Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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6

Felix Imhof und der Maler Weikhardt trafen sich in der Ausstellung der Münchener Sezession. Sie wanderten eine Weile durch die Räume und besahen die Bilder. Danach gingen sie auf die Terrasse und setzten sich an einen Tisch, der die Aussicht auf den englischen Garten gewährte.

Es war eine frühe Nachmittagsstunde; der Öl- und Terpentingeruch aus den Sälen mischte sich mit dem Sonnen- und Pflanzengeruch von draußen.

Imhof warf seine langen Beine übereinander und gähnte affektiert. »Werde jetzt diesem vortrefflichen Kunst- und Kulturzentrum einige Monate den Rücken kehren,« sagte er. »Fahre mit dem Staatssekretär für die Kolonien nach Südwest. Will mal sehen, wies da unten zugeht; bißchen den Leuten auf die Finger gucken; bißchen Neuland erforschen, bißchen jagen.«

Weikhardt war ganz in sich versunken, in seine Bedrängnisse, Mißhelligkeiten und Kämpfe und sprach daher nur von sich. »Ich soll für die alte Gräfin Matuschka den Luini-Zyklus in der Brera kopieren,« berichtete er; »sie hat ein paar leere Wände in ihrem galizischen Schloß, für die will sie Tapeten haben. Aber die Person ist filzig wie ein Rettich, und es ist ein widerliches Feilschen.«

Auch Imhof blieb in seinem Geleise. »Habe in letzter Zeit viel Stanhope gelesen,« sagte er; »kolossaler Kerl. Durch und durch modern; Reporter und Konquistador. Felsenbrecher nannten ihn die Schwarzen, bula matari. Nach so was wässert einem der Mund. Imponiert mir scheußlich, der Mann.«

Weikhardt fuhr fort: »Was hilfts, ich muß den Auftrag übernehmen; es ist Matthäi am letzten bei mir. Aber ich freu mich auf die alten Italiener. Es gibt da in Mailand eine Beweinung Christi von Tintoretto; anbetungswürdig. Ich bin jetzt einem Geheimnis auf der Spur. Ich mache Dinge, die gut wirken werden. Neulich hatte ich ein Bild fertig, eine einfache Landschaft, und ging damit zu einem Bekannten, der einen ziemlich vornehmen Raum hat, wo wir es aufhingen. Graue Wandverkleidung, Möbel schwarz mit Gold. Der Mann ist reich, er wollte das Bild kaufen. Ich hatte aber ein solches Aufleuchten von Mut, als es ihm gefiel, als es da hing in dem zarten, melancholischen Frieden dieser Farbenzusammenstellung, daß es mir unmöglich war, von Geld zu reden, und so hab ichs ihm geschenkt. Er hat es angenommen, ohne viele Worte. Er sagte nur immer: die Sache ist verdammt gut.«

»Es wird mich auf andre Gedanken bringen, so ne kleine Spritztour in die südliche Hemisphäre,« sagte Imhof. »Ich logiere ja momentan nicht in Fortunas Schoß. Geht mir sogar ganz ausgesprochen rotzig. Mein bestes Pferd ist zuschanden geritten; mein Lieblingshund ist krepiert; meine Frau ist auf und davon, meine Freunde meiden mich, weiß nicht warum; meine Geschäfte gehen den Krebsgang, alle Spekulationen schlagen fehl. Aber schließlich, was tuts. Ich sage mir: Kopf hoch, Junge; da ist die große, schöne Welt, da ist das reiche, wundervolle Leben; beklagst du dich, so verdienst du was um die Ohren. Mein Butterbrot ist in den Dreck gefallen; bon, streich ich mir ein frisches. Wer in den Krieg zieht, muß auf eine Blessur gefaßt sein. Die Hauptsache ist, daß man zur Fahne steht. Die Hauptsache ist der Glaube, der richtige Köhlerglaube.«

Wer zuerst dem Partner sich zuwenden, zuerst des andern Stimme hören würde, war noch fraglich. Weikhardt, düster vor sich hinblickend, ergriff wieder das Wort. »Dieses stumme Alleinsein in einem Atelier mit hundert verunglückten Schmieragen und den Gespenstern von hunderttausend verzweifelten Stunden! Ich hätte jetzt Gelegenheit, zu heiraten, und werde es auch tun. Das Mädchen hat zwar kein Geld, aber sie hat Herz. Sie fürchtet sich nicht vor meiner Armut und versteht die Donquichotterie, die das Leben eines Künstlers ausmacht. Sie stammt aus einer protestantischen Familie mit freigeistiger Überlieferung, hat sich aber vor zwei Jahren zum Katholizismus bekehrt. Als ich sie kennenlernte, war ich voll Mißtrauen und suchte alle möglichen Gründe dafür, nur nicht den einfachen und menschlichen. Es ist sehr schwer, das Einfache und Menschliche zu sehen, und noch viel schwerer, es zu tun, außerordentlich schwer. Nach und nach begriff ich, was das heißt: zu glauben; ich begriff, was an jedem Glauben heilig ist. Der Glaube selbst ist heilig, nicht das, was geglaubt wird. Gleichgültig, woran man glaubt, an ein Buch, an ein Tier, an einen Menschen, an einen Stern, an Gott; gleichgültig, es muß nur der Glaube sein, der unverrückbare, unbezwingliche Glaube; Sie haben ganz recht: der Köhlerglaube.«

Sie hatten sich doch in einem Wort gefunden. »Wann bekomme ich mein Bild, die Kreuzabnahme?« erkundigte sich Imhof.

Weikhardt antwortete nicht darauf. Sein hübsches, glattes, jungenhaftes Gesicht bekam, je länger er sprach, immer mehr Ähnlichkeit mit dem eines zänkischen alten Mannes. Doch seine Stimme blieb sanft und langsam und sein Wesen phlegmatisch. »Die heutige Menschheit hat den Glauben verloren,« fuhr er fort; »der Glaube ist ausgeronnen wie das Wasser aus einem zersprungenen Glas. Die Zeit wird von der Maschine tyrannisiert; es ist eine Pöbelherrschaft sondergleichen. Wer rettet mich vor der Maschine, vor dem Betrieb? Das goldene Kalb hat die Tollwut bekommen. Der Geist macht Kotau vor dem Warenhaus. Vielleicht rettet mich das I. N. R. I. vor dem M. W. Machen wir, heißt die Parole, m. w. Wir machen Christentum, wir machen Renaissance, wir machen Eiweiß, wir machen Kultur, brav und folgsam unter staatlicher Kontrolle, und wenns nicht ganz das Echte ist, ists doch brauchbar. Alles wendet sich ans Äußere, alles wird Ausdruck, Linie, Schnörkel, Gebärde, Maske; alles wird an die Mauer geklebt und blendend beleuchtet, alles ist das Neueste, bis das Allerneueste in Funktion tritt: die Seele flieht, die Güte hört auf, die Form zerbricht, die Ehrfurcht stirbt. Graut Ihnen nicht auch ein wenig vor dem Geschlecht, das jetzt heranwächst? Es ist eine Luft wie vor der Sintflut.«

»Male Maler, schimpfe nicht,« sagte Imhof mild.

»Freilich,« gab Weikhardt etwas beschämt zu, »wir wissen ja nicht, worauf alles abzielt. Aber es gibt doch Symptome, die einem wenig Hoffnung lassen, typische Fälle gewissermaßen. Haben Sie von dem Selbstmord des Deutschamerikaners Scharnitzer gehört? Er war in Künstlerkreisen ziemlich bekannt, ging selber in die Ateliers und kaufte, was ihm gefiel, ohne zu handeln. Manchmal kam er mit seiner achtzehnjährigen Tochter, einem engelschönen Geschöpf; Sybil hieß sie, und für sie kaufte er auch die Bilder; sie liebte besonders Stilleben und Blumenstücke. Der Mann hatte in Kalifornien durch Holzhandel viele Millionen verdient und sich dann hierher zurückgezogen, in die alte Heimat, um dem Mädchen eine Atmosphäre von Bildung und Ruhe zu schaffen. Sybil war sein einziger Gedanke, seine Hoffnung, sein Idol, seine ganze Welt. Er war nur kurz verheiratet gewesen, die Frau war ihm durchgegangen, wie es heißt mit einem Mulatten, und auf dieses Kind hatte er nun alles gesetzt, was ihm, nach einem Leben fieberhafter Arbeit, an Gefühl und Vertrauen und Zukunft geblieben war. Er sah ein erlesenes Wesen in ihr, eine kleine Heilige, und so erscheint sie auch, außerordentlich fein, stolz, ätherisch; man würde nicht wagen, mit einem Finger nach ihr zu greifen. Eine wohltuende Harmonie ging von dem Beisammensein der beiden aus, namentlich der Vater machte einen glücklichen Eindruck; um so verblüffender war dann der selbstgewählte Tod des Mannes. Niemand ahnte den Grund, man dachte an Sinnesverwirrung, aber er hatte einen Brief an einen amerikanischen Freund hinterlassen, der die Motive erklärte. Eines Tages war er krank und mußte das Bett hüten. Sybil hatte ein paar Gefährtinnen zum Tee geladen, und die jungen Mädchen befanden sich drei oder vier Räume vom Zimmer des Kranken entfernt. Alle Türen waren offen bis auf die letzte, und auch die war nur angelehnt, so daß das Geplauder der Mädchen zu ihm herüberklang, in unbestimmten Lauten, und ohne daß er die Worte verstehen konnte. Da erfaßte ihn die Neugier, zu erfahren, wovon sie sich unterhielten. Er erhob sich, warf einen Schlafrock über, ging leise durch die Zimmer und blieb vor der letzten Türe lauschend stehen. Das Gespräch drehte sich um Zukunftsdinge, um künftiges Glück, um Liebe und Ehe. Jede entwickelte ihre Ansichten, endlich kam die Reihe an Sybil, die sich sträubte und sich erst äußerte, als man sie lebhaft bedrängte. Da sagte sie, aus Gefühlen mache sie sich überhaupt nichts; Gefühle seien ihr nur lästig; sie kenne weder Sehnsucht noch Liebe; nicht einmal Dankbarkeit vermöge sie zu empfinden; von einer Heirat erwarte sie lediglich die Befreiung von einem unbequemen Joch; der Mann, dem sie ihre Hand reiche, müsse ihr alle Genüsse des Lebens bieten können, grenzenlosen Luxus, gesellschaftliche Stellung und sich im übrigen völlig von ihr beherrschen lassen; das sei ihr Programm und so werde sie es durchführen. Die andern Mädchen schwiegen, keine antwortete. Der heimliche Lauscher aber war von der Stunde an vergiftet. Dieser Zynismus, vorgebracht von einer reinen, seelenhaften Stimme, von einem Wesen, das er anbetete und für ein Wunder an Poesie und Gemütstiefe hielt, an das er alles verschwendet hatte, was er besaß, stürzte ihn in eine unheilbare Schwermut, in der er dann auch seinem Leben ein Ende machte.«

»Mein Lieber, der Mann war kein Holzhändler!« rief Imhof und streckte den Arm in die Luft; »das laß ich mir nicht einreden; der Mann war ein Lyriker.«

»Möglich, daß er ein Lyriker war, möglich,« entgegnete Weikhardt schmunzelnd; »was ändert das? Mich zwingts zur Bewunderung, wenn einer die Konsequenzen aus dem Zusammenbruch seiner Ideale zieht. Es ist besser als bula matari, glauben Sie mir. Die meisten ziehen überhaupt keine Konsequenzen, sie passen sich immerfort an, und dadurch werden sie so gemein und so steril.« Sein Blick verfinsterte sich wieder, und halb für sich fügte er hinzu: »Ich träume manchmal von einem, der nicht steigt, der nicht fällt, von einem, der da wandelt, unteilbar, unveränderlich, unerschrocken und ohne Anpassung. Vollständig ohne Anpassung; von so einem träum ich manchmal.«

Imhof sprang auf und schüttelte seine Kleider zurecht. »Genug geschwatzt,« schnarrte er in dem Offizierston, den er in seinen starken Momenten anzunehmen liebte; »mit Schwatzen wirds nicht besser.« Er schob seinen Arm in den Weikhardts, und während sie die Terrasse verließen, auf der inzwischen auch andre Gäste aufgetaucht waren, rezitierte er in demselben schnarrenden Leutnantston laut und ungeniert die Hölderlinschen Verse: »Und Waffen wider alle, die atmen, trägt / In seinem ewigbangen Stolze der Mensch; im Zwist / Verzehrt er sich und seines Friedens / Blume, die zärtliche, blüht nicht lange.«

7

Am ersten Abend in Hamburg nahm Crammon eine Loge im Schauspielhaus und lud Christian, Johanna Schöntag und Herrn Livholm, einen der Direktoren des Lloyd, ein. Diesen hatte er im Hotel kennen gelernt, wo er Eva einen Begrüßungsbesuch abgestattet hatte; da er ihm gefallen hatte und er auch eine leidliche Figur machte, hatte er sich seiner bemächtigt, um, wie er es nannte, mittelst eines neutralen Strohmanns harmlose Luft zu erzeugen.

»Es ist im Gesellschaftlichen wie in der Kochkunst,« pflegte er zu sagen; »zwischen zwei schwere, füllige Gerüchte muß immer ein schaumiges und den Gaumen bloß oberflächlich reizendes placiert werden; sonst hat die Sache keinen Stil.«

Es wurde ein mittelmäßiges Lustspiel gegeben. Christian langweilte sich, Crammon hielt sich für verpflichtet, eine herablassende und gedämpfte Heiterkeit zu zeigen und versetzte Christian dann und wann einen leichten Stoß in den Rücken, um ihn gleichfalls zu einer Kundgebung von Teilnahme zu ermuntern; Johanna war die einzige, die sich amüsierte, und zwar über einen Darsteller, der eine ernsthafte Rolle zu spielen hatte, aber so albern und gespreizt redete, daß sie bei seinem Auftreten jedesmal ihr Spitzentaschentuch vor den Mund preßte, um ihre Lachlust zu bändigen.

Christian streifte bisweilen das Mädchen mit einem fremden Blick von der Seite. Sie war ihm weder besonders angenehm, noch besonders unangenehm; er wußte nicht, was er aus ihr machen sollte. Diese Empfindung hatte sich nicht verändert, seit er sie, in Evas Gesellschaft, auf der Reise zum erstenmal gesehen.

Sie spürte seinen fremden Blick, und in der untern Partie ihres Gesichts drückte sich, ohne daß ihr Übermut beeinträchtigt wurde, Enttäuschung auf äußerst zarte Weise aus.

Wie hilfesuchend wandte sie sich zu Crammon: »Der Mann ist doch furchtbar komisch, nein?« flüsterte sie, in ihrer charakteristischen Art eine fragende Negation an den Schluß einer Behauptung setzend.

»Der Mann ist unbedingt sehenswert,« stimmte Crammon artig zu.

Da ging die Logentür auf, und Voß trat ins Halbdunkel; in Smoking und Lackschuhen, der Vorschrift entsprechend. Aber niemand hatte ihn erwartet, niemand hatte ihn aufgefordert. Alle sahen ihn erstaunt an; er grüßte, blieb ruhig und ohne Verlegenheit stehen und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Bühne.

Crammon schaute Christian an; Christian zuckte die Achseln. Nach einer Weile erhob sich Crammon und wies mit sarkastischer Höflichkeit auf seinen Platz. Voß schüttelte freundlich ablehnend den Kopf, verfiel aber dann sogleich wieder in die Untertänigkeit des Schulamtskandidaten. Er stammelte: »Ich war im Parkett, schaute herauf; dachte mir: besuchst sie einfach, es macht ja nichts.« Plötzlich ging Crammon hinaus, und man hörte ihn mit dem Logendiener schreien. Johanna war ernst geworden und blickte zerstreut in den Zuschauerraum; Christian hatte in stummer Abwehr die Schultern ein wenig zusammengedrückt; die Leute auf den Nachbarsitzen wurden ungehalten über den Lärm, den Crammon verübte; Herr Livholm spürte nur, daß die Atmosphäre von Korrektheit gestört war; Amadeus Voß allein zeigte Unempfindlichkeit.

Er stand hinter Johanna und dachte: die Haare dieses Frauenzimmers haben einen Geruch, daß einem schwindlig wird. Nachdem der Zwischenaktsvorhang gefallen war, entfernte er sich und kam nicht wieder.

In später Nacht, als er Christian für sich hatte, spie Crammon Wut. »Ich knalle ihn nieder wie einen tollen Hund, wenn er dergleichen noch einmal wagt. Was denkt sich der Mensch? Was sind das für Manieren? Wo ist er aufgewachsen, dieser bebrillte Galgenvogel? Mein ahnungsvolles Gemüt! Ich habe Personen mit Brille immer mißtraut. Warum jagst du ihn nicht zum Teufel? Ich bin im Verlauf meines sündenbeladenen Lebens mit mancherlei Existenzen aneinandergeraten; ich kenne die Creme, ich kenne den Abschaum; aber so ein Bursche ist mir nie begegnet. Beim Zeus, nie! Ich muß Brom nehmen, sonst kann ich nicht schlafen.«

»Ich glaube, du bist ungerecht, Bernhard,« antwortete Christian mit niedergeschlagenen Augen. Sein Gesicht war streng, verschlossen und kalt.

8

Amadeus Voß legte Christian folgenden Plan vor: er wollte nach Berlin, als Hospitant die Universität besuchen und für das medizinische Examen arbeiten.

Christian nickte billigend und sagte, er werde in Kürze ebenfalls nach Berlin kommen. Voß ging im Zimmer auf und ab; er fragte brüsk: »Wovon soll ich leben? Soll ich Akten kopieren? Soll ich mich um Stipendien bewerben? Wenn du mir deine Gunst entziehen willst, so gesteh es offen; durch den Dreck zu waten, hab ich ja gelernt. Der neue wird nicht zäher sein als der alte.«

Christian war überrascht. Vor einer Woche, in Holland noch, hatte er Amadeus zehntausend Franken geschenkt. »Wieviel brauchst du?« fragte er.

»Kost, Logis, Kleidung, Bücher . . .« zählte Voß auf, und seine Miene war die eines Fordernden, der nur aus Rücksicht den Bittsteller spielt. »Ich werde mich billig einrichten.«

»Ich lasse dir monatlich zweitausend Mark anweisen,« sagte Christian mit einem Ausdruck von Widerwillen. Das freche Verlangen nach Geld peinigte ihn. Besitz lastete wie ein Berg auf ihm; er konnte die Arme nicht freibekommen, die Brust nicht heben, das Gewicht wurde schwerer und schwerer.

In einer Chrysolitschale auf dem Tisch lag eine Krawattennadel mit einer großen, schwarzen Perle. Voß, dessen Hände immer Beschäftigung suchten, griff nach ihr, nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt sie gegen das Licht. »Willst du sie haben?« fragte Christian. »Nimm sie nur,« überredete er den Zaudernden, »ich mag sie ohnehin nicht.«

Voß trat vor den Spiegel und steckte die Nadel schweigend, mit einem eigentümlichen Lächeln in seinen Schlips.

Als Christian allein war, stand er lange nachdenkend; dann setzte er sich hin und schrieb an seinen Verwalter nach Christiansruh. »Geehrter Herr Borkowski,« schrieb er in seiner steilen Schrift und seinem nicht minder ungelenken Stil, »ich habe mich entschlossen, Christiansruh zu verkaufen, und zwar samt allen Mobilien und Kunstgegenständen, samt dem Park, den Forsten und Ökonomien. Ich beauftrage Sie hiermit, einen verläßlichen und tüchtigen Agenten ausfindig zu machen, der mir etwaige günstige Offerten telegraphisch mitteilen soll. Sie kennen sich ja unter den Leuten aus und brauchen bloß einmal nach Frankfurt hinüberzufahren. Seien Sie so freundlich, die Angelegenheit in möglichster Stille zu erledigen. Inserate in Zeitungen müssen unterbleiben.«

Hierauf schrieb er einen zweiten Brief an den Aufseher des Rennstalls in Waldleiningen. Diesen abzufassen, kostete mehr Überwindung als der erste, denn er sah fortwährend die sanften und feurigen Augen der edlen Tiere auf sich gerichtet. Er schrieb: »Geehrter Herr Schaller, ich habe mich entschlossen, meinen Rennstall aufzulösen. Die Tiere sollen ehestens zur Auktion gebracht oder unter der Hand an Liebhaber abgegeben werden. Letzteres wäre mir natürlich angenehmer, was ich auch von Ihnen voraussetze. Baron Deidinger auf Deidingshausen hat sich seinerzeit sehr für »Columbus« und für »Lovely« interessiert. Ziehen Sie mal Erkundigungen ein. »Admirable« und »Windsbraut« könnte man dem Fürsten Pleß oder Herrn von Strathmann anbieten. Sir Denis Lays »Exzelsior« lassen Sie nach Baden-Baden schaffen und einstweilen im Stall des Grafen Treuberg versorgen. Ich möchte nicht, daß er allein in Waldleiningen bleibt.«

Als er die Briefe versiegelt hatte, atmete er auf. Er läutete dem Diener und gab ihm die Briefe zur Beförderung. Der Diener hatte sich schon zum Gehen gewandt, da rief ihn Christian zurück. »Ich muß Ihnen leider Ihre Stelle kündigen, Wilhelm,« sagte er; »ich will mich von jetzt an allein behelfen.«

Der Mann traute seinen Ohren nicht. Er war seit drei Jahren in Christians Diensten und ihm aufrichtig zugetan.

»Leider, es muß sein,« sagte Christian, blickte an ihm vorüber und lächelte fast genau so eigentümlich wie Amadeus Voß, als er vor dem Spiegel die Perlennadel in seinen Schlips gesteckt hatte.

9

Crammon behauptete, Amadeus Voß mache Johanna Schöntag den Hof. Johanna schlug unwillig mit dem Handschuh nach ihm. »Ich gratuliere zu der Eroberung, Rumpelstilzchen,« neckte Crammon. »Ein Werwolf an der Leine, das ist schon was; damit kann man sich sehen lassen. Ich bin aber auch für einen Maulkorb. Nicht wahr, Christian, mein Herzchen, wir sind für einen Maulkorb?«

»Maulkorb? Ich weiß nicht,« antwortete Christian. »Wenn es am Reden hinderte. Viele reden zu viel.«

Crammon biß sich auf die Lippen. Die Zurechtweisung dünkte ihn hart. Da war irgendwo ein Stein in den Daunen verborgen, auf denen er lag und schlemmte; es tat weh. Er suchte den Stein, aber die Weichheit der Daunen beruhigte ihn wieder, und er vergaß den Schmerz.

»Ich saß im Frühstücksraum und wartete auf Madame Sorel,« erzählte Johanna mit einer Stimme, die in jeder Hebung und Schattierung um Christians Ohr warb; »da kam Herr Voß herein und ging geradeswegs auf mich zu. Ich dachte: böser Mann; was will der böse Mann von mir? Er fragte mich, wie wenn wir seit Jahren dick befreundet wären, ob ich mit ihm nach Sankt Pauli gehen wolle, der berühmte Wanderpastor Jakobsen hielte eine Predigt dort. Ich mußte ihm ins Gesicht lachen, da war er ganz beleidigt. Und heute nachmittag, als ich das Hotel verließ, stand er auf einmal wie aus dem Boden geschossen wieder vor mir und lud mich zu einer Spazierfahrt im Hafen ein; er habe ein Motorboot gemietet und suche Gesellschaft. Er war wieder genau so grimmig vertraulich, und als er wegging, genau so beleidigt. Und das, Onkelchen, nennen Sie den Hof machen? Ich hatte eher das Gefühl, er wollte mich verschleppen und umbringen. Aber vielleicht ist das seine Manier.« Sie lachte.

»Jedenfalls sind Sie die einzige, die er so schmeichelhaft auszeichnet,« fuhr Crammon fort zu sticheln.

»Oder die einzige, die er für seinesgleichen hält,« antwortete Johanna mit kindlich verzogener Stirn.

Christians Gedanke war: warum lacht sie so oft? Warum sind ihre Hände so plump und rot? Johanna spürte sein Mißfallen und war gelähmt. Gleichwohl fühlte sich Christian durch eine verborgene Kraft angezogen.

Weshalb sich sträuben? Weshalb so viel Umstände machen? dachte er, als Johanna sich erhob und er mit verdeckten Blicken ihre graziöse Gestalt maß, die noch die Biegsamkeit sinnlicher Unreife hatte; als er den Ansatz ihres schlanken Nackens gewahrte, in dem sich zugleich Schwäche des Willens und Feinheit der Rasse ausdrückte. Er kannte diese Zeichen. Er hatte sie stets zu deuten und zu nutzen verstanden.

Crammon, massig in einen Klubsessel gegossen, sprach mit Emphase von dem morgigen Tanzabend Evas, der die ganze Stadt mit Erwartung erfüllte. Christian und Johanna aber sahen plötzlich einander.

»Kommst du mit?« wandte sich Christian lässig und gelangweilt an Crammon.

»Ja, mein Schatz, laß uns tafeln!« rief Crammon. Er nannte Hamburg das Paradies des heiligen Bernhard, über den er, als über seinen Schutzpatron und Namensgeber, Spezialforschungen angestellt hatte, und der nach seiner Meinung ein gewaltiger Fresser gewesen, zu Tours in Frankreich anno Domini.

Ein banges, verschlagenes Weiberlächeln spielte um Johannas Lippen. Als sie den beiden voranschritt, war Bedrücktheit und zugleich humoristische Auflehnung gegen das Bedrückte und Unfreie in den Bewegungen ihres eckig-zierlichen Körpers.

10

Amadeus Voß wußte, daß er niemandes Sympathien hatte; niemandes außer Christians. Und diesen beargwöhnte er; er zählte, wog und haderte. In der Angst vor Verstellung und Verrat heuchelte und verriet er selbst. Nichts diente ihm, nichts überzeugte ihn, nichts versöhnte ihn. Daß Christians Blick und Gegenwart eine bändigende Wirkung auf ihn hatte, verzieh er ihm am wenigsten. Seine Erbitterung stöhnte aus Träumen.

Er las in der Schrift: Ein Hausvater pflanzte einen Weinberg; umgab ihn mit einem Zaun; ließ darin eine Kelter graben und einen Wachtturm bauen; und vermietete ihn an Weingärtner und reisete außer Landes. Da nun die Zeit der Früchte gekommen war, schickte er seine Knechte zu den Weingärtnern, um die Früchte in Empfang zu nehmen. Die Weingärtner aber fielen über seine Knechte her, schlugen den einen, töteten den andern und steinigten den dritten. Noch einmal schickte er andre Knechte, und zwar mehr als zuvor; und sie behandelten diese auf gleiche Art. Zuletzt aber schickte er seinen Sohn zu ihnen und sprach: vor meinem Sohn werden sie doch wohl Ehrfurcht haben. Als aber die Weingärtner den Sohn sahen, sagten sie: »Dieser ist der Erbe! Auf, laßt uns ihn töten.« Sie packten ihn, schleppten ihn zum Weinberg hinaus und töteten ihn.

Manchmal wich er stundenlang nicht von Christians Seite, studierte seine Gesten, seine Mienen, und jede Wahrnehmung trieb ihm die fressende Glut ins Gehirn. Dieses ist der Erbe! Dann floh er, zerstörte sich, zerrieb sich, und Schuldgefühl steigerte sich bis zur Zerknirschung. Er kehrte zurück, und sein Wesen war Beichte: ich kann nur bei dir gedeihen. Ihm schien, es müsse gehört werden wie ein Schrei. Es wurde nicht gehört, und der Bruder wurde wieder zum Feind. So schwankte er auf und ab, von der Finsternis durch Feuer und Qualm in die Finsternis.

Er litt unter seiner Befangenheit und unter seiner Aufdringlichkeit. Mitten in dem Luxus und Überfluß, in die er durch einen märchenhaften Glückswechsel versetzt war, litt er unter der Erinnerung an seine frühere Armut, spürte er noch, wie sie ihn geknebelt und gewürgt hatte, bäumte sich noch gegen sie auf. Er griff nicht hin, schloß die Augen, schauderte vor Begierde und Gewissensqual. Die Bildseite des Gewebes wollte er nicht betrachten; er drehte es um und grübelte finster nach dem Sinn der wirr verknüpften Fäden. Da war keine Beziehung, die er nicht verdächtigt, kein heiteres Gespräch andrer, in dem er nicht einen Stachel für sich gefunden, kein Gesicht, das nicht seinen Haß vermehrt, keine Schönheit, die ihm nicht ihr Widerspiel gezeigt hätte. Alles wurde Gift, alles Fäulnis, Blüte ward Unkraut, Sammet Nessus, Licht ein Schwelen, Kitzel eine Wunde; an jeder Mauer stand das mene tekel upharsim flammend.

Er gab sich nicht, wurde nicht weich. Neid glomm weiter, auch wenn das Begehrte errungen war. Was ihn jemals erniedrigt hatte, reizte die Rachlust bei jedem Darandenken. Züchtigungen, die er vom Vater erfahren, verzerrten dessen Bild im Grab; Mitschüler im Seminar hatten ihm einst Pfeffer in den Kaffee geschüttet; er konnte es nicht vergessen; nicht vergessen die Miene Adeline Ribbecks, als sie ihm nach dem ersten Monat den Gehalt im geschlossenen Kuvert überreicht; Unglimpf und Mißachtung von Hunderten, die sich an ihm und nur an ihm schadlos gehalten für die Bedrückungen, welchen sie selbst ausgesetzt waren. Er konnte es nicht verwinden, dem Schicksal nicht verzeihen; die eingeätzten Male brannten frisch.

Dann wieder warf er sich hin, betend, bettelnd, der Verzeihung seinerseits bedürftig. Von religiösen Skrupeln gefoltert, von Reue geplagt, verlangte ihn nach ausgelöschtem Bewußtsein, sprach er Verdammung über sich, verdammte er sich zur Askese.

Und Askese schleuderte ihn in die Ausschweifung, die wahllos war, wüst, unsinnig, mit unsinnigem Verprassen von Geld. Er konnte die Erregungen des Spiels nicht mehr missen und geriet in die Hände von Bauernfängern, in verrufene Lasterhöhlen, äffte dort den reichen Kavalier, den Aristokraten im Inkognito, denn es trieb ihn, die Maske zu erproben und sich ihre Verächtlichkeit zu beweisen. Da man ihn in einer Rolle ernst zu nehmen schien, die ihn selber mit Scham und Verzweiflung erfüllte, verschmerzte er die hohen Verluste und übersah die plumpen Betrügereien. Eines Abends drang Polizei in das Lokal, wo er war; er konnte nur mit knapper Not entwischen. Ein Individuum heftete sich an seine Fersen, spiegelte ihm Gefahren vor, drohte mit Anzeige und erpreßte ihm ein Schweiggeld.

Er wurde die Beute von Kokotten. Er kaufte ihnen Schmuck und Kleider und veranstaltete nächtliche Gelage. Sie waren Verworfene in seinen Augen, die er benutzte wie ein Durstiger aus der Pfütze trinkt, wenn er reines Wasser nicht bekommen kann. Und er gab es ihnen brutal zu verstehen; er zahlte dafür, daß sie es ertrugen, und sie wunderten sich, wehrten sich nur gegen den infamsten Schimpf, machten sich lustig über Züge von Muckertum, die erzählt wurden. Mit einer, die jung und hübsch war, hatte er eine Stunde allein verbracht; er hatte sich dabei die Augen verbunden und war plötzlich wie von Furien gejagt davongestürzt.

Dreimal hatte er den Tag seiner Abreise festgesetzt, dreimal ihn verschoben. Das Bild Johannas war zu Evas Bild getreten. Beide tobten in seinem Hirn. Beide waren in unerreichbarer Welt. Die Häßliche schien ihm verwandt, möglicherweise war sie zu umstricken; die Schöne war wie gellender Hohn seiner Existenz. Er hatte nun von ihrer Kunst so viel gehört und in Zeitungen gelesen, daß er beschloß, den Abend ihrer Vorstellung abzuwarten, um, wie er zu Christian äußerte, sich ein Urteil zu bilden und nicht länger der Gefoppte von Verblendeten und frechen Schmeichlern zu sein.

Es war theatre paré. Er saß neben Christian in dem reichgeschmückten und festlich beleuchteten Saal, in welchem fürstliche Personen, die Familien der Senatoren, die Spitzen der Behörden und der Handelswelt und Abgesandte aus allen Gauen und Städten Deutschlands zu sehen waren. Christian hatte Plätze dicht hinter dem Orchester genommen; Crammon, als Kenner perspektivischer Wirkungen, hatte die erste Reihe des Balkons vorgezogen; Johanna und Botho von Thüngen waren seine Nachbarn; er hatte ihnen eindringlich erklärt, daß in der Tiefe des Theaters das Spiel der Beine und der Füße durch die Rampenlinie schädlich abgeschnitten würde, während es hier, in mittlerer Höhe, harmonisch zum Ganzen fließe.

Amadeus Voß blieb in seiner vorgefaßten Starrheit. Er sträubte sich nicht etwa, spürte nicht ein Mächtiges, dem er trotzen mußte; er war und blieb kalt, trüb und blöde. Da flog im abgeteilten Raum ein Wesen vogelhaft, der Schwere wunderbar entledigt; da offenbarte sich ein Rhythmus, der Bewegung in Gesang verwandelte; da brachen die Ketten seelischer Bindung, Gefühl war Bild, Handlung Mythos, Schreiten Sieg über die Materie; seine Miene aber drückte aus: wozu dient mir das? Wozu dient euch das? Von geschlechtlichem Ingrimm erfüllt, sah er nur eine aufreizende Schaustellung, und als das Gewitter des Beifalls losbrach, bleckte er die Zähne.

Das letzte Stück war eine Art Tanz-Proverbe, ein lieblicher Scherz, den sie zu einer Musik von Delibes erfunden und ausgearbeitet hatte. Der Inhalt bestand in nichts andrem, als daß ein Pierrot einen Kreisel schlägt und, seinen launenvollen Lauf lenkend und regelnd, in immer neuen Stellungen, Sprüngen und Wendungen den Widerstrebenden und endlich Erschöpften einem Loch zutreibt, in dem er spurlos verschwindet. Der nichtige Vorgang war durch den Wechsel und durch den Reichtum der Positionen mit solchem Leben erfüllt, funkelnder Übermut und die rascheste Grazie, die je auf Brettern sich ihren Eingebungen überlassen, hatten ihn derart zu einem Kunstgebilde erhöht, daß das Zuschauen atemloses Staunen wurde und der Dank eine Raserei.

Im Foyer stürzte Crammon auf Christian zu und zog ihn durch Menschenmassen in einen halbfinstern Gang und hinter die Bühne. Amadeus Voß, von Crammon nicht beachtet, folgte beiden mürrisch und gedankenlos. Der Anblick von Kulissen, papiernen Felsen und Bäumen, aufgerollten Prospekten, Beleuchtungsmaschinen, Flaschenzügen und hin und herrennenden Arbeitern schürte dumpf-feindselige Neugier.

Erregte Menschen drängten sich in Evas Garderobe. Sie saß, im schwarzundweißgewürfelten Pierrotkleid noch, die zierliche, silberne Peitsche, mit der sie den Kreisel getrieben, in der Hand, unter Blumen, die zu einem Berg um sie gehäuft waren. Vor ihr kniete Johanna Schöntag und schaute mit heißschimmernden Augen zu ihr auf. Susanne Rappard reichte der Herrin ein Glas Sekt; dann begann sie mit den ungerufenen Gästen in einem Kauderwelsch aus fünf bis sechs Idiomen zu verhandeln und ihnen begreiflich zu machen, daß sie im Wege seien. Aber jeder wollte einen Blick, ein Wort, ein Lächeln Evas erobern.

Neben der Garderobe, abgetrennt von ihr durch eine falsche Wand mit einem türlosen Eingang, befand sich ein schmaler Ankleideraum, der außer den Kostümen der Tänzerin nur einen großen Stehspiegel enthielt. Mehr beiseite geschoben, als von eignem Antrieb bestimmt, sah sich Voß unvermerkt in diesem Gemach allein, und als er es einmal betreten hatte, wuchs seine Kühnheit; er wagte noch ein paar Schritte.

Er schaute sich um und starrte auf die Gewänder, die da lagen und hingen; auf die glitzernden Seidenstoffe, die roten, grünen, blauen, weißen und gelben Tücher und Schleier, auf die duftigen Gewebe aus Gaze, Battist und Tüll. Da war das durchsichtige Gespinst und der schwere Brokat; da glänzte ein Kleid wie pures Gold, dort war ein silberdurchwirktes und ein mit Pailletten behängtes; eins sah aus wie von Rosenblättern gemacht, eines war wie ein Netz aus Glasfäden, dieses wie weißer Schaum, jenes wie ein violetter Stein. Und da standen zierliche Schuhe, der Reihe nach; Schuhe aus Maroquin, aus Seide und aus Bast; da waren Strümpfe in allen Farben, und Bänder und Spitzen und allerlei antiker Schmuck. Die Luft war von einem Geruch erfüllt, der seine Sinne aufregte; es roch nach Salben und kostbarem Öl, nach Frauenhaut und Frauenhaar. Seine Pulse klopften, sein Gesicht wurde grau; mechanisch streckte er den Arm aus und griff nach einem kunstvoll bemalten spanischen Schal; er zerknüllte ihn in den Händen, zornig, gierig, fassungslos und grub Mund und Nase hinein, an allen Gliedern zitternd.

Da gewahrte ihn Susanne Rappard und deutete befremdet hinein. Eva wurde aufmerksam, schob Johanna sanft von sich weg, erhob sich und schritt auf die Schwelle. Als sie den Verzückten, besessen Versunkenen erblickte, war ihr, als geschähe Unflätiges, und sie stieß einen leisen, kurzen Schrei aus. Amadeus Voß zuckte, ließ das Tuch fallen und schaute sie wild und schuldbewußt an. Mit einem Ausdruck lachender, unsäglich tiefer Verachtung, einem monatealten Abscheu, hob Eva die silberne Peitsche und schlug ihn ins Gesicht, das nun jede Spur von Farbe verlor und sich zu wollüstigem Schrecken verkrampfte.

In dem bestürzten Schweigen ging Christian auf Eva zu, nahm der Erstaunten die Peitsche aus der Hand und sagte mit einer Stimme, die sich kaum von der unterschied, mit welcher er sonst redete: »Das nicht, Eva; das sollst du nicht tun.« Er hielt die Peitsche an beiden Enden und bog sie so lange, bis das zarte Metall brach. Dann warf er sie zu Boden.

Sie sahen einander an. In Evas Zügen loderte noch der Abscheu; nun kam das Erstaunen über Christians Vermessenheit. Christian dachte: sie ist schön; und er liebte sie. Er liebte sie in dem schwarzundweißgewürfelten Pierrotkostüm mit den großen, schwarzen Samtknöpfen und der Kegelmütze auf den Haaren, von der eine Quaste leichtsinnig baumelte; er liebte sie, unvergleichlich schien sie ihm, und sein Blut schrie nach ihr wie in den Nächten, aus denen sie ihn verstoßen hatte. Aber er fragte sich auch: warum ist sie böse geworden? Da fühlte er ein sonderbares Mitleid, eine sonderbare Befreiung, und er lächelte. Es dünkte allen, die es beobachteten, ein wenig albern, dieses Lächeln.

Amadeus Voß las in der Schrift: Was reibt ihr auf mein Volk und zermalmt das Gesicht der Armen? Weil stolz sind die Töchter Zions und einhergehen mit hochaufgereckten Hälsen und geschminkten Augen, und mit tändelnden Schritten daherkommen, und Spangen an ihren Füßen tragen, so wird der Herr den Scheitel der Töchter Zions kahl machen und entblößen ihre Scham. Und wird allen Schmuck beseitigen, den Schimmer der Fußkettchen, die kleinen Sonnen und die kleinen Monde, die Ohrgehänge, Armbänder und die Schleier, den Kopfputz, die Gürtel, die Riechfläschchen, die Amulette, die Fingerringe, die Oberkleider und Mäntel, die weiten Gewänder und die Beutel, die Spiegel, Hemden und Kopfbinden. Und statt Balsamduft wird Modergeruch sein, statt Gürtel Stricke, statt Haargeflecht Kahlheit, statt eines weiten Mantels ein enger Sack, und statt der Schönheit Brandnarben. Fallen werden deine Männer durch das Schwert und deine Helden im Kriege. Wehklagen werden dann und trauern deine Tore, und beraubt wird jene auf der Erde sitzen.

Am selben Abend fuhr er nach Berlin.

11

Lorm und Judith bewohnten eine prunkvolle Etage im Berliner Tiergartenviertel.

Edgar Lorm blühte auf. Ordnung und Regel beherrschten sein Leben. Mit kindlicher Ruhmredigkeit sprach er von seinem Heim. Sein Direktor und Freund, der Doktor Emanuel Herbst, beglückwünschte ihn zu der Verjüngung, die an ihm bemerkbar wurde.

Menschen, die ihm seit langem etwas galten, führte er Judith vor. Sie äußerte sich über die meisten mit liebloser Schärfe. Ihr Wahnschaffescher Hochmut verscheuchte Gutmeinende. Aus Bequemlichkeit unterwarf sich Lorm, der Vielumworbene, ihrem Urteil.

Nur Emanuel Herbst gab er ihr nicht preis. Als Judith über ihn spottete, über seinen wackligen Gang, seine Häßlichkeit, seine lächerlich dünne Stimme, seine geschmacklosen Kalauer, erwiderte er ernst: »Ich kenne Herbst seit mehr als zwanzig Jahren. Was dich an ihm stört, ist mir genau so lieb wie die Eigenschaften, die ich an ihm schätzen gelernt habe und von denen du noch nichts weißt.«

»Er ist sicher ein Ausbund von Tugend,« versetzte Judith, »aber er langweilt mich über die Maßen.«

Lorm sagte: »Man muß sich an den Gedanken gewöhnen, daß die andern Menschen nicht immer zu unserm Vergnügen da sind. Du stehst zu einseitig auf dem Luxus- und Verbrauchsstandpunkt. Es gibt an Männern eine Qualität, die ich höher anschlage als Schönheit und aristokratische Manieren: das ist Verläßlichkeit. Die Leute, mit denen man in meinem Beruf zu tun hat, entziehen sich den bürgerlichen Pflichten, namentlich der Pflicht, ein gegebenes Wort zu halten, mit einer Ruhe und Frivolität, die einem den Ekel bis an den Hals treibt. Da ist es mir unendlich wertvoll und ich kann es Herbst nicht genug danken, daß das Verhältnis zwischen uns ohne den Schatten eines Mißtrauens und jedes Ja und Nein so gültig und unumstößlich ist wie ein geschriebener Vertrag.«

Judith erkannte, daß sie Herbst gegenüber ihre Taktik ändern mußte. Sie spielte die Liebenswürdige und Bekehrte und warb geschmeidig um Gunst. Der kluge Doktor Herbst durchschaute sie, ließ es sie jedoch nicht merken und behandelte sie mit ritterlicher Artigkeit, die altmodisch wirkte und hinter der er seine Vorbehalte verbarg.

Manchmal saß sie abends in Gesellschaft der beiden Männer und beteiligte sich an Fachgesprächen über Dichter und Theaterstücke, Komödianten und Komödiantinnen, Erfolge und Mißerfolge. Während sie aufmerksam schien oder eine Frage einwarf, dachte sie an die Schneiderin, an die Köchin, an die Wochenrechnung, an das frühere, versunkene, völlig andersgeartete Leben, und ihre Augen blickten hart.

Es kam vor, daß sie mit erbitterter Miene durch die Zimmer ging und sich an allen Dingen feindselig maß. Da haßte sie die vielen Spiegel, deren Lorm bedurfte, die vorgestern gekauften Teppiche, die prunkvollen Möbel und Gemälde, die zahllosen Bibelots, Photographien, Schmuckgeräte, Bücher und pietätvoll bewahrten Erinnerungsstücke.

Sie hatte nie in Häusern gewohnt, wo Mietsparteien über den Köpfen und unter den Füßen durch ihr widrig-unbekanntes Dasein störten. Erbittert lauschte sie den Geräuschen und dünkte sich zu einer Kasernenexistenz erniedrigt.

Es war nicht ihr Element, jeden Morgen zu warten, bis sich der Herr vom Lager erhob; zu sorgen, daß beim Frühstück nichts mangelte; beiseite zustehen, bis der Barbier, der Masseur, der Chauffeur, der Theaterdiener, die Sekretärin ihre Weisungen erhalten und abgefertigt waren; wieder zu warten, bis er müde, verstimmt und ausgehungert von der Probe kam, und ihm beim Essen zuzusehen, das er lecker und reich zu haben wünschte, und das er hinunterschlang wie einen Fraß; ihm Lärm und Besuch fernzuhalten, wenn er memorierte; von Fremden ans Telephon gefordert zu werden, Auskünfte zu erteilen, Einladungen abzusagen, Lästige fortzuschicken, Ungeduldige zu vertrösten. Es war nicht ihr Element, aber sie bezwang sich, so wie sie sich bezwungen hatte, als man ihr die Nadel durch den Arm gestochen hatte.

Emanuel Herbst, scharfer Beobachter und beinahe gelehrter Kenner der menschlichen Natur, zergliederte für sich im stillen das Verhältnis zwischen den beiden Gatten. Er sagte sich: Lorm hält ihr nicht, was sie sich von ihm versprochen hat, so viel ist klar; sie hat geglaubt, ihn schälen zu können, wie man eine Zwiebel schält, so daß sie beständig etwas Überraschendes und Neues in die Hand bekam, hinreichend, sie für alles zu entschädigen, was sie aufgegeben hat. Sie wird bald begreifen, daß ihre Rechnung falsch war; denn Lorm bleibt derselbe; Lorm bleibt sich selber gleich; ihn kann man nicht schälen. Er trägt nur Kostüme, er schminkt sich nur. Eben dies Vermögen, leere Gefäße immer wieder mit schönem Inhalt zu füllen und selbst nichts weiter zu sein als bescheidener Diener seiner Sache, macht sie ihm zum Vorwurf, und je mehr er in ihren Augen schuldig wird, je mehr Macht wird sie über ihn gewinnen. Denn er ist müde. Ohne Zweifel ist er der Bezwungenen müde, der Anbeter und Lobhudler, der Süßigkeiten und Erleichterungen des täglichen Lebens, und es verlangt den grenzenlos Verwöhnten, ohne daß er es weiß, nach Ketten und nach einem Wärter.

Dies Ergebnis seines Nachdenkens erfüllte Emanuel Herbst mit Sorge.

Judith aber erinnerte sich ihres Traumes. Wie sie bei dem Fisch gelegen, weil es ihr so gefiel, und wie sie ihn geschlagen, von Wut erfaßt über seine kühlen, feuchten, schlüpfrigen Schuppen, die am Rücken opalisierten.

Und sie lag bei dem Fisch und schlug ihn, der ihr untertänig und mehr und mehr zu eigen wurde.

Ihre beständige Angst war: ich bin arm, verarmt, abhängig und ungesichert. Der Gedanke quälte sie dermaßen, daß sie ihn einmal gegen die Hausdame aussprach. Erstaunt antwortete diese: »Aber der gnädige Herr gibt Ihnen ja neben Ihrem Nadelgeld monatlich zweitausend Mark für die Wirtschaft, wie können Sie sich da solchen Einbildungen überlassen?«

Judith schaute sie mißtrauisch an. Sie war mißtrauisch gegen alle Leute, die sie bezahlte. Wenn sie von Geld redeten, glaubte sie sich schon bestohlen.

Eines Tages kündigte ihr die Köchin; es war die vierte, seit der Haushalt bestand. Vom abgezählten Zucker fehlten zwölf Würfel, deren Verbrauch nicht nachzuweisen war. Es gab einen häßlichen Streit, und Judith bekam Dinge zu hören, die ihr noch niemand zu sagen gewagt hatte.

Die Sekretärin verlegte einen Schlüssel. Als er endlich gefunden war, stürzte Judith zu der Schublade, die er aufschloß, und sah nach, ob von dem Briefpapier, den Bleistiften und Stahlfedern nichts abhanden gekommen sei.

Die Hausdame hatte zwanzig Meter Leinwand gekauft. Judith fand den Preis zu hoch. Sie fuhr selbst in das Geschäft, der Wagen kostete mehr als sie hoffen konnte zu ersparen, und feilschte mit einem Kommis so lange um Ermäßigung, bis man ihr nachgab. Am Abend erzählte sie Lorm triumphierend davon. Er versäumte es, sie zu loben; beleidigt stand sie vom Tisch auf, sperrte sich in ihrem Zimmer ein und legte sich ins Bett. Immer wenn sie Grund zu haben glaubte, ihm zu zürnen, legte sie sich ins Bett.

Lorm kam an ihre Türe, pochte leise, bat, sie möge ihm öffnen. Sie ließ ihn eine Weile stehen, damit er Zeit habe, zu bereuen, dann öffnete sie. Sie mußte ihre Heldentat noch einmal erzählen, und er hörte mit reizender Neugier zu; dann sagte er: »Du bist ein Juwel« und liebkoste ihre Hand und ihre Wange.

Es konnte aber geschehen, daß sie für Gegenstände, nach denen sie begehrte, Summen ausgab, die in unsinnigem Mißverhältnis zu den mühseligen kleinen Sparkünsten standen. Sie sah einen Hut, ein Kleid, einen Schmuck in einer Auslage, konnte sich von dem Anblick nicht mehr losreißen, ging in das Geschäft und erlegte, ohne zu feilschen, den geforderten Preis.

Eines Tages besuchte sie eine Auktion und kam gerade dazu, wie eine Alt-Wiener Konfektschale ausgeboten wurde, eines jener Stücke, die, obwohl äußerlich unansehnlich, das Entzücken der Sammler sind. Zuerst reizte sie der Gegenstand gar nicht, dann aber erregten die hohen Gebote ihre Aufmerksamkeit, und sie begann selbst zu bieten. Sie entflammte sich, bot und überbot und schlug endlich die Mitbewerber aus dem Feld.

Erhitzt kam sie nach Hause und stürmte in Lorms Arbeitszimmer. Emanuel Herbst befand sich bei Lorm; sie saßen beide am Kamin und pflogen eine vertrauliche Unterhaltung. Judith übersah Herbsts Anwesenheit; sie blieb dicht vor Lorm stehen, packte die Porzellanschale aus der Hülle und sagte: »Da sieh mal, Edgar, was ich Herrliches erwischt habe.«

Es war schon Abend, Lorm hatte aber noch kein Licht angezündet, denn er liebte die Dämmerung und liebte, wenn es dunkel wurde, den Schein des Kaminfeuers, der hier allerdings nur eine großstädtische Nachahmung von Holzfeuer war. Beleuchtet von der gesättigt roten, schwimmenden Reflexglut nahm sich Judith in ihrer Freude und Bewegtheit wundervoll aus.

Lorm griff nach der Schale, betrachtete sie mit höflichem Interesse, drehte sie um und um, warf die Lippen ein wenig auf und sagte: »Hübsch.« Herbsts Gesicht, wie der Mond, zeigte zahllose ironische Falten und Fältchen.

Judith wurde böse. »Hübsch? Siehst du nicht, daß es eine kleine Zauberei ist, ein süßer Traum? das Pikanteste und Rarste? Die Kenner waren außer sich. Weißt du, was es gekostet hat? Achtzehnhundert Mark; dabei waren sechs oder sieben wütende Konkurrenten hinter mir her. Hübsch!« Sie lachte hart. »Gib mirs wieder, du faßt es ja so roh an.«

»Beruhige dich, mein Schatz, es ist ja wirklich eine subtile Sache,« erwiderte Lorm sanft.

Aber Judith war gekränkt, mehr durch Herbsts stummen Spott als durch Lorms Unverständnis. Sie warf den Kopf zurück, rauschte aus dem Zimmer und knallte die Türe hinter sich zu. Im Zorn waren ihre Manieren manchmal ein bißchen gewöhnlich.

Die Männer schwiegen eine Weile. Dann sagte Lorm, betreten und mit entschuldigendem Lächeln: »Süßer Traum . . . achtzehnhundert Mark . . . na ja. Kindisches Geschöpf.«

Emanuel Herbst scheuerte mit der Zunge den Raum zwischen Lippen und Zähnen, was ihm Ähnlichkeit mit einem steinalten Säugling verlieh. Er sagte: »Du solltest ihr gelegentlich klarmachen, daß achtzehnhundert Mark eintausendachthundertmal eine Mark sind.«

»Sie kommt nicht so weit, denn sie fängt mit den Pfennigen an,« antwortete Lorm. »Ein Mensch, der beständig auf dem Meer gelebt hat und plötzlich auf einen kleinen Binnensee versetzt wird, findet sich in den Maßen und Entfernungen schwer zurecht. Es sind wunderliche Wesen, die Frauen.« Er seufzte lächelnd. »Direktor, ein Schnäpschen?«

Doktor Herbst wiegte sorgenvoll den Cäsarenkopf. »Warum denn wunderlich? Sie sind so oder so, und man muß sie so oder so behandeln. Man darf sich nicht über das Material täuschen, das man in der Hand hat. Zum Exempel: ein Hufeisen ist kein Birkenholz; obschon es aussieht wie ein Bogen, kannst du es nicht biegen, mit aller Kraft nicht. Bindest du eine Sehne dran, so bleibt sie schlaff, und der Pfeil schnellt nicht ab. Na, schenk ein das Schnäpschen.«

»Dafür macht man aus einem Hufeisen unter Umständen den besten Damaszenerstahl,« gab Lorm heiter zurück und schenkte ein.

»Bravo. Gut repliziert. Geschmeidig wie Kardinal Richelieu. Dein Wohl.«

»Machst du mich zu Richelieu, so ernenn ich dich zu meinem Pater Joseph. Famose Rolle übrigens. Dein Wohl, graue Eminenz.«


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