortete Voß mit bebender Stimme.

»Warum genügt es nicht?«

»Ich muß weiterspielen. Ich muß es hereinbringen. Ich will Ihr Schuldner nicht sein.«

»Sie werden es immer tiefer werden, Amadeus. Aber ich möchte Sie nicht hindern, wenn Sie sich entschließen, eine Grenze zu bestimmen.«

Amadeus Voß stieß ein Gelächter aus. »Ich wußte, daß Sie großmütig sein würden, Christian Wahnschaffe. Nur immer weiter hinein den Stachel in die Wunde, nur immer weiter.«

»Ich verstehe Sie nicht, Amadeus,« sagte Christian ruhig. »Fordern Sie Geld von mir, soviel Sie wollen; aber es wäre mir lieber, Sie forderten es nicht für diesen Zweck.«

»Großmütig gesprochen, wahrhaft großmütig,« höhnte Voß. »Wie aber, wenn mir gerade daran liegt, keine Grenze einzuhalten? Wenn mir daran liegt, die bettelhafte Scham loszuwerden und mich als Räuber zu erklären? Würden Sie mich verleugnen?«

»Ich weiß nicht, was ich tun würde,« entgegnete Christian. »Ich würde Sie vielleicht zu überzeugen suchen, daß Sie unbillig handeln.«

Diese nüchternen und einfachen Worte machten sichtlich Eindruck auf Amadeus Voß. Er senkte den Kopf, und nach einer Weile sagte er: »Es ist herzzermalmend, dies Warten, bis die kleine Kugel zu hüpfen aufhört und der Femrichter den Spruch verkündet. Das verwaschene Tausendfrankfähnchen knistert heran, oder ein runder Turm von Goldstücken kommt auf einer Schaufel gefahren. Ich habe mir eine Zahl in den Kopf gesetzt. Ich teile acht Buchstaben in drei und fünf. Ein Vorname, ein Zuname. Einmal gewann ich siebenhundert auf einen Coup damit, ein andermal dreitausend. Sie dürfen mich nicht im Stich lassen, Wahnschaffe. Auch ich habe eine Seele. Drei und fünf, das ist mein Problem. Ich werde die Bank sprengen. Ich werde dreimal, zehnmal hintereinander die Bank sprengen. Es ist möglich, es kann also geschehn. Würde ›drei und fünf‹ einem Wolkenbruch von Gold widerstehen? Würde Danae den Perseus von sich weisen, oder würde sie verlangen, daß er ihr zuerst das Haupt der Gorgo bringt?«

Er verstummte jäh, da Christian den Arm um seine Schulter legte, eine Vertraulichkeit, die ihm so neu und unerwartet war, daß er tief aufatmete wie ein Kind im Schlaf. »Denken Sie doch an das Vergangene, Amadeus,« sagte Christian; »denken Sie doch an Ihre Worte, wie Sie zu mir sagten: Es ist möglich, daß Sie mich brauchen, gewiß aber ist, daß ich ohne Sie verloren bin. Haben Sie schon vergessen? Hast du es schon vergessen, Amadeus?«

Amadeus fuhr zusammen unter dem Du. Er ergriff plötzlich, stehenbleibend, Christians Hände und stotterte: »Um Gottes willen, so hat noch keiner . . . so hat keiner noch zu mir geredet.«

»Du darfst es nicht vergessen, Amadeus,« sagte Christian leise.

Schwäche befiel Amadeus Voß. Er schaute sich mit unsteten Augen um und sah hinter sich einen niedern Betonpflock zum Befestigen der Schiffsseile. Er setzte sich auf den Stein und wühlte das Gesicht in die Hände. Dann begann er, durch die Hände hervor: »Sieh mal, Bruder, ich bin ein verprügelter Hund. Das bin ich und nichts sonst. Mir ist, als ob ich zu lange an einer kalten, harten, getünchten Kirchenwand gestanden hätte. Es ist mir stets eine Kälte in Mark und Bein sitzengeblieben, und ich will mich durch dieses fatale Gefühl nicht unterkriegen lassen. Ich denke oft, ich möchte einmal bei einem Weibe sein. Ich kann nicht leben ohne Liebe. Und ich lebe doch immerfort ohne Liebe, Tag für Tag. Immerfort ohne Liebe. Die verdammte Mauer ist mir zu kalt, ich kann, ich mag, ich will nicht ohne Liebe leben. Ich bin nur ein Mensch, und ich muß zu einem Weibe, sonst erfriere ich oder ich versteinere, oder ich bin verdonnert. Ich bin ein Christ, und als Christ ist es schwer, zu einem Weib zu gehen, wenn man ein gewisses Bild im Herzen hat. Hilf mir zu einem Weibe, Bruder, ich bitte dich darum.«

Christian blickte auf das dunkle Meer hinaus. Wie ist da zu helfen? dachte er und empfand die ganze Kälte der Welt und die Verworrenheit der menschlichen Dinge.

Während er so stand und sann, vernahm er, aus der Ferne, von den Dünen herschallend, einen Schrei, wie ihn ein Mensch in höchster Bedrängnis, ja in Todesnot ausstößt. Auch Amadeus Voß erhob den Kopf und lauschte. Sie sahen einander an.

»Wir wollen hingehen,« schlug Christian vor.

Sie gingen der Richtung nach, aber der Damm war verödet, ebenso der Strand und die Dünen. Noch dreimal hörten sie den Schrei, dumpfer, dann wieder heller, näher, dann wieder ferner; ihr Suchen, Lauschen und schnelles Wandern war vergeblich. Als sie den Rückweg antraten, sagte Voß: »Es war kein Menschenschrei. Es war ein Etwas in der Natur, ein Zeichen. Es war ein Geisterruf. Das kommt vor, und nicht so selten, wie man denkt. Es ruft uns irgendwohin. Einer von uns zweien ist gerufen worden.«

»Mag sein,« erwiderte Christian lächelnd, dessen Sinn für Wirklichkeit solche Deutungen nur im Scherz zuließ.

22

Auf der Reise nach Schottland, zu Macpherson, hielt sich Crammon einen Tag in Frankfurt auf. Er benachrichtigte Christians Mutter, die ihn freundlich dringend zu sich bat.

Es war Ende Juni. Sie saßen auf einem von Geißblatt überwucherten Balkon des Hauses beim Tee. Frau Richberta hatte befohlen, jeden andern Besuch abzuweisen. Das Gespräch plätscherte eine Weile in oberflächlichen Wendungen hin, von vielen Pausen unterbrochen. Nur von Christian wollte Frau Richberta etwas erfahren, denn sie hatte, seit er Christiansruh verlassen, nichts mehr von ihm gehört und hoffte, durch Crammon eine Kunde zu erhalten. Aber Judiths Scheidung und ihre bevorstehende Wiederverheiratung mit Edgar Lorm, Ereignisse, die zu berühren ihr Stolz sich sträubte und über die sie doch nicht völlig schweigen durfte, weil sie einen Mitwisser und Kronzeugen vor sich hatte, mußten vorher wenigstens erwähnt werden.

Sie fand die Anknüpfung nicht, und Crammon, übelwollend und in knorrigem Trotz, obgleich äußerlich glatt, erkannte ihre Verlegenheit, ohne ihr entgegenzukommen.

»Warum wohnen Sie im Hotel, Herr von Crammon?« fragte sie; »Wahnschaffeburg hat ein Anrecht auf Sie, und es ist nicht hübsch, daß Sie uns links liegen lassen.«

»Gönnen Sie einem alten Landstreicher seine Freiheit, gnädigste Frau,« antwortete Crammon; »außerdem würde es mir Herzweh machen, wenn ich diesem Zauberschloß nach vierundzwanzig Stunden schon den Rücken kehren müßte.«

Frau Richberta knabberte an einem Biskuit. »Alles besser als Hotel,« versetzte sie; »Hotel ist immer ein bißchen trübselig; je luxuriöser, je trübseliger eigentlich. Und das Vornehmste ist es auch nicht. Tür an Tür mit irgendeinem, ich bitte Sie. Und die Geräusche. Aber schließlich, was ist heutzutage noch vornehm. Das kommt aus der Mode.« Sie seufzte. Jetzt glaubte sie die Brücke schlagen zu können und gab sich einen Ruck. »Was sagen Sie übrigens zu Judith?« fuhr sie mit gleichmäßig hohler Stimme fort. »Eine beklagenswerte Verirrung. Schon die Ehe mit Imhof war ja keine first-class-Angelegenheit und hat mir nie gefallen wollen; aber das! Ich kann keinem meiner Bekannten in die Augen sehen. Dieses Kind, von dem man bloß fürchten mußte, daß es zu hoch hinaus wollte, dessen Prätensionen gar keine Zügelung vortrugen, wirft sich einem Komödianten an den Hals. Und zu all dem Peinlichen noch die Extravaganz mit dem Vermögensverzicht. Unfaßlich. Mit rechten Dingen geht das nicht zu, Herr von Crammon. Hat sie sich denn klargemacht, was es bedeutet, von einer mehr oder weniger beschränkten Gage leben zu müssen? Unfaßlich.«

»Seien Sie beruhigt, gnädigste Frau,« antwortete Crammon, »Edgar Lorm ist ein Mann von fürstlichem Einkommen; ein großer Künstler.«

»Ach, Künstler,« unterbrach ihn Frau Richberta ziemlich ungeduldig und mit geringschätziger Geste, »das sagt mir nichts. Ja, man bezahlt sie; man bezahlt sie bisweilen sehr gut. Aber es sind lusche Leute. Fortwährend auf der Kippe. Ich bin nicht für die Kippe. Es ist ja jetzt üblich, viel Geschichten mit ihnen zu machen, sogar in unsern Kreisen. Ich habe das nie begriffen. Judith wird ihre Torheit bitter zu büßen haben, und für mich und Wahnschaffe ist es eine schwere Enttäuschung.« Sie seufzte wieder und streifte Crammon mit einem scheuen Seitenblick, bevor sie anscheinend gleichgültig fragte: »Hatten Sie in der letzten Zeit Brief von Christian?«

Crammon verneinte.

»Wir sind seit zwei Monaten ohne jede Nachricht,« fügte Frau Wahnschaffe hinzu. Ein abermaliger scheuer Blick auf Crammon belehrte sie, daß er ihr den gewünschten Aufschluß nicht geben konnte. Er war in diesem Moment nicht genug Herr seines Mienenspiels, um zu verbergen, was sein geheimer Kummer seit langem war.

Ein Pfau stolzierte unter dem Balkon vorüber, öffnete sein Rad, das in der Sonne prachtvoll leuchtete, und schrie widerwärtig.

»Man hat mir erzählt, er sei mit dem Sohn des Försters abgereist,« sagte Crammon und zog die Brauen so weit in die Höhe, daß sein Gesicht einer mittelalterlichen Teufelsfratze glich. »Wohin er gegangen ist, darüber könnte ich nur Vermutungen äußern. Ich halte mich hierzu nicht für befugt, gnädigste Frau. Möglich, daß sich unsre Pfade kreuzen. Wir haben uns im besten Einvernehmen getrennt. Möglich, daß wir uns genau so wiederfinden.«

»Mit dem Sohn des Försters, davon weiß ich,« murmelte Frau Richberta. »Seltsam immerhin. Es ist eine Beziehung neuesten Datums, wie?«

»Allerneuesten Datums, jawohl. Ich kann mir keinen Vers darauf machen. Ein Försterssohn ist ja an sich nichts Besorgniserregendes, aber man müßte doch wissen, was für eine Art Attraktion da im Spiele ist.«

»Ich habe manchmal schlimme Gedanken,« sagte Frau Wahnschaffe leise, und die Haut um ihre Nase wurde fahl. Sie beugte sich jäh nach vorn, und in ihren sonst so leeren Augen entstand eine düstere und angstvolle Glut, die Crammons Meinung über die innere Beschaffenheit der Frau auf einmal veränderte.

»Herr von Crammon,« begann sie mit einer heiser, ja krächzend klingenden Stimme, »Sie sind Christians Freund. Sie haben mich glauben gemacht, daß Sie es sind. So handeln Sie auch als Freund. Gehen Sie zu ihm; ich erwarte es von Ihnen; säumen Sie nicht.«

»Was an mir liegt, soll geschehen,« erwiderte Crammon. »Es war ohnehin meine Absicht, ihn aufzusuchen. Ich gehe für zehn Tage nach Dumbarton, von dort dann zu ihm. Ich werde ihn finden. Grund zur Beängstigung ist nicht vorhanden, gnädigste Frau. Noch immer bin ich der Meinung, daß Christian unter dem Schutz einer besondern Gottheit steht, aber ich gebe zu, man muß von Zeit zu Zeit Nachschau halten, ob der betreffende Engel seinen Posten auch ordentlich versieht.«

»In jedem Fall werden Sie mir schreiben,« sagte Frau Wahnschaffe, und Crammon versprach es. Sie nickte ihm zu, als er sich verabschiedete, die Glut in ihren Augen erlosch, und alleingeblieben versank sie in stumpfes Brüten.

Crammon verbrachte den Abend mit einigen Bekannten in der Stadt. Er kam spät ins Hotel und saß noch eine Weile in der Halle, unbeweglich, unnahbar und aus dem Anblick Vorübergehender schweigsamen Menschenhaß nährend. Dann musterte er die Tafel, auf welcher in kleinen Blättchen die Namen der Gäste geschrieben standen. Was tun die Leute hier? fragte er sich; wie wichtig das aussieht: Rentier Max Ostertag nebst Gattin; warum gerade Ostertag? warum Max? warum nebst Gattin?

Erbittert ging er die Treppe zu seinem Zimmer empor. Erbittert und weltmüde wanderte er in dem langen Korridor auf und ab. Vor sechs oder sieben Türen links und rechts standen je zwei Paar Stiefel, ein Paar Herrenstiefel, ein Paar Damenstiefel. Dieses Gepaartsein der Stiefel erregte allmählich seine Wut. Er erblickte darin eine prahlerische und schamlose Zurschaustellung ehelicher Begebenheiten. Denn das Eheliche und offiziell Gestattete erkannte er am Bau und Wuchs der Stiefel. Er glaubte ihnen eine mißgelaunte und überlang dauernde Zusammengehörigkeit anzumerken, eine breite, von der Wucht der Renten verursachte Getretenheit, eine niedrige Gesinnung, einen selbstgerechten Dünkel.

Er vermochte dem Anreiz nicht zu widerstehen, Verwirrung unter ihnen anzurichten. Er spähte umher, ob ihn niemand belausche, nahm ein Paar Männerstiefel, gesellte es zu den Frauenstiefeln an einer andern Tür und fuhr in dieser Tätigkeit fort, bis kein Paar seine frühere Gesellschaft mehr hatte. Sodann begab er sich zur Ruhe mit der angenehmen Empfindung, die etwa den Verfasser eines Lustspiels erfüllen mag, wenn es ihm gelungen ist, seine Figuren in unwahrscheinliche und kaum entwirrbare Verknüpfungen zu bringen.

In der Frühe wurde er durch den Lärm heftigen und endlosen Wortwechsels aufgeweckt, der aus dem Korridor hereinschallte. Er hob den Kopf, horchte befriedigt, schmunzelte träg, dehnte sich, gähnte geräuschvoll und genoß das Stimmengezeter wie eine erbauliche Morgenmusik.

23

Als Christian am Tag nach der nächtlichen Wanderung zu Eva kam, fand er zu seiner Überraschung viele Menschen bei ihr, Russen, Engländer, Franzosen, Belgier. Bis zu diesem Tag hatte sie sich der Geselligkeit fast ganz entzogen oder sich ihr nur in Stunden gewidmet, die zwischen ihr und Christian vorher vereinbart waren. Die unerwartete Veränderung machte ihn selbst zum Gast, indem sie ihn zugleich aus dem Mittelpunkt an die Peripherie schob.

Es wurde von der Ankunft des Grafen Maidanoff gesprochen, und ein allgemeiner Austausch von Mutmaßungen war im Zug, sowohl über die Dauer seines Aufenthalts wie auch über den Zweck. Politische Kulissen wurden mit bewußter Heuchelei aufgestellt: Besuch beim König, Besprechung mit Ministern. Er hatte zuerst im Hotel Lettoral in Knocke gewohnt, war aber alsbald in die weitläufige und prachtvolle Villa Herzynia übersiedelt, die sein Günstling und Freund Fjodor Szilaghin gemietet hatte.

Szilaghin erschien bald nach Christian. Wiguniewski, offensichtlich hierzu beauftragt, machte sie miteinander bekannt.

»Ich sehe morgen abend einige Freunde bei mir,« sagte Szilaghin mit der ihm eigenen Artigkeit eines großen Komödianten, »ich hoffe, Sie erweisen mir die Ehre zu kommen.« Er musterte Christian kalt, und Christians Nerven spannten sich gepeinigt unter diesem Blick. Er verbeugte sich und beschloß, nicht hinzugehen.

Eva war im Balkonzimmer und posierte der Bildhauerin Beatrix Vanleer. Diese saß mit einem Zeichenblock vor ihr und entwarf Skizzen. Währenddessen plauderte Eva lebhaft mit einigen Herren. Sie reichte Christian die Hand zum Kuß. Seinen fragenden Blick beachtete sie nicht.

In einem zimtfarbenen Kleid mit hoher Frisur, die von einem Elfenbeindiadem gekrönt war, erschien sie ihm außerordentlich fremd. Ihr Gesicht war wie aus Email. Im Kinn drückte sich Feindseliges aus. Zarte Vibrationen der Schläfenmuskeln berührten wie Anzeichen inneren Sturms. Aber diese Wahrnehmung verflüchtigte sich wieder. Hauptsächlich war es eine lähmende Kälte, die um sie strömte.

Als die Bildhauerin fertig war, ging Eva im Gespräch mit einer jungen Fürstin Helfersdorff auf und ab. Sie führte sie auf den Balkon, der in Sonne gebadet lag, dann in ihr Boudoir, in welchem sie sich aufzuhalten liebte, wenn sie las oder von ihren Übungen ruhte. Er folgte den beiden Frauen gequält. Er fühlte, daß er sich demütigte. Er fühlte es zum erstenmal in seinem Leben. Aber es schlug ihn nicht so nieder, wie es, vielleicht vor einer Stunde noch, der Gedanke an die Möglichkeit einer Demütigung getan hätte.

Der Marques Tavera trat zu ihm. Auf der Schwelle des Boudoirs stehend, sprachen sie nichtige Dinge. Christian hörte, wie Eva der jungen Fürstin erzählte, daß sie in einer Woche nach Hamburg fahren werde; der Norddeutsche Lloyd feiere gelegentlich des Stapellaufs eines Riesendampfers ein Fest, und man habe sie eingeladen, zu tanzen. »Ich freue mich eigentlich darauf,« fügte sie heiter hinzu; »den Deutschen bin ich immer noch ein bloßer Name. Sie werden mich examinieren und mir endlich sagen, was ich kann und wohin ich gehöre.«

Die junge Dame blickte die Tänzerin begeistert an. Christian dachte: ich muß sogleich mit ihr sprechen. In jedem Wort, das Eva sprach, fühlte er etwas Feindseliges und Spöttisches gegen sich. Er ließ Tavera stehen und trat in das Gemach. Die Entschiedenheit seiner Bewegung nötigte Eva, ihn anzuschauen. Sie lächelte verwundert; ein kaum merkliches Achselzucken drückte Befremden und Tadel aus.

Der Marques Tavera hatte sich an die Fürstin gewandt, und als die beiden sich anschickten, das Zimmer zu verlassen, schien Eva ihnen folgen zu wollen. Eine Geste Christians, die sie, von der Tür zurückblickend, wahrnahm, bestimmte sie, zu bleiben. Christian schloß die Tür, und Evas Miene wurde immer verwunderter. Aber er spürte, daß diese Verwunderung Komödie war. Er geriet in Verlegenheit und wußte nicht, was er sagen sollte.

Eva ging auf und ab und betastete hie und da einen Gegenstand. »Nun?« fragte sie und sah ihn kalt an.

»Dieser Szilaghin ist mir unerträglich,« murmelte Christian mit gesenktem Blick. »Ich erinnere mich, ich sah einmal in einem Aquarium ein regenbogenfarbiges Meertier, wunderschön, aber zugleich grauenhaft. Ich konnte das Bild nicht los werden. Ich hatte immerfort Lust wieder hinzugehen und immerfort dasselbe häßliche Grauen.«

»O lala,« sagte Eva; weiter nichts. In dem leisen Ausruf lag Geringschätzung, Ungeduld und Neugier. Dann blieb sie stehen. »Ich liebe nicht, daß man mich arretiert,« sagte sie hart. »Ich liebe nicht, daß man mich unter meinen Gästen abfängt, um mir Dinge mitzuteilen, die uninteressant sind. Verzeih, aber es interessiert mich nicht, welchen Eindruck Fjodor Szilaghin auf dich macht; oder genauer gesagt: es interessiert mich nicht mehr.«

Christian schaute sie stumm an. Er erschien sich geschlagen, gezüchtigt und wurde leichenblaß. Das Gefühl der Demütigung wuchs wie ein Fieber. »Er hat mich für morgen in sein Haus gebeten,« stammelte er. »Ich wollte dir nur sagen, daß ich nicht gehen werde.«

»Du wirst gehen,« entgegnen Eva rasch; »ich bitte dich, zu gehen.« Seinem erstaunt fragenden Blick ausweichend, fuhr sie fort: »Maidanoff wird dort sein. Ich wünsche, daß du ihn siehst.«

»Aus welchem Grund?«

»Du sollst wissen, wozu ich greife, was ich tue, wohin ich gehe. Kannst du in Gesichtern lesen? Ich glaube nicht. Immerhin, komm nur.«

»Was hast du beschlossen?« fragte er schwerfällig und scheu.

Sie schüttelte sich vor Ungeduld. »Nichts, was nicht schon längst beschlossen war,« antwortete sie mit einer klirrend hellen Stimme; »dachtest du denn, ich wollte unsern schönen wilden Mai ausspinnen bis zu einem trübseligen November? Die Deutlichkeit von gestern hättest du dir schenken können. Der Traum war zu Ende, und für dich keinen Augenblick früher als für mich. Das mußtest du wissen, und wenn du es nicht gewußt hast, mußtest du dich benehmen, als wüßtest dus. Ein Mann von Geschmack und Welt wirft nicht die Karten auf den Tisch, während der Partner den letzten Einsatz wagt. Du verdienst nicht einen ehrlichen Abschied, wie ich ihn dir gebe. Ich hätte dich an die Paradekette legen und dich aushungern sollen wie die dummen, kleinen Bestien, die mir beständig vorwinseln, daß sie bereit sind, sich für mich zu ruinieren. Sie nennen es ihre Leidenschaft; ein Feuer wie jedes andre, aber ich möchte mir nicht einmal die Kerze daran anzünden, wenn ich Licht brauche, um mir die Schuhe aufzuschnüren.«

Sie hatte die Arme verschränkt, lachte leise und schritt zur Tür.

»Du hast mich mißverstanden,« sagte Christian bestürzt, »du mißverstehst mich gänzlich.« Er trat ihr mit schwach erhobenen Händen in den Weg. »Begreifst du denn nicht? Hätt ich nur die Worte, . . . aber ich liebe dich ja. Ich kann mir ja das Leben ohne dich noch gar nicht vorstellen. Trotzdem, wie soll ichs nur sagen, mir ist wie einem, der ungeheure Summen schuldig ist und fortwährend darum gequält und gemahnt wird und nicht weiß, womit er zahlen soll und wem er zahlen soll. Versteh mich doch recht, ich war übereilt, aber ich dachte, du könntest mir helfen.«

Es war ein Schrei aus der Not, aber Eva hörte ihn nicht und wollte ihn nicht hören. Sie hatte ihr Gefühl im höchsten Bogen ausgespannt; als er brach, war ihr jede Tiefe zu gering, in die sie die Trümmer schleuderte. Sie hatte keine Ohren mehr; sie hatte keine Augen mehr. Sie hatte über ihr Schicksal schon entschieden; und fürchtete sich vor dem Schritt nach vorn, der Schritt zurück ging gegen ihren Stolz und gegen ihr Blut. Eine souveräne Geste schnitt Christian die Rede ab. »Genug,« sagte sie. »Von allem Häßlichen, was es zwischen Menschen gibt, sind Auseinandersetzungen über ein Gefühl das Häßlichste. Ich habe keinen Sinn für Hypochondrien, und mich langweilen Epiloge. Was deine Gläubiger betrifft, so sieh zu, daß du sie kennenlernst und bezahlst. Es ist peinlich, mit rückständigen Rechnungen zu wirtschaften.«

Damit verließ sie das Zimmer.

Christian blieb stehen, senkte langsam den Kopf und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

24

Am andern Tag erhielt Christian eine Depesche von Crammon, worin ihm dieser für die Mitte der Woche seine Ankunft meldete. Er starrte versonnen auf das Papier und mußte sich das Bild Crammons erst Zug für Zug aus der Erinnerung zusammensetzen. Gleich darauf vergaß er es wieder.

Bei Fjodor Szilaghin hatten sich ungefähr zwanzig Personen eingefunden: acht oder zehn Russen, darunter Wiguniewski, die Brüder Maelbeek, junge, belgische Aristokraten, ein französischer Linienschiffskapitän, der Marques Tavera, Mr. Bradshaw, die Fürstin Helfersdorff und ihre Mutter, eine sehr gewöhnlich aussehende Dame, Beatrix Vanleer und Sinaide Gamaleja.

Christian kam später als alle andern, und Szilaghin begrüßte ihn auf einem Sessel halb sitzend, halb liegend; ein junger Wolf kauerte auf seinen Knien, und auf der Armlehne des Sessels stand ein grüner Papagei, von jener Art, die man Kurika nennt. Er entschuldigte sich lächelnd bei Christian, als er ihm die Hand reichte und wies mit einer Miene auf die Tiere, als sei es unmöglich, sich ihrer zu entledigen.

Aus Wiguniewskis Erzählungen wußte Christian, daß Szilaghin solche Schaustellungen liebte. In Oxford war er mit einem Adler an der Kette im Boot gefahren, in der Nacht und allein, in Rom hatte er einst einen Palazzo gemietet und die Hefe der Stadt, Bettler, Krüppel, Dirnen und Zuhälter, zu einem Ball geladen. Die Prahlerei darin war unverkennbar, aber als er vor ihm stand und ihn mit seinen Tieren sah, hatte Christian nicht nur den Eindruck eines krankhaften Übermuts, sondern auch den der Verzweiflung. Nachhaltige Beklommenheit bemächtigte sich seiner.

Die Beleuchtung in den Räumen war auffallend spärlich und düster. Da ein Gewitter heraufzog und wegen der schwülen Hitze die Fenster weit geöffnet waren, streute jedes Aufzucken eines Blitzes unerwartete Helligkeit aus.

Von einigen Gästen aufgefordert, setzte sich Sinaide Gamaleja mit einer Laute unter einen Strauch hochstämmiger Soleil-d'or-Rosen und begann ein russisches Lied zu singen. Um ihre Schultern war ein golddurchwirktes Tuch gebreitet, ein Diamantband schmückte ihr mattschwarzes Haar. Sie war von schmächtigem Wuchs; sie hatte breite Backenknochen, einen breiten Mund und stumpfglühende, weitlidrige Augen.

Der graugelbe Wolf auf Szilaghins Knien erhob den Kopf und äugte schläfrig zwinkernd zu der Sängerin hin; die Melodie hatte einen Traum von der heimatlichen Steppe in ihm erweckt. Auch der Papagei rührte sich; ein unverständliches Wort krächzend, ließ er das schwelgerisch gefärbte Gefieder seines Halses schimmern. Szilaghin mahnte ihn mit dem Finger zur Ruhe; gehorsam duckte der Sittig den Kopf in die Federn, die ein Windhauch aufblies. Ein alter Russe, der sehr geschwätzig war, redete eifrig zu Szilaghin; er überhörte ihn voll Verachtung und sang bei der zweiten Strophe das Lied mit.

Seine Stimme war wohlklingend, ein tiefer, dunkler Bariton. Christian aber dünkte es ein verworfener Wohlklang, so verworfen wie die halbverdeckten, grollenden, schwermütigen, von Menschenverachtung erfüllten Augen, wie das edelgeschnittene, wächserne Gesicht, das für achtzehnjährig gelten konnte, indes die Erfahrungen eines bösen Greises in ihm wohnten, wie die reptilhaft lange, blasse, entnervte Hand, wie das süßliche, müde und geistreiche Lächeln.

Wiguniewski, die Maelbeeks, der Kapitän und Tavera hatten sich im Raum nebenan zum Bakkarat gesetzt. In den Pausen des Gesangs vernahm man das Klirren von Gold und das Aufschlagen der Karten. Die fremden Geräusche erregten den Kurika; er vergaß die empfangene Warnung und stieß wieder sein mißtönendes Gekrächz aus. Sinaide Gamaleja warf ihm einen zornigen Blick zu; eine Sekunde lang krampfte sich ihre Hand über den Saiten.

Da richtete sich Szilaghin auf, packte das Tier mit der einen Hand bei den Füßen, mit der andern beim Kopf und drehte dem entsetzt aufkreischenden, schauerlich sich sträubenden Vogel den Hals rund um seine Achse. Die grüne Leiche schleuderte er mit einer Miene von Ekel auf den Boden und intonierte gleichmütig die dritte Strophe des Liedes.

In Sinaida Gamalejas Augen flammte es befriedigt. Der alte Russe, der mit seinem endlosen Geschwätz die Bildhauerin heimgesucht hatte, schwieg plötzlich. Der Wolf gähnte, und um seine gute Gesinnung zu erhärten, drückte er die Lefzen schmeichelnd auf den Arm seines Herrn.

Christian schaute auf den getöteten Vogel hinab, der mit zerzaustem Gefieder dalag und in einem über den Estrich hinlohenden Blitz wie ein phantastisch großer Smaragd funkelte. Auf einmal wurde ihm das tote Tier zu einem Siegel all des Verworfenen, Eitlen, Lügenhaften, Aufgeputzten und Gefährlichen, das er um sich sah und spürte. Er heftete einen Blick auf Szilaghin, einen Blick auf die Gamaleja und ihre Laute, einen Blick auf den schwatzhaften Alten, einen Blick auf die Spieler und wandte sich ab. Eine Schärfe war in seiner Kehle, ein Brennen in seinen Augen. Er machte ein paar Schritte gegen das nächste Fenster; draußen rauschte das Laub der Bäume und Donner rollten. Da erhob sich in ihm die Frage: wo kommt all dieses Böse her? Wo kommt es her, und warum ist es so schwer, es von sich zu tun?

Es trieb ihn davon. Die Nacht, der Regen, das nahende Gewitter lockten. Der Wunsch erwachte in ihm, sich zu verlieren, im Finstern, im Sturm, fern von Menschen. Er fürchtete sich vor aufsteigenden Tränen, zum erstenmal seit er denken konnte; denn so lange er ein bewußtes Leben führte, hatte er nie geweint. Sein ganzer Körper war durchtobt von einer Erschütterung ohnegleichen, die er noch immer, mit dem Aufgebot aller Kräfte, zu verbergen imstande war. Gerade als er nach der Türklinke greifen wollte, wurde von einem Lakaien die Tür geöffnet, und Maidanoff und Eva erschienen auf der Schwelle. Christian blieb stehen. Aus seinem Gesicht wich jede Spur von Farbe.

In die Gesellschaft kam lebhafte Bewegung. Szilaghin sprang auf und eilte den Ankömmlingen entgegen. Maidanoffs verwitterte Hagerkeit bot einen grellen und düstern Gegensatz zu Evas freudig blühendem Ebenmaß. Sie trug ein Kleid, das fast nur Hauch war, tief ausgeschnitten, an den Schultern mit Perlenschnüren befestigt. Ihre Haut hatte einen fließenden Goldglanz, Hals, Arme, Rumpf und Beine spielten in durchpulstem Leben.

Für Christian war sie Erscheinung ganz. Er starrte sie an; indes sein Name mit andern Namen genannt wurde, die Maidanoff neu waren, starrte er sie an wie ein unergründliches und verhängnisvolles Gebilde. Es war ihm so eisig ums Herz, so ungeheuerlich verlassen; so wild und so stumm; die aufgelockerte Brust konnte die Spannung nicht mehr ertragen; schon maßen ihn Blicke: eine fehlende Hemmung, und das Aufstöhnen aus verworrenstem Schmerz, das draußen vier leere Wände und zwei blöd-erstaunte Diener aus dem Mund des Fliehenden hörten, hätte ihn drinnen lächerlich gemacht und erniedrigt.

Es regnete in Strömen, als er aus dem Haus trat; aber ohne nach seinem Wagen zu rufen, ging er die Straße hinab.

25

Nach einem Verlust von achtundzwanzigtausend Franken, soviel hatte er nach und nach von Mr. Bradshaw und Fürst Wiguniewski erhalten, stand Amadeus Voß vom Spieltisch auf und wankte ins Freie. Als trübes Ziel schwebte ihm vor, Christian zu unterrichten, damit er innerhalb vierundzwanzig Stunden die Schuld begleichen konnte.

Er ging aufs Telegraphenamt und schickte eine Depesche an Christian ab.

Dann stand er unter einer blühenden Kastanie und stammelte: »Bruder, Bruder.«

Als ein Weib des Weges kam, schloß er sich ihr an. Doch plötzlich stieß er ein Gelächter aus, schwenkte in eine Seitengasse ab und ging allein weiter.

Er ging und ging und ging, sechs Stunden lang, bis zwei Uhr morgens, da war er in Heyst. Sein Gehirn zog sich zu einem Klumpen zusammen, in dem kein Licht und kein Gedanke mehr war.

Grauschwarze Wellenhügel, die sich wälzten, zeigten sich ihm als Leiber von Frauen. Die Wolken, die in der heißen Nacht gegen Norden zogen, waren Mäntel über begehrenswerten Formen. Er sehnte sich dumpf über die Länder hin, in denen Liebe war, woran er keinen Teil hatte.

Am Gartentor der Villa stehend, starrte er zu den Fenstern von Christians Zimmern hinauf. Sie waren offen und beleuchtet. »Bruder,« murmelte er, »Bruder.« Da trat Christian an ein Fenster. Der Anblick seiner Gestalt flößte Voß besinnungslosen Haß ein. »Hüte dich, Wahnschaffe!« schrie er.

Christian ging vom Fenster weg und kam alsbald aus dem Tor. Amadeus erwartete ihn mit geballten Fäusten. Aber als Christian näher kam, wandte er sich um und flüchtete, Christian schaute ihm nach, die Straße hinunter. Amadeus' Gang verlangsamte sich, und er folgte ihm.

Nachdem Voß eine Weile planlos herumgeirrt war, verspürte er quälenden Durst. An einer Matrosenkneipe vorübergehend, hielt er inne, überlegte und ging dann hinein. Er ließ sich einen Grog geben, berührte ihn aber nicht. Fünf oder sechs Männer saßen an mehreren Tischen. Drei schliefen, die übrigen stierten betrunken. Der Wirt, eine feiste Galgenphysiognomie, thronte hinter dem Schenktisch und musterte den späten Gast mit der eleganten Kleidung und dem unnatürlich bleichen und verstörten Gesicht. Einer, dems an den Kragen geht, war das Ende seiner Betrachtung, und er gab dem Schankmädchen, einer schwarzhaarigen, schmutzigen Wallonin, einen Wink, daß sie sich zu ihm setzen solle.

Sie setzte sich in freche Nähe und begann ein Gespräch. Er verstand sie nicht. Sie lachte gemein und legte die Hand auf sein Knie. Ihre Brüste bewegten sich hinter dünnen bunten Fetzen wie Tiere. Alles roch nach Tierheit an ihr. Ihm schwindelte. Mordlust regte sich.

Er griff in die Tasche und holte alles Geld hervor, das er noch besaß. Es waren siebzig Franken, drei Goldstücke und fünf Silberstücke. »Hexenzahl,« murmelte und er verfärbte sich noch mehr; »drei und fünf; E. V. A. Hexendrei, Hexengold.«

Die Wallonin schaute begehrlich zu. Ihre Blicke liebkosten das Geld. Der Wirt wälzte sich heran, ein Geschäft witternd.

»Tu deine Kleider von dir, und du sollst alles haben,« sagte Amadeus Voß.

Sie blickte auf seinen Mund. Der Wirt sprach deutsch und übersetzte ihr die Worte. Sie lachte grell und deutete einwilligend gegen die Türe. Amadeus schüttelte den Kopf. »Nein; jetzt; hier,« versteifte er sich. Das Mädchen wandte sich an den Patron, und sie beratschlagten flüsternd. Aus ihren Gebärden war zu entnehmen, daß sie sich aus den ringsum sitzenden Schnarchern und Betrunkenen nichts machten. Das Mädchen verschwand hinter einem braunen Vorhang, der ehemals gelb gewesen war. Der Wirt strich die siebzig Franken vom Tisch, schlich von Fenster zu Fenster, um zu prüfen, ob die roten Tücher keinen Spalt freiließen und stellte sich dann als Wache an die Tür.

Amadeus saß wie in siedendem Wasser. Wenige Minuten verflossen, da wurde der braune Vorhang beiseite geschoben, und die Wallonin trat nackt hervor. Die Matrosen schauten auf. Einer erhob sich und gestikulierte. Einer begann toll zu lachen. Die Wallonin stand mit gesenkten Augen, trotzig, gleichgültig und rieb einen Fuß am andern. Sie war ziemlich dick, ohne jeden Reiz und hatte zerstörte Formen.

Aber für Amadeus Voß mußte es eine überirdische Erscheinung sein, denn er schaute sie entgeistert an. Seine Arme waren aufgestützt und vorgestreckt, die Finger krallenartig eingezogen, um den Mund zuckte es. Die Fischer sowie der Wirt sahen jetzt nicht mehr das Mädchen, sondern nur ihn. Sie empfanden Furcht; der Anblick war so ungewöhnlich für sie, daß sie das Öffnen der Tür unbeachtet ließen. Zu spät stieß der Wirt einen leisen Warnpfiff aus, der Eintretende, es war Christian, gewahrte noch die Nackte, als sie eilig hinter den Vorhang schlüpfte.

Er ging auf Amadeus zu, jedoch dieser nahm keine Notiz von ihm. Unbeweglich starrte er auf die Stelle, wo die Wallonin gestanden war.

Christian legte die Hand auf seine Schulter. Nun erst riß Amadeus den Blick los, kehrte ihn langsam, wie fragend Christian zu, und seinem zuckenden Mund entrangen sich seltsam die Worte: »Est Deus in nobis agitante callescimus illo.«

Dann brach er nieder, fiel mit der Stirn auf die verschränkten Arme, über Nacken und Rücken lief ein Zittern.

Der Patron murrte.

»Komm, Amadeus,« sagte Christian ruhig.

Die betrunkenen Fischer glotzten.

Amadeus richtete sich auf und tastete wie ein Blinder nach Christians Hand.

»Komm, Amadeus,« sagte Christian, und seine Stimme schien tiefen Eindruck auf Voß zu machen, denn er folgte ihm ohne Widerspruch. Der Wirt wie auch die Fischer drängten ihnen nach bis auf die Gasse.

Der Wirt sagte zu den Fischern: »Das sind nun Herren. Wie schlecht unsre Welt regiert wird, erkennt man daraus, daß Herren sich so aufführen.«

»Es wird schon Tag,« sagte einer der Fischer und wies auf einen Purpurstreifen am östlichen Himmel.

Auch Amadeus und Christian schauten in den purpurgesäumten Osten. »Est Deus in nobis agitante callescimus illo,« sagte Amadeus.


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