Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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13

Fürst Wiguniewski schrieb an Cornelius Ermelang nach Vaucluse in Südfrankreich:

Sie scheinen in Ihrer petrarkischen Einsamkeit die Welt verloren zu haben, da Sie sich so angelegentlich nach unserer Diva erkundigen. Ich dachte Sie noch in Paris; ich dachte, Sie hätten Eva Sorel dort gesehen, denn sie ist erst vor wenigen Tagen zurückgekehrt; zurückgekehrt wie ein mit Ruhm und Beute beladener Sieger nach einem Feldzug von drei Wochen; haben Sie nicht wenigstens aus Zeitungen erfahren, in welches Hochfieber des Enthusiasmus sie die internationale Gesellschaft neuerdings versetzt hat?

Ihre Nachfrage klingt besorgt, und der Grund ist mir verständlich, obgleich Sie sich nicht darüber äußern. Wie kurz auch das Beisammensein während Ihres Petersburger Aufenthalts mit ihr war, so müssen Sie doch mit Ihrem für das Innere der Menschen geschärften Blick die Verwandlung wahrgenommen haben, die mit ihr vorgegangen ist. Ich schwanke, ob ich sagen darf, es sei eine beunruhigende Verwandlung, da sie ja gewiß dem Gesetz ihres Wesens unterliegt. Schmerzlich ist das Schauspiel nur für uns, die wir den Anfang und den Aufstieg kennen, für zehn bis zwölf Menschen in Europa, denn was uns als das schönste Erlebnis unsrer Jugend ergriffen hat, war die Süßigkeit, der Glanz, das sternhaft Unbeschwerte an ihr. Sie war zeitlos; sie war in jedem Augenblick das Geschenk des Augenblicks, doch Ihnen muß ich nicht schildern, was und wie sie war; Sie wissen es. Es fragt sich, ob es erlaubt ist, zu tadeln oder zu klagen, wenn eine Entwicklung nicht unsrer Erwartung entspricht; das Wirkliche und Gewordene enthält wahrscheinlich den triftigeren und weiseren Sinn, wie sehr wir auch widerstreben. Man will immer zu viel und sieht und begreift infolgedessen zu wenig. Man sollte mehr Demut haben.

Es ist eine Tatsache, daß sie die öffentliche Meinung in unserm Land beschäftigt und aufwühlt wie kaum ein andrer Mensch. Man ist beständig darüber unterrichtet, wer in ihrer Gunst steht und wer in Ungnade gefallen ist; der Luxus, mit dem sie sich umgibt, setzt die verrücktesten Fabeln in Kurs und übersteigt alles, was wir in dieser Beziehung erlebt haben. Ihre monatlichen Einkünfte beziffern sich auf Hunderttausende, ihr Vermögen wird heute schon auf zwanzig bis dreißig Millionen Rubel geschätzt. Zweimal wöchentlich kommt für sie ein Eisenbahnwaggon mit Blumen aus der Riviera und zweimal einer aus der Krim. Über das Schloß, das sie am Meer bei Jalta bauen läßt, werden Einzelheiten bekannt, die an Tausendundeine Nacht gemahnen; in vier Wochen soll es schon fertig sein; großartige Festlichkeiten sind für den Einzug geplant; zu den Geladenen zähle auch ich. Man spricht von nichts anderm als von diesem Schloß; die Parkanlagen sollen einen Flächenraum von fünf Quadratmeilen bedecken; nur durch verschwenderischen Aufwand von Kosten und Arbeitskräften konnte das Ganze in der kurzen Zeit eines Jahres hergestellt werden. Den Mittelbau, heißt es, krönt ein Zinnenturm, von dessen Plattform man einen grandiosen Blick über das Meer genießt und der nach dem Muster des Turms der Signoria zu Florenz errichtet ist. Eine goldene Wendeltreppe mit kostbar emailliertem Geländer führt im Innern empor, und jedes Fenster gibt einen sorgfältig gewählten Ausschnitt südlicher Landschaft. Als Wandschmuck für einen der Säle wünschte sie sich die noch vorhandenen, von den Engländern noch nicht weggeschafften Malereien von El Hira, der berühmten Ruine in der arabischen Wüste. Ihr diese zu verschaffen, bedurfte es weitläufiger diplomatischer und geschäftlicher Verhandlungen; dann mußte, mit vielen Schwierigkeiten und vielem Geld, eine Expedition ausgerüstet werden, die drei Monate unterwegs war und erst vor kurzem zurückgekehrt ist. Die Reise war so abenteuerlich als gefährlich, und sieben Menschen haben dabei ihr Leben eingebüßt. Als man es Eva mitteilte, schien sie zu erschrecken und die Kühnheit ihres Verlangens zu bedauern; dann sah sie das Bildwerk und war so hingerissen, daß ihr Lächeln fast Befriedigung über die Opfer an Blut ausdrückte. Es liegt hierin keine Übertreibung; so ist jetzt ihr Wesen; diese wunderbarsten aller Hände rühren an die Welt wie an ein Sklavengut, das ihnen und nur ihnen verheißen und verbrieft ist. Ich sah sie selbst eines Tages hingekauert vor den Malereien einer fernen, fremden Zeit; mich erschütterte der Ausdruck, mit welchem sie die Bewegungen der archaischen Figuren betrachtete; es war ein Ausdruck der Abkehr und Grausamkeit.

Ich bin unwillkürlich auf das antike Gemälde und seine Herbeischaffung geraten und bemerke nun, daß ich keinen kürzeren Weg hätte wählen können, um zum Kern dessen zu gelangen, was ich Ihnen erzählen möchte, denn die Vorgänge, die sich in den letzten Tagen abgespielt haben, gehen davon aus. Natürlich konnten nur wenige Menschen den Schleier lüften, hinter dem sie heute noch verborgen sind und vermutlich stets bleiben werden; wer nicht, wie ich, durch eine Reihe günstiger Umstände Einblick gewonnen hat, tappt im Dunkel. Ich muß Sie auch um strengste Verschwiegenheit bitten; ich hinterlege dieses Schreiben, dessen Beförderung Vorsicht erheischte und das der Botschaftskurier mit über die Grenze nimmt, als Urkunde bei Ihnen. Mit seiner Hilfe wird man später einmal die Genesis gewisser Ereignisse bis zu den unscheinbaren Wurzelfasern verfolgen können.

Kaum waren die Malereien von El Hira hierhergelangt, so wurden von französischer Seite Reklamationen wegen Besitzstörung erhoben. Die beweisbaren Anrechte einer Pariser Privatgesellschaft sollten bei den Abmachungen mit den Engländern außer acht gelassen worden sein, und die dortige Regierung überschüttete unser Ministerium mit Noten und Beschwerden. Man beschuldigte sogar den Leiter der Expedition, Andrei Gawrilowitsch Jaminsky, einen kühnen und geistreichen Gelehrten, des offenen Raubes. Die Sache war unangenehm, die Bestürzung groß, der Lärm täuschte unsre Füchse; sie fürchteten, eine Dummheit gemacht zu haben, und spazierten arglos in die Falle. Da die Angelegenheit lächerlicherweise den Himmel der Politik zu trüben schien, war es vor allem wichtig, sie der Kenntnis des Großfürsten Cyrill zu entziehen, der die auswärtigen Geschäfte in der Hand hält und wie eine Spinne im Netz jedes Zittern der Fäden belauert. Dahin zielte die Berechnung; das Spiel hinter den Kulissen verstärkte den Druck und die Eile; die Angst vor dem Zorn des Gewalthabers trieb ergötzliche Blüten in den verantwortlichen Ämtern; der Minister verfügte sich zu Eva Sorel; ihre stolze Erklärung, daß sie alles auf sich nehmen wolle, sich getraue, die üblen Folgen von den Beteiligten abzuwenden, stieß auf Zweifel und Unglauben, und man erinnerte an Vorgänge ähnlicher Art, bei denen später die tückische Ahndung doch nicht ausgeblieben sei. Man bedrängte sie ernstlich, die Wandgemälde wieder auszuliefern; sie trotzte, stritt um ihr Recht, wurde hartnäckig, und als man nun die Torheit beging, Andrei Jaminsky verhaften zu lassen, für den sie lebhaftes Interesse gefaßt hatte, drohte sie, den Großfürsten zu benachrichtigen, der in Zarskoje Selo weilte, und setzte damit die Gemüter in neuen Schrecken. Jetzt war für die Anstifter der schickliche Zeitpunkt gekommen. Plötzlich trat Ruhe ein; der Sturm war beschwichtigt. Was war aber sein verborgener Anlaß gewesen? Eingeweihte raunen von einem unheimlichen Handel. Mich dünkt, ihr Wissen reicht nicht weiter als das meine. Ich sitze nah genug am Webstuhl und kann das Schiffchen in seinem Hin- und Herlauf studieren. Es webt schlimme Gewebe, das darf ich wohl behaupten. Wann hätten nicht die Zauberkünste einer Kurtisane dazu gedient, Völker zur Schlachtbank zu treiben? Sie meinen, das zwanzigste Jahrhundert sei zu fortgeschritten für Kabalen im Stil der Mazarin und Kaunitz? Ich bin dessen nicht so sicher. Sie meinen, die großen Erschütterungen und Umwälzungen nützten die Entschlüsse und Willensakte kleiner Menschen nur zum Schein, und Schuld und Anklage werde wesenlos, wenn man den Gang des Schicksals begriffen habe? Aber wir begreifen ihn ja nicht; wir sind Menschen, wir müssen richten, wie wir leiden müssen, und weil wir leiden müssen. Der unheimliche Handel drehte sich um den Bau von Festungen an unsrer polnischen und wolhynischen Grenze. Aus unbekannten Gründen hatte sich der Großfürst bis jetzt dagegen gesträubt; seit einigen Tagen geht die Rede von einer Staatsanleihe; seinen starren Sinn dem Projekt geneigt zu machen, konnte bloß einem einzigen Menschen gelingen. Wozu noch Worte? Man schaudert bei den Gedanken eines Zusammenhangs zwischen fünftausend Jahre altem Wandschmuck und den Fangstricken moderner Kabinettsränke; zwischen der bedungenen Hingabe eines unvergleichlichen Leibes, Zierde der Schöpfung, und der Aufrichtung von Festungsmauern und Kasematten. Die Komödie ist herzzerreißend.

Ich bin noch nicht am Ende. Es knüpft sich an diese Begebenheiten der Tod von Andrei Gawrilowitsch Jaminsky. Ich deutete schon an, daß Eva merkbare Sympathie für ihn an den Tag legte. Der Mut und die Energie, die er beim Zug in die Wüste bewiesen hatte, sein Geist, nicht zulegt seine äußeren Vorzüge bestachen sie; sie war fasziniert und zeichnete ihn auf alle Weise aus. Da es eine Schranke für sie nicht gibt und ihr Tun immer zu den letzten Schritten führt, hatte sie auch hier keine Bedenken; Jaminsky wurde ein Glück zuteil, von dem er vielleicht nicht einmal zu träumen gewagt hatte, und das ihm das Gleichgewicht geraubt zu haben scheint. Es füllte ihn zum Überfließen, es machte ihn verrückt; in einem Freundeskreis, beim Wein natürlich, kam er ins Schwatzen und prahlte mit seiner Eroberung. Zu spät erkannte er seine Verirrung; was in jedem andern Fall eine verächtliche Charakterschwäche gewesen wäre, in diesem war es ein Verbrechen; zu spät beschwor er die Ohrenzeugen, zu vergessen, zu schweigen, ihn als Lügner und Bramarbas zu betrachten; es fruchtete nicht, daß er sie einzeln aufsuchte und einzeln beredete; der Stein war im Rollen; wo das diskrete und geargwohnte Verhältnis höchstens die stumme oder geflüsterte Neugier gereizt hatte, wurde das Verkündete allgemeiner Gesprächsstoff; die Sühne ließ nicht auf sich warten. Ihr Vollstrecker war Fjodor Szilaghin.

Nicht leicht ist es, die Rolle zu beurteilen, die Fjodor Szilaghin gegenwärtig im Leben Evas spielt. Bald scheint er Wächter zu sein, bald Verlocker; man weiß nicht, will er ihr gefallen und sie gewinnen, oder ist er nur der Söldling und Argus seines finstern Herrn und Freundes. Ich glaube, daß selbst Eva darüber im Unsichern ist; sein enigmatisches Wesen, das meisterlich Versteckte, undurchdringlich Treulose, wirkt auf mich wie ein sichtbares Symbol von Evas Verdunkelung und Unrast. Daß er im Einverständnis mit ihr gehandelt hat, als er es unternahm, Jaminsky zu bestrafen, leidet keinen Zweifel; aber ob es ein gemeinsam verabredeter Plan war, eine Forderung von ihrer oder von seiner Seite, ob sie in der Enttäuschung nachgiebig gegen ihn oder im Zorn rachsüchtig für sich war, ob er für ihre Ehre oder für die Ehre Deines Herrn eintrat, das alles getraue ich mich nicht zu entscheiden. Genug, es geschah. Die Tat schwebt in einem Halblicht und wird mit ziemlich abstoßenden Einzelheiten geschildert. Jaminsky speiste am Mittwochabend der vergangenen Woche in Gesellschaft mehrerer Freunde in einem Nebenzimmer bei Cubat auf der großen Morskaja. Kurz vor zwölf Uhr wurde die Tür aufgerissen, und vier junge Leute, bis über die Nase in ihre Pelze gehüllt, drangen ein. Drei von ihnen umstellten Jaminsky, einer drehte die Lichter ab, gleich darauf krachte ein Schuß, und ehe sich Jaminskys Freunde von ihrer Bestürzung erholt hatten, waren die vier wieder verschwunden. Jaminsky lag blutüberströmt auf dem Boden. Szilaghin war mit Bestimmtheit unter den vier Männern erkannt worden.

Das Verwegenste aber ereignete sich erst später. In dem Tumult, der unter den Gästen des Restaurants entstanden war, hatte man den Erschossenen vergessen. Man schrie nach der Polizei, lief, drängte, fragte, indessen fuhr eine Mietsdroschke am Eingang vor, zwei Männer entstiegen ihr, schoben sich durch die Menge in das Zimmer, wo der Tote lag, hoben ihn auf und trugen ihn an den stumm gaffenden Menschen vorüber in den Wagen. Niemand hinderte sie; sie verschwanden mit dem Leichnam im Wagen, dieser jagte den Newskij hinab bis zur Palastbrücke, dort hielt er, die beiden schleppten die Leiche ans Ufer und warfen sie in die Newa, mitten in die treibenden Eisschollen.

An demselben Abend befand ich mich mit du Caille, Lord Elmster und einigen hiesigen Künstlern bei Eva. Sie war berückend und von einer Heiterkeit, bei der man das Gefühl hatte, man dürfe keinen Atemzug davon verpassen. Ich entsinne mich nicht mehr, wie das Gespräch auf Himmelserscheinungen und Sonnensysteme kam; eine Weile wurde in der üblichen leichten Art die Möglichkeit erwogen, ob auch andre Planeten von Menschen oder menschenähnlichen Wesen bewohnt seien; da sagte Eva: »Ich habe gelesen, und die Fachkundigen haben es mir bestätigt, daß der Saturn zehn Monde besitzt, zehn Monde und einen feurig glühenden Ring, der in Purpur und Violett den ungeheuren Körper des Sterns umgibt. Der Planet selbst, heißt es, sei noch eine unabgekühlte Lava; aber auf den zehn Monden könnte Leben sein, könnten Geschöpfe wie wir existieren. Denkt euch eine Nacht dort; denkt euch die düstere Glut des Muttergestirns; der purpurne Regenbogen, der ewig am Firmament steht und es fast bedeckt; die zehn Monde umeinander, übereinander spielend, so nah vielleicht, daß die Geschöpfe sich verständigen können, von Welt zu Welt sich fühlen: was für Möglichkeiten, was für eine Vision von Glück und Schönheit!« So oder ähnlich sprach sie. Einer von uns erwiderte, man könne sich ebensogut vorstellen, daß Mond gegen Mond im Kampfe läge; trotz aller Wunder des Himmels, so wie hier Land gegen Land; die Erfahrung gebe zu befürchten, daß nirgends im Universum die beweglich Geschaffenen durch Himmelswunder an Raub und Gewalttat verhindert würden. Sie aber sagte: »Zerstört mir meinen Glauben nicht; laßt mir das Paradies vom Saturn.«

Und sie wußte, sie mußte es wissen, daß eben in dieser Stunde Jaminsky, den sie geliebt hatte, einen häßlichen und meuchlerischen Tod starb.

Es ist schwer, Demut zu haben.

14

Christian teilte seine Mahlzeiten mit Michael. Er war brüderlich um ihn bemüht. Am Abend bereitete er ihm das Lager selbst. Er wußte es einzurichten, daß sich der Knabe an das Beisammensein mit ihm gewöhnte. Seine Gabe, sich unbemerklich zu machen, kam ihm zustatten; Michael war in seiner Gegenwart ohne die Verkrampfung, die sogar Johannas liebevolle Rücksicht nicht hatte lösen können. Er folgte Christian bisweilen mit den Augen. »Warum siehst du mich an?« fragte Christian dann. Aber der Knabe schwieg.

»Ich möchte wissen, was du denkst,« sagte Christian.

Der Knabe schwieg. Wieder und wieder folgte er Christian mit den Augen und schien voll zwiespältigem Gefühl.

Eines Abends sagte er die ersten Worte. »Was wird mit mir geschehen?« flüsterte er kaum hörbar.

»Du solltest ein wenig Vertrauen zu mir haben,« antwortete Christian freundlich.

Michael starrte lange vor sich hin. »Ich habe Angst,« kam es endlich von seinen Lippen.

»Wovor hast du Angst?«

»Vor allem. Ich habe Angst vor allem, was es gibt. Vor den Menschen, vor den Tieren, vor der Finsternis, vor dem Licht, vor mir selber.«

»Seit wann ist das so?«

»Sie meinen, es ist erst seit . . . Nein. Es ist immer so gewesen. Die Angst steckt in meinem Leib wie die Lunge und das Hirn. Als ich noch ein Kind war, lag ich nachts im Bett und zitterte vor Angst. Konnte nicht schlafen vor Angst. Ich hatte Angst, weil es still war. Ich hatte Angst, weil ich Geräusch hörte. Ich hatte Angst vor dem Haus, vor der Wand, vor dem Fenster. Ich hatte Angst vor dem Traum, der noch gar nicht da war. Ich dachte: jetzt wird ein Schrei sein; oder: jetzt wird ein Feuer sein. War der Vater über Land, so dachte ich: er kommt nie wieder; viele kommen nicht wieder, warum sollte gerade er wiederkommen. War er zu Hause, so dachte ich: er hat etwas Schreckliches erlebt, niemand darf es wissen. Am ärgsten war es, wenn Ruth fort war. Nie hab ich einen Menschen so gehaßt wie Ruth in jener Zeit; nur weil sie so viel fort war. Das war die Angst.«

»Und da gingst du herum mit deiner Angst und sprachst nicht davon?«

»Zu wem hätte ich sprechen sollen? Es schien mir dumm, das Ganze. Jeder hätte mich ausgelacht.«

»Aber als du älter wurdest, muß doch die Angst verschwunden sein?«

»Im Gegenteil.« Michael schüttelte den Kopf. Er sah unschlüssig aus. Er schwankte, ob er sich weiter mitteilen solle. »Im Gegenteil,« wiederholte er. »Die Angst wird groß mit einem. Die Gedanken haben keine Macht über sie. Hat man einmal die Angst, so trifft alles ein, wovor man sich ängstigt. Man müßte weniger wissen. Je weniger man weiß, je weniger hat man Angst.«

»Das versteh ich nicht,« sagte Christian, den die Worte des Knaben ergriffen; »das heißt, die kindliche Angst, die versteh ich; aber sie dauert doch nur, solang man ein Kind ist.«

Michael schüttelte abermals den Kopf.

»So erklär es mir,« fuhr Christian fort. »Wahrscheinlich erblickst du überall Gefahren, fürchtest dich vor Krankheiten oder Unglücksfällen oder vor Begegnungen mit irgendwelchen Leuten.«

»Nein,« antwortete Michael hastig und mit gerunzelter Stirn; »so einfach ist es nicht. Es kommt mal vor, aber es kann einem nicht viel anhaben. Es ist nicht das Wirkliche. Das Wirkliche ist wie ein tiefer Brunnen. Ein tiefes, schwarzes, endloses Loch. Das Wirkliche ist . . . warten Sie mal: ich lange nach dem Schachbrett da: auf einmal ist es gar kein Schachbrett. Es ist was Fremdes. Ich hab gewußt, was es ist, kann mich aber nicht mehr darauf besinnen. Der Name Schachbrett läßt mich nicht dahinterkommen, was es ist. Der Name macht, daß ich mich eine Zeitlang zufrieden gebe. Verstehen Sie?«

»Durchaus nicht. Es ist mir völlig unverständlich.«

»Na ja,« gab Michael mürrisch zu, »es ist ja auch ein Blödsinn.«

»Könntest du nicht ein andres Beispiel wählen?«

»Ein andres . . . Warten Sie mal. Ich finde so schwer die richtigen Ausdrücke. Warten Sie . . . Vor ein paar Wochen war Vater nach Fürstenwalde gefahren. Am Abend fuhr er, am Morgen wollte er zurück sein. Ich war allein zu Haus. Ruth war bei einer Bekannten, ich glaube in Schmargendorf. Sie hatte gesagt, es würde spät werden. Je später es aber wurde, je unruhiger wurde ich. Nicht weil ich fürchtete, es könnte Ruth etwas zustoßen; daran dachte ich gar nicht, sondern das leere Zimmer und der Abend und die Zeit, die verging, das war es. Die Zeit rinnt herunter, entsetzlich regelmäßig, entsetzlich unaufhaltsam, rinnt herunter wie Wasser, in dem ich ertrinken muß. Wäre Ruth gekommen, so hätte die Zeit einen Aufenthalt gemacht, sie hätte von vorn anfangen müssen; aber Ruth kam nicht. An der Wand im Zimmer hing eine Uhr; Sie werden sie ja oft gesehen haben; eine runde Uhr mit blauem Zifferblatt und einem Messingperpendikel. Das tickte und tickte; jedes Ticken war ein Hammerschlag. Endlich ging ich hin und brachte den Perpendikel zum Stehen, und als das Ticken aufhörte, da hörte die Angst auf, und ich konnte einschlafen. Die Zeit war nicht mehr, die Angst war nicht mehr.«

»Eigentümlich,« murmelte Christian erstaunt.

»Früher, als uns die Frömmigkeit gelehrt wurde, war es besser, da konnte man beten. Freilich, das Gebet war auch nur die pure Angst, aber es erleichterte einen doch.«

»Es wundert mich, daß du dich nie deiner Schwester anvertraut hast,« sagte Christian.

Michael zuckte zusammen. Dann antwortete er scheu, mit so leiser Stimme, daß Christian näher rücken mußte, um hören zu können: »Meiner Schwester, nein, das war unmöglich. Ruth hatte ohnedies viel auf ihren Schultern, zu viel, wenn mans recht bedenkt, aber auch sonst war es unmöglich. Bei Juden sind Bruder und Schwester nicht so intim wie bei euch Christen. Ich meine bei Juden, die nicht unter Christen leben. Wir sind ja vom Land und waren als Juden weiter weg von andern Menschen wie hier. Der Bruder kann sich nicht der Schwester anvertrauen. Die Schwester ist immer eine Frau, von Anfang an; schon als kleines Mädchen ist sie eine Frau. Daher rührt ja das ganze Unglück . . .«

»Wieso? Welches Unglück?« fragte Christian flüsternd.

»Es ist furchtbar schwer zu sagen,« fuhr Michael verloren fort; »ich glaube, ich kann es nicht sagen. Es klingt vielleicht gemein. Und es geht immer weiter; eins zieht das andre nach sich. Bruder und Schwester, das spricht sich so harmlos. Aber jedes hat einen Leib und jedes eine Seele. Die Seele ist das Reine, der Leib ist das Unreine. Schwester, das ist wie ein Heiligtum. Aber sie ist doch auch das Weib, das man sieht. Tag und Nacht kann man darüber grübeln: Weib . . . Weib. Und Weib heißt Angst. Weib heißt Leib, und Leib heißt Angst. Ohne Leib könnte man die Welt begreifen, ohne Weib könnte man Gott verstehen. Und solange man Gott nicht versteht, solange plagt einen die Angst. Immer die Nähe von dem andern Leib, über den man nachdenken muß! Wo wir zuletzt wohnten, schliefen wir alle in der gleichen Stube. Ich kroch jeden Abend mit dem Kopf unter die Bettdecke. Die Gedanken durften nicht hin. Mißverstehen Sie mich nicht, es war nichts Häßliches, sie wollten nicht in häßlicher Weise hin, es war nur die namenlose, allgemeine Angst . . . Ja, wie könnt ichs nur erklären? Die Angst vor . . . nein, ich kanns nicht erklären. Ruth, so zart, so fein. Alles an ihr stand im Widerspruch zu der Vorstellung von einem Weib. Und doch zitterte ich vor Abscheu, weil sie es eben war. Der Mensch, wie er geschaffen ist, und wie er sich zeigt, das ist zweierlei. Ich will Ihnen erzählen, was für einen Traum ich hatte; nicht einmal, sondern zwanzigmal, immer den nämlichen Traum. Ich träume, ein Feuer ist ausgebrochen; ich und Ruth, wir müssen nackend über die Stiege und aus dem Haus fliehen. Ruth muß mich mit aller Gewalt fortschleppen, weil ich sonst umkehren und ins Feuer rennen würde. So schrecklich ist die Scham. Ich denke: Ruth, das bist du nicht, das kannst und darfst du nicht sein. Dabei seh ich es gar nicht, ich weiß nur und spür nur, daß sie nackt ist. Und sie, ganz natürlich bleibt sie, lächelt sogar. Herrgott, denke ich, kann man lächeln? Und schäme mich um den Verstand. Und bei Tage dann wagt ich nicht, sie anzuschauen; jeder gute Blick von ihr erinnerte mich an die Sünde. Aber warum erzähl ich das alles! Warum! Ich komm mir so schmutzig vor, so unbeschreiblich schmutzig . . .«

»Nein, Michael, erzähle nur,« antwortete Christian ruhig und sanft; »fürchte dich nicht, sag mir alles, ich kann auch alles begreifen, ich bemühe mich jedenfalls, es zu begreifen.«

Forschend sah Michael zu Christian auf. Seine frühreifen Züge waren zerquält. »Ich suchte eine, zu der ich hin durfte,« begann er nach einer Pause. »Es schien mir, ich müßt es austilgen, daß ich Ruth in meinem Geist beschmutzte. Ich war schuldig vor ihr und mußte frei werden von der Schuld.«

»Da warst du in einem verhängnisvollen Wahn befangen,« warf Christian ein; »du warst ja nicht schuldig; du hast dir eine Schuld konstruiert. Inwiefern warst du schuldig?« Er wartete, aber Michael schwieg. »Schuldig,« wiederholte Christian, als wäge er das Wort zweifelnd in seiner Hand, »schuldig . . .« Sein Gesicht drückte Zweifel aus.

»Schuldig oder nicht, es war, wie es war,« beharrte der Knabe. »Fühl ich Schuld, wer löst mich los? Das kann man nur für sich selber tun.«

»Es ist ein Wahn,« sagte Christian, »glaube mir.«

»Aber alle hießen Ruth,« fuhr Michael mit einem bangen Ton fort; »alle hießen Ruth; die Verworfensten, die Schlechtesten. Ich hatte so viel Achtung vor ihnen. Und zugleich ekelte mir doch. Das Unreine wurde immer mächtiger in meinen Gedanken; während ich suchte und suchte, wurde mir das Leben leid. Ich verfluchte mein Blut. Was ich anfaßte, ward schleimig und unrein.«

»Ihr hättest du dich eröffnen müssen, ihr selbst, gerade Ruth, die war die Beste dazu,« sagte Christian.

»Es ging nicht,« beteuerte Michael, »ich konnt es nicht; lieber, ich weiß nicht was . . . ich konnt es nicht.«

Er versank in Brüten, dann berichtete er in überstürzter Rede: »Am Sonnabend vor jenem Sonntag, an dem Ruth zum letztenmal im Hause war, schickte mich Vater zum Kohlenhändler. Ich sollte eine Rechnung zahlen. Niemand war im Laden. Ich ging in die Stube hinterm Laden. Da lag der Kohlenhändler mit einem Frauenzimmer im Bett. Sie bemerkten mich nicht. Ich lief davon; wie ich herauskam, weiß ich nimmer. Bis zum Abend rannt ich sinnlos auf der Straße herum. So groß war die Angst noch nie gewesen. Am andern Nachmittag, eben an dem Sonntag, zwischen vier und fünf, ging ich auf der Lichenerstraße; es fiel ein Platzregen um die Zeit, da nahm mich ein Mädchen unter seinen Schirm. Das war Molly Gutkind. Was für eine Sorte Mädchen es war, sah ich gleich. Sie sagte, ich solle zu ihr kommen. Ich gab keine Antwort, und sie ging an meiner Seite weiter. Sie sagte, wenn ich jetzt nicht wollte, werde sie am Abend auf mich warten; sie wohne Prenzlauer Allee, gegenüber dem Gasbehälter beim Güterbahnhof, unten sei eine Kneipe, Adelens Aufenthalt. Sie nahm meine Hand und schmeichelte: Komm doch, Jungchen, du siehst so vergrämt aus, du gefällst mir mit deinen schwarzen Augen, bist sicher noch ein ganz unschuldiges Tierchen. Wie ich heimkam, las ich, was Ruth auf die Schiefertafel geschrieben hatte. Prenzlauer Allee, das war mir seltsam. Es hätte ja ebensogut eine andre Gegend sein können. Es war mir seltsam. Ode war mir zumut; ich setzte mich auf die Stiege; ich ging ins Zimmer und fand Vaters Brief; ich las ihn, als hätt ich schon vorher gewußt, was er getan hatte; ich kam mir recht allein vor; dann ging ich hinunter und ging und ging, bis ich in der Prenzlauer Allee vor dem Haus von Adelens Aufenthalt stand.«

»Nun, und selbstverständlich gingst du hinauf zu dem Mädchen?« fragte Christian mit einem sonderbar heiteren Ausdruck, hinter welchem sich seine Spannung verbarg.

Michael nickte. Er sagte, er habe lange gezaudert. In Adelens Aufenthalt habe einer Mundharmonika gespielt. Es sei ein außerordentlich schmutziges Haus, abgerückt von der Straße, ein altes Haus mit feuchten Flecken an der Mauer und einem Lattenzaun davor und Schutt und Ziegelhaufen. Ein Hund sei vor dem Tor gestanden. »Ich traute mich nicht an dem Hund vorbei,« sagte Michael und faltete mechanisch die Hände; »er war so groß und stierte mich tückisch an. Aber Molly Gutkind hatte mich vom Fenster aus gesehen; das Haus hat nur ein einziges Stockwerk. Sie winkte mir, der Hund trabte auf die Straße heraus; ich ging ins Haus, Molly wartete auf der Treppe und zog mich lachend ins Zimmer. Sie trug zu essen auf, Schinkenstullen und Baumkuchen, und sagte, heute wolle sie mich bewirten, das nächste Mal müsse ich sie bewirten. Sie sagte, ich sei doch ein Jude; das möge sie gern, Juden möge sie überhaupt gern; wenn ich ein bißchen nett zu ihr sei, würde ich es nicht zu bereuen haben. Es war so merkwürdig alles; wer war ich denn für sie? Was konnt ich ihr denn sein? Mittlerweile war es dunkel geworden, und sie zündete die Lampe an. Ich sagte, ich wolle jetzt wieder gehen, aber sie litt es nicht, die Nacht über müsse ich bleiben, sagte sie. Und dann . . .!« Er schauderte und schlug die Hände vor das Gesicht.

»Mein lieber Junge,« sagte Christian leise.

Das zärtliche Wort machte den Knaben noch mehr schaudern. Ziemlich lange Zeit schwieg er. Als er wieder zu sprechen anfing, klang seine Stimme verändert. Er sagte dumpf: »Dreimal bat ich sie, die Lampe auszulöschen, endlich tat sie es. Wir lagen nebeneinander, Stunde um Stunde verging, und es geschah etwas mit dem Mädchen, worauf ich nicht gefaßt war. Sie sagte, sie wolle sich nicht vergehen an mir, sie sehe ein, daß sie eine schlechte Person sei, ich möchte ihr verzeihen, und was ich nicht selber wolle, das wolle sie auch nicht. Und als sie das sagte, weinte sie, und dann sagte sie, sie sehne sich furchtbar nach Hause, und ihr graue vor ihrem Leben. Ich war wie vor den Mund geschlagen, das arme Ding dauerte mich, und ich zitterte am ganzen Körper, meine Zähne klapperten, ich ließ sie reden und klagen, und als ich merkte, daß sie eingeschlafen war, dachte ich tief und streng über mich nach. Es war finster und still. Außer dem Atem des Mädchens hörte ich nichts. In der Kneipe unten waren keine Gäste mehr. Es war unheimlich still. Und mit jedem Augenblick Stille wuchs die alte Angst. Jeden Augenblick war mir, die gräßliche Stille müßte ein Ende haben; ich paßte die Sekunden ab. Und da, auf einmal, war ein Schrei. Auf einmal war ein Schrei. Wie soll ichs schildern? Irgendwo unten, tief unten, unterm Boden, hinter den Mauern, war ein Schrei. Er war nicht besonders laut oder schrill, aber so, daß das Herz nicht mehr schlug. Wie ein Strahl, verstehen Sie, wie ein heißer, dünner Strahl, mit was anderm kann ichs nicht vergleichen. Ich dachte: Ruth. Mein einziger Gedanke war: Ruth. Begreifen Sie das? Es war, als hätte mir jemand ein kaltes Messer in den Rücken gestoßen. O Gott, wie furchtbar es war!«

»Und was hast du getan?« fragte Christian, weiß wie die Wand.

Er sei gelegen und gelegen, habe gelauscht und gelauscht, brachte Michael stockend hervor.

»Ist es möglich? Du bist nicht aufgesprungen und hinaus, hinunter? – Mensch! Ist es möglich?«

Wie hätte er glauben sollen, daß es Ruth wirklich sein könne? Der Gedanke sei ihm doch nur wie eine Angstflamme ins Hirn geschossen. Er starrte mit weiten Augen in die Luft und schluchzte plötzlich. »Und nun hören Sie,« sagte er und langte nach Christians Hand, »hören Sie.«

Er erzählte mit verhangenem, verweintem, überblassem Gesicht dies: Er habe den Schrei nicht vergessen können. Er wisse nicht, wieviel Zeit verstrichen war, als er sich von der Seite des Mädchens erhoben. Er habe auf Zehenspitzen das Zimmer verlassen. Finsternis, zum Schneiden dick. Draußen habe er nichts gesehen, nichts gehört. Er sei am Stiegengeländer gestanden, mindestens eine Viertelstunde lang. Da habe er Schritte gehört, Schritte und ein Keuchen, als schleppe jemand eine schwere Last. Er habe sich nicht gerührt. Dann sei ein Licht aufgeblitzt, der Schein einer Blendlaterne. Er habe einen Menschen erblickt, nicht das Gesicht, nur von hinten. Der Mensch habe auf seinem Rücken einen großen Ballen getragen und außerdem ein Bündel in der Hand. In bloßen Füßen sei der Mensch gewesen, aber an den Füßen habe Rotes geklebt, Blut. Der Mensch sei vors Haus gegangen, habe den Ballen dort hingestellt und sei zurückgekommen, aber die Laterne sei geschlossen gewesen. Dann sei der Mensch wieder in den Keller hinunter und kurz darauf mit einem zweiten Menschen wieder heraufgekommen. Den habe er vor sich hergeschoben wie man ein Faß schiebt, man habe es aus dem Geräusch entnehmen können; gesehen habe man nichts; die Laterne sei auch diesmal abgeblendet gewesen. Der zweite habe Laute von sich gegeben, als habe er einen Knebel im Mund gehabt. Dann seien alle beide fortgegangen, das Haustor hätten sie zugesperrt und es sei still gewesen. »Bis dahin stand ich oben,« sagte Michael und schöpfte Atem.

Christian schwieg. Er schien versteinert.

»Es war ruhig und ich ging hinunter,« berichtete Michael weiter; »es zog mich. Schritt um Schritt tastete ich mich zur Kellerstiege. Dort blieb ich wieder lange stehen. Es wurde schon Tag. Ich sah es an dem schmalen Fenster über der Haustür. Ich stand vor der Kellertreppe Steinerne Stufen senkten sich. Ich sah erst eine Stufe, dann zwei, dann drei, dann vier; je heller es wurde, je mehr Stufen sah ich. Auf der fünften oder sechsten Stufe blieb das Dunkel kleben.«

Das Sprechen machte ihm jetzt sichtlich Mühe. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er lehnte sich zurück und schwankte. Christian mußte ihn stützen. Er stand auf und beugte sich über den Knaben. In seiner Haltung und Bewegung lag etwas ungemein Gewinnendes. Alles kam darauf an, das Letzte, Furchtbarste zu erfahren. Sein ganzes Wesen wurde Wille, und unter der stummen Gewalt wurde der Knabe folgsam. Was er nun bekannte, klang zunächst verwirrt und unbestimmt wie die Erzählung einer Geistererscheinung oder eines Fieberbildes. Man konnte den Worten kaum entnehmen, was Wirklichkeit war, was Zwangs- und Angstvorstellung. Ein Einzelnes stach grauenhaft wahr hervor: der Fund des blutigen Taschentuchs. Dreimal fragte Christian, ob er es im Keller oder auf der Stiege gefunden habe, jedesmal lautete die Antwort verschieden. Der Knabe bebte wie ein Seil im Wind, als ihn Christian bat, genau zu sein, genau nachzudenken. Er wisse es nicht mehr. Oder doch, er sei unten gewesen. Er beschrieb einen Verschlag, ein Holzgitter, eine vergitterte Luke, durch die gelbfahles Morgenlicht drang. Er sei aber seiner Sinne nicht mächtig gewesen, könne sich nicht erinnern, ob er den Raum betreten. Dabei schluchzte er laut auf. Christian stand neben seinem Stuhl, hatte ihm beide Hände auf die Schultern gelegt; der Knabe zuckte wie unter einem elektrischen Strom. »Ich beschwöre dich,« sagte Christian, »ich beschwöre dich, Michael,« und er fühlte seine Kraft schwinden. Da flüsterte Michael, er habe Ruths Namenszeichen auf dem blutdurchtränkten Taschentuch gleich erkannt, und von dem Moment an sei ihm das Gehirn zerhackt gewesen. Christian möge doch aufhören, ihn zu plagen; er könne nicht mehr, er wolle lieber tot hinschlagen. Aber Christian umklammerte seine Handgelenke. Nun hauchte Michael bloß noch: das Haus habe ihm verraten, daß an Ruth Entsetzliches geschehen sei, die Luft habe es ihm zugebrüllt; die Mauern hätten sich über ihn gewälzt; er habe es gesehen, alles gesehen, habe gewimmert und gestöhnt und mit den Nägeln seinen Hals zerkratzt; »da, da, da . . .« stieß er hervor und deutete auf seinen Hals, an dem in der Tat noch vernarbte Kratzwunden bemerkbar waren; er sei zur Haustür gerannt und habe an der Klinke gerüttelt und sei wieder zurückgerannt und habe die Kellerstufen gezählt, nur so, nur aus Verzweiflung, dann sei er hinauf, die Treppe hinauf, und plötzlich habe er an einer Tür einen Mann erblickt; im Dämmerlicht einen dicken Mann mit einer weißen Schürze und weißen Mütze, wie die Bäcker gekleidet sind, und einem Tuch um den Hals, von dem zwei weiße Zipfel weggestarrt; der sei an einer Türschwelle gestanden, weiß, fett, schläfrig, man hätte ihn für einen Schatten halten können, für ein Gespenst, doch habe er mit leiser, schläfriger, verdrießlicher Stimme gesprochen: »Nu haben se se umjebrungen, Menschenskind;« und danach sei er verschwunden, einfach wie weggeblasen. Und er, Michael, sei in Molly Gutkinds Stube gestürzt; sie sei gleich aufgewacht, habe ihn aufs Bett gelegt, und er hätte mit aller Inbrunst seiner Seele in sie gedrängt, sie möge schweigen, ihn verbergen, auch wenn er krank würde, keinem etwas sagen, ihn bei sich behalten und schweigen. Weshalb er es gefordert, weshalb es ihm so wichtig erschienen sei, daß sie schweige, das verstehe er selber nicht, aber so sei es noch zur Stunde, und er wolle Christian zeitlebens ein grenzenlos ergebener Mensch bleiben, wenn er Schweigen über das bewahre, was er ihm jetzt gebeichtet.

»Werden Sie es tun?« fragte er feierlich, mit dunkel glühenden und gepeinigten Augen.

»Ich werde schweigen,« erwiderte Christian.

»Dann kann ich vielleicht noch weiterleben,« sagte der Knabe.

Christian schaute ihn an, und ihre Blicke begegneten sich in einem wunderlichen Einverständnis.

»Wie lange warst du nachher noch bei dem Mädchen?« erkundigte sich Christian.

»Ich weiß es nicht. Sie sagte eines Morgens, nun könne sie es nicht mehr machen, und ich müsse gehen. Ich war aber die ganze Zeit vorher nicht bei klarem Bewußtsein. Ich habe vielleicht phantasiert. Das Mädchen hatte sich viel Mühe mit mir gegeben; es ist ihr zu Herzen gegangen; stundenlang saß sie am Bett und hielt meine Hand. Ich habe mich dann in den Vororten und im Wald herumgetrieben; wo, das kann ich nicht sagen. Schließlich bin ich hierhergekommen. Ich weiß nicht, warum ich zu Ihnen ging. Als hätte mich Ruth zu Ihnen geschickt. Sie waren der einzige Mensch, der auf der Welt für mich da war. Was tu ich aber? Was wird jetzt sein?«

Christian überlegte einige Sekunden, bevor er mit einem seltsamen Lächeln antwortete: »Wir müssen auf ihn warten.«

»Auf wen? Auf wen warten?«

»Auf ihn.«

Abermals begegneten sich ihre Blicke.

Es war spät in der Nacht, aber sie dachten nicht an Schlaf.

15

Außer dem Zimmer, das ihm die Witwe eingeräumt, hatte Niels Heinrich ein Logis in der Rheinsberger Straße, vier Treppen hoch, bei einem Zinngießer. Am Tage nach dem Gespräch mit Christian zog er von dort weg. Es geschah, weil zu viele um das Quartier wußten. Er konnte auch nicht mehr darin schlafen. Höchstens eine halbe Stunde schlief er, dann lag er wach. Er rauchte Zigaretten und warf sich von einer Seite auf die andre. Von Zeit zu Zeit ließ er ein dürres Gelächter hören, wenn die Erinnerung an eines der Worte, die jener Mensch zu ihm gesagt, besonders lebhaft wurde.

Der Mensch, wer war er eigentlich? Da konnte man sich das Hirn zu Brei zudenken. So ein Mensch.

Neugier wurde zur Brunst in Niels Heinrich.

Er zog in die Demminer Straße zum Krämer Kahle. Das Zimmer befand sich im Halbstock über dem Laden. Das große Firmenschild »Eier, Butter, Käse« verdeckte beinahe die niedrigen Fenster. Infolgedessen war wenig Licht in dem Loch; dafür waren Fußboden und Wände so dünn, daß man das Klingeln der Ladenglocke, die Gespräche der Kunden und alle Geräusche von ringsherum hörte. Da lag er wieder und rauchte Zigaretten und dachte an den Menschen.

Der Mensch und er hatten nicht mitsammen Platz auf der Welt. Das war das Resultat der Überlegungen.

Krämer Kahle forderte Vorausbezahlung der Miete. Dieses gehe gegen die Ehre, sagte Niels Heinrich, er habe stets Ultimo bezahlt. Krämer Kahle antwortete, das möge schon sein, aber bei ihm sei mal der Usus so. Frau Kahle, eine Person, mager wie ein Nagel, mit einer Turmfrisur, fing gleich an, ordinär zu kreischen. Niels Heinrich begnügte sich mit ein paar trockenen Injurien und versprach, am Dritten zu zahlen.

Er versuchte es mit der Arbeit. Aber Hammer und Bohrer widerstanden ihm; die Räder und Treibriemen wirbelten durch den Leib durch, die vorgeschriebenen Stunden schnürten die Luft ab. Nach der Vesper wurde ein Schaden an einer der Maschinen entdeckt. Eine Schraube war locker, nur die Wachsamkeit des Maschinisten hatte schweres Unglück verhütet; daß da ein Schurkenstreich vorliege, behauptete er vor dem Werkführer wie vor dem Ingenieur. Die Untersuchung blieb erfolglos.

Für die Arbeit sei er hin, ein für allemal, sagte sich Niels Heinrich. Aber da er Geld brauchte, ging er zur Witwe. Sie hatte angeblich sechzehn Mark im Vermögen und bot ihm sechs. Es reichte nicht. »Junge, wie siehste aus!« rief die Witwe erschrocken. Er verwies ihr das Getue und sagte, mit den zwei Talern werde sie ihn hoffentlich nicht abspeisen wollen. Sie jammerte; die Geschäfte seien erbärmlich flau, den Menschen die Zukunft zu verkündigen, lohne nicht mehr; man stehe unter einem Unstern, vielleicht habe man keine gesegnete Hand mehr. Niels Heinrich entgegnete finster, er werde nach den Kolonien machen, nächste Woche werde er sich einschiffen, dann sei sie ihn los. Die Witwe war gerührt und brachte noch drei kleine Goldstücke zum Vorschein.

Eines war für Kahle.

Er ging in Griebenows Destille, dann in das Tanzlokal »Zum dollen Hengst«, dann in das Kraftmagazin, eine übelberüchtigte Kellerwirtschaft.

Er war nicht mehr derselbe. Alle sagten es. Und er stierte sie böse an. Nichts hatte mehr Geschmack. Nichts paßte zum andern, das obere nicht zum untern, die Pfanne nicht zum Stiel. Es juckte ihn in den Fingern, die Lampen von den Haken zu reißen; wenn zwei die Köpfe zusammensteckten und wisperten, packte ihn ein Rasen; er hätte einen Stuhl aufheben und ihnen die Schädel einschlagen mögen. Ein Frauenzimmer begrüßte ihn mit Zärtlichkeiten; er griff ihr so grausam roh an die Kehle, daß sie entsetzt aufschrie. Ihr Kerl stellte ihn zur Rede, zog das Messer; die Augen beider schleimten vor Haß; der Wirt und einige, die Anlaß hatten, Lärm zu fürchten, stifteten einen Notfrieden. Die Miene des Burschen drohte noch; Niels Heinrich meckerte. Was konnte der ihm anhaben? Was konnten die übrigen ihm anhaben? Schweinebande. Die ganze Menschheit überhaupt – Schweinebande. Was wars denn? Was kümmerte einen denn?

Drei Wörtchen aber, um die war nicht herumzukommen. »Ich erwarte Sie.« Ins Gesabber und Geschlapper dieses Hundevolks hinein: »Ich erwarte Sie.« Und wie er vor einem dagestanden war, der Mensch! Niels Heinrich saugte die Lippen in die Zähne. Ekel war ihm, sein eigen Fleisch zu schlürfen.

»Ich erwarte Sie.« Klippeklar, mein Junge, komme jleich; warte du nur, biste schwarz wirst.

»Ich erwarte Sie.« Ruhe! Ob man wohl Ruhe kriegte! Hältste den Rand nicht, so laß ick dir im steiwen Arm verhungern.

»Ich erwarte Sie.« Nur Geduld, ick treff dir schon noch mal, aber janz wo anders.

»Ich erwarte Sie.«

Neue Zeugen hatten sich gemeldet. In der Wisbyer und Stolpischen Straße hatten Leute die Ruth Hofmann zuletzt in Begleitung eines Mädchens und eines riesigen Fleischerhundes gesehen. In der Prenzlauer Allee waren alle bedenklichen Häuser abgesucht worden. Spelunken gab es dort die Menge, aber das Haus zu »Adelens Aufenthalt« lenkte vornehmlich die Aufmerksamkeit auf sich. Es befand sich daselbst ein Hund wie der beschriebene; ein Hund ohne Eigentümer allerdings. Einige sagten, er hätte einem Neger gehört, der im Zirkus bedienstet gewesen, andre, er sei aus dem Schlachtviehhof zugelaufen.

Im Keller entdeckte man Spuren des Mordes. Ein wurmstichiges Brett, das in einem Verschlag gefunden wurde, war über und über schwarz von Blut; wahrscheinlich war es bei Verübung der Tat auf zwei Holzböcken gelegen, die noch im Keller standen. Als der herrenlose Hund in den Keller geführt wurde, heulte er. Fünfzehn bis zwanzig Personen, der Wirt und eine Schenkmamsell, die Stammgäste der Kneipe und die Bewohner des Hauses wurden in strenges Verhör genommen. Unter den letzteren machte sich die Dirne Molly Gutkind durch ihre verworrenen Angaben und ihr verstörtes Wesen in hohem Grade verdächtig. Am selbem Tage noch wurde sie in Untersuchungshaft gesetzt.

Den Abend vorher war Niels Heinrich bei ihr gewesen. Seine heimlichen Erkundigungen hatten die Gerüchte bestätigt, die früher zu ihm gedrungen waren, und sie als diejenige bezeichnet, die einen fremden Knaben bei sich beherbergt hatte. Er hatte beschlossen, ihr die Daumenschrauben anzulegen. Darauf verstand er sich.

Er gewann den Eindruck, daß sie wohl ihm selbst nicht gefährlich werden konnte, daß sie aber doch von den Vorgängen eine allgemeine Kenntnis erlangt hatte. Wenn er sich ins Gedächtnis rief, was Wahnschaffe über den Bruder der Jüdin erzählt hatte, war der Zusammenhang klar. Hätte er nur den Jungen in die Klauen gekriegt, er hätte schon dafür gesorgt, daß ihm die verdammte Zunge noch eine Weile lahmte. Blödsinniger Zauber, der ihn gerade zu der kleinen Made hier ins Haus geführt. Nun mußte er das Weibsstück irgendwie unschädlich machen. Obgleich kein vernünftiges Wort aus ihr herauszubringen war und sie wie ein Sägespan zitterte, wenn er sie nur anschaute, verriet sie doch ihre Wissenschaft, die aus den Delirien des Knaben stammte und die die Ereignisse später ergänzt hatten. Sie weinte sich die Augen aus, gestand, daß sie seitdem nicht mehr aus dem Hause gegangen sei und die schrecklichste Angst davor habe, einen Menschen zu sehen. Niels Heinrich äußerte kalt, wenn ihr das Leben lieb sei und sie den Jungen nicht ins Elend stürzen wolle, möge sie sich andern gegenüber nicht so schafsdämlich lassen wie gegen ihn; er kenne einen, falls der Wind bekomme von ihrem Gequaßle, werde er ihr stantepede den Hals umdrehen. Sie solle sich auf die Eisenbahn setzen und verduften, und das schleunig; wo sie denn zu Hause sei? Pasewalk oder Itzehoe? Sie solle verduften, schleunig, schleunig, oder er werde ihr Beine machen. Sie erwiderte schluchzend, sie könne nicht heim, der Vater habe gedroht, sie zu erschlagen, die Mutter habe sie verflucht. Er sagte, wenn er morgen wiederkomme und sie noch hier finde, werde er ihr die Flötentöne beibringen.

Am andern Tag wurde sie verhaftet; am zweiten erhielt Niels Heinrich die Nachricht, daß sie sich nachts in der Zelle, unbemerkt von den Mithäftlingen, am Fenstergitter erhängt habe, die kleine Made.

Er nickte anerkennend.

Aber die Sicherung nach dieser Seite bedeutete wenig. Das Netz wurde eng. Überall war Geraune. Blicke krochen hinter einem. Oft fuhr er wild herum, als wolle er einen Aufpasser abfangen. Geld war immer schwerer zu beschaffen. Der Verkauf von Karens Habseligkeiten brachte kaum fünfzig Taler. Und dann, was früher Spaß bereitet hatte, davor ekelte einem jetzt. Es war nicht schlechtes Gewissen. Schlechtes Gewissen, das war eine unbekannte Vokabel für ihn. Es war Verachtung des Lebens. Kaum mochte er aufstehen am Morgen. Der Tag war wie zerflossener, stinkender Käse. Jezuweilen kam der Fluchtgedanke. Man war schlau genug, man konnte die Späher und Spitzel übertölpeln, ohne daß man sich anstrengte; man würde schon einen Ort finden, wo man außer ihrem Bereich war, man hatte sich das ausgerechnet: erst mal zu Fuß, dann mit der Bahn, dann auf ein Schiff, wenn nicht anders, so als blinder Passagier im Kohlenraum, manchem war das geglückt. Aber wozu? Vor allem mußte reiner Tisch werden zwischen ihm und dem Menschen. Den Menschen mußte er erst aushorchen und klein kriegen. Den Menschen konnte er nicht im Rücken lassen. Der Mensch erwartete ihn; gut, er würde kommen.

War es bloß Vorwand für etwas, das stärker war als Haß und finstere Neugier, so war es doch der gebieterischste und treibendste. Mehrmals trat er den Weg an. Zu Beginn war er noch ruhig und entschlossen; kam die Straße, kam das Haus in Sicht, so kehrte er um. Die anfängliche Beruhigung verwandelte sich in erstickenden Zorn. Schließlich wuchs die Spannung ins Unerträgliche. Es war ein Freitag. Er verschob es noch um einen Tag. Am Samstag verschob er es bis zum Abend. Dann ging er hin. Strich erst noch eine Weile ums Haus, blieb am Tor stehen, blieb im Hofe stehen, sah Licht in der Wohnung, ging hinein.

16

Lätizia bezog mit der Gräfin und dem ganzen Troß in der Fürst-Bismarck-Straße, nahe dem Reichstagsgebäude, eine prunkvoll möblierte Wohnung. Crammon mietete sich im Hotel de Rome ein. Er liebte nicht die modernen Berliner Hotels mit ihrem betrügerischen Luxusfirnis. Er liebte überhaupt nicht die Stadt, und der Aufenthalt bereitete ihm täglich neues Unbehagen. Spazierte er über die Linden oder durch den Tiergarten, so bot er ein Bild der Freudlosigkeit; der Kragen seines Pelzmantels war in die Höhe gestellt und ließ vom Gesicht nur die mißmutig blickenden Augen und die kleine, nicht eben edel geformte Nase frei.

Auf solchen einsamen Gängen wurde er mehr und mehr zum Hypochonder.

»Kind, du ruinierst mich,« sagte er zu Lätizia, als sie, an einem Sonntag, das Vergnügungsprogramm für die Woche entwarf.

Lätizia sah ihn erstaunt an. »Aber Tantchen bekommt ja zwanzigtausend Mark vom Majoratsherrn,« rief sie aus, »du hast es ja selbst gehört.«

»Gehört, aber nicht gesehen,« erwiderte Crammon. »Geld muß man sehen, dann kann man dran glauben.«

»Pfui, was für ein nüchterner Mensch du bist,« sagte Lätizia, »lügt Tantchen vielleicht?«

»Nicht gerade, daß sie lügt, aber sie hat ein zu schwärmerisches Verhältnis zu den Ziffern. Wie wenn eine Null mehr oder weniger nichts bedeutete als eine Erbse im Erbsensack. Eine Null ist etwas Riesiges, meine Liebe, etwas Dämonisches. Die Null ist der große Bauch der Welt; die Null ist mächtiger als das Hirn des Aristoteles und die Armeen des Deutschen Reiches. Ehrfurcht vor der Null, ich bitte.«

»Wie weise, wie weise,« sagte Lätizia bekümmert. »Übrigens ist Tantchen krank,« fuhr sie lebhaft fort; »sie leidet an Herzbeschwerden. Der Arzt war da und hat ihr ein Rezept verschrieben, ein neues Medikament, mit dem er Versuche macht, eine Mischung aus Brom und Kalk.«

»Warum Brom und Kalk?« erkundigte sich Crammon verdrossen.

»Nun ja, Brom beruhigt und Kalk regt an,« plauderte Lätizia drauflos, stockte und brach in reizendes Lachen aus. Crammon, wie ein Schullehrer, der Würde zu bewahren hat, entschloß sich erst nach einiger Zeit, mitzulachen. Er warf sich in einen der tiefen Klubsessel, zog ein Tischchen heran, auf welchem Obst in einer Schale und goldene Messerchen lagen und begann einen Apfel zu schälen. Lätizia, ihm gegenübersitzend, ein geschlossenes Buch in der Hand, schaute ihm mit einer feinen und listigen Aufmerksamkeit zu. Ihr gefielen die graziösen Bewegungen Crammons. Der Kontrast von Plumpheit und Anmut bei ihm ergötzte sie stets.

»Ich höre, daß du mit dem Grafen Egon Rochlitz kokettierst,« sagte Crammon, während er mit einem ihn ganz durchdringenden Genuß den Apfel verspeiste; »ich möchte dir von dem Manne abraten. Der Mann ist ein berüchtigter Schürzenjäger. Er ist in diesem Punkt undifferenziert wie ein Feldwebel. Wenns nur Hüften und Busen hat, das übrige ist ihm egal. Der Mann steckt bis über den Kopf in Schulden; die einzige Hoffnung seiner Gläubiger ist, daß er reich heiratet. Der Mann ist außerdem Witwer und hat drei kleine Mädchen, die ihn Vater nennen. Somit weißt du, wie du mit dem Mann dran bist.«

»Sehr schön,« antwortete Lätizia, »gut, daß du mir das alles mitteilst. Aber wenn ich den Mann leiden mag, warum sollten mich da deine moralischen Bedenken hindern, ihn weiterhin sympathisch zu finden? Schürzenjäger sind viele; Schulden haben alle, drei kleine Mädchen aber haben die wenigsten, und das ist entzückend. Er ist klug, gebildet und distinguiert, und seine Stimme klingt angenehm. Wenn ein Mann eine angenehme Stimme hat, dann ist es schon kein ganz schlechter Mann. Will ich ihn denn heiraten? Bist du bereits ein so verrosteter böser alter Stiefvater, daß du glaubst, man müßte jeden heiraten, der . . . na, der eine angenehme Stimme hat? Oder hast du Angst, du Geizhals, daß ich dich um eine Mitgift prellen will? Sicher bist du deswegen in so niederträchtiger Laune. Gesteh, Bernhard, sag es offen; beichte!« Sie stand vor ihm, lächelnd, im Scherz gebietend, berührte mit dem Zeigefinger seine Stirn, und die andre Hand hatte sie halb drohend, halb feierlich erhoben.

Crammon sagte: »Kind, du läßt es wieder einmal am schuldigen Respekt fehlen. Beachte doch meinen gelichteten Scheitel. Bedenke doch die Jahre, die Erfahrungen. Sei klein! Sei verzagt! Höhne deinen würdigen Hervorbringer nicht. Meine Laune? Na ja, sie ist die beste nicht. Ich hatte einst eine bessere. Du scheinst nicht zu wissen, daß in dieser Stadt, ganz unten wo, ganz draußen, in ihren Sümpfen und Elendswinkeln der Mensch lebt, der mir vor allen teuer war, Christian; Christian Wahnschaffe. Nach ihm hast du ja auch mal deine Angel ausgeworfen, in grauer Vorzeit, erinnerst du dich? Wie lang ist das her! Das wäre ein Fang gewesen. Esel, der ich war, daß ich mich der niedlichen kleinen Intrige widersetzt habe. Vielleicht wäre alles anders gekommen. Aber es hat keinen Zweck, zu murren. Zwischen ihm und mir ist es aus. Dorthin führt für mich kein Weg. Und doch treibt es mich, doch zwickts mich heimlich, und indem ich hier sitze und mirs wohl sein lasse, ist mir zumut, als beginge ich eine Schurkerei.«

Lätizia hatte mit großen Augen gelauscht. Es war seit den Tagen von Wahnschaffeburg das erstemal, daß von Christian mit ihr gesprochen wurde. Sein Bild erhob sich. Sie spürte in ihrer Brust ein mattes, banges Flügelschlagen. Da war eine Süßigkeit, und da war ein Schmerz. Man mußte vergessen können, wie sie vergaß, um so im Augenblick, beim heraufquellenden Glockenklang einer Herzensstunde, des tiefsten Gefühls wieder innezuwerden.

Sie fragte. Erst ließ sich der widerwillige Erzähler Satz um Satz abringen, dann, von ihrer Ungeduld getrieben, kam er in freien Fluß. Das fassungslose Erstaunen Lätizias schmeichelte ihm; er trug starke Farben auf. Ihr zartes Gesicht widerspiegelte die Erregungen der Seele im Nu. Alles wurde Vorstellung und Gegenwart in ihrer schwingenden Phantasie, Erschütterung in ihrem Gemüt. Sie brauchte keine Deutungen, sie hatte sie in sich. Voller Ahnung schaute sie ins unbekannte Dunkel nieder und voller Begriff gleich. Ja, es war ihr so vertraut, im Sinne eines Gedichts vertraut, als hätte sie mit Christian gelebt in all der Zeit, und sie wußte mehr als Crammon zu berichten hatte, unendlich viel mehr, sie umfing das Ganze, Idee und Figur, Schicksal und Leiden. Sie erglühte; sie sagte: »Ich will zu ihm,« erschrak bei der Vorstellung einer Begegnung, entwarf im Geiste einen hinreißenden Brief und fand Crammons Lässigkeit ärgerlich, seine weinerlichen Klagen sinnlos.

»Ich habe es immer gespürt,« sagte sie mit leuchtenden Augen, »daß eine verborgene Kraft in ihm ist. Wenn ich meine gelüstigen Gedanken hatte, und er sah mich an, dann schämte ich mich. Er konnte die Gedanken lesen, aber er hat es selbst nicht gewußt.«

»Du hast schon einmal klüger geredet, als du jetzt redest,« spottete Crammon. Aber sie rührte ihn in ihrem Enthusiasmus, und eine Eifersucht auf alle Männer, die die Hände nach ihr streckten, schoß in ihm empor.

»Ich will zu ihm gehen,« sagte sie lächelnd, »um mein Herz bei ihm erleichtern.«

»Damals warst du klüger, als du beim Gewitter den Ball springen ließest im schönen Saal,« murmelte Crammon, in die Erinnerung verloren. »Sticht dich der Hafer, mein Töchterchen, daß du Magdalena spielen willst?«

»Ich möchte einmal vier Wochen in der Einsamkeit leben,« sagte Lätizia sehnsüchtig.

»Und dann?«

»Dann würde ich vielleicht die Welt verstehen. Ach, es ist alles so sonderbar und melancholisch.«

»O du liebe Jugend! Deine Worte sind blühender Kohl.« Crammon seufzte und griff nach einem zweiten Apfel.

Es kam dann die Schneiderin mit einem neuen Abendkleid für Lätizia. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück, und nach kurzer Weile erschien sie wieder, erregt von ihrer Neuheit, und Crammon sollte bewundern, da sie sich bewundernswert fühlte. Aber es lag auch ein wehmütiger Glanz über ihrem Wesen, und während sie schon die Blicke vieler auf sich gerichtet sah, denen sie bald entgegentreten würde, denn Crammons Wohlgefallen war ihr nicht genug, dachte sie schwelgend an Abkehr und Entsagung.

Sie ging auch zur Gräfin-Tante hinüber, um deren lärmende Begeisterung einzukassieren, und sie dachte an Abkehr und Entsagung.

Man brachte ihr einen Strauß Rosen, aber als sie mit jener hingegebenen Freude, die Blumen in ihr erweckten, daran roch, erblaßte sie und dachte an Christians schweres und dunkles Leben. Ich gehe zu ihm, nahm sie sich vor; aber am Abend war Ball beim Fürsten Radziwill.

Dort traf sie Wolfgang Wahnschaffe, mied ihn jedoch in instinktiver Scheu. Sie wurde sehr gefeiert. Ihre Natur und ihr Schicksal standen auf einem Gipfel und übten eine sichere Magie aus, der sie unschuldig-schlau alle Vorteile abgewann, welcher sie habhaft werden konnte.

Auf dem Nachhauseweg, im Auto, fragte sie Crammon: »Sag mal, Bernhard, wohnt nicht auch Judith in Berlin? Hast du von ihr gehört? Ist sie glücklich mit dem Schauspieler? Warum besuchen wir sie nicht?«

»Niemand verwehrt es dir, sie zu besuchen,« antwortete Crammon in den dichtfallenden Schnee hinein; »sie wohnt in der Matthäikirchstraße. Ob sie glücklich ist, kann ich dir nicht sagen; es interessiert mich nicht. Da hätte man viel zu tun, wenn man sich den Kopf zerbrechen wollte, ob die Frauen, die mit unsern Freunden ins Ehebett steigen, auch ihre Rechnung dabei finden. Lorm ist nicht mehr, was er gewesen, das steht fest, nicht mehr der Unvergleichliche und Einzige. Ich nannte ihn einstmals den letzten Fürsten in dieser Welt, die langsam einer unseligen Verplebsung zusteuert. Das ist vorbei. Es geht bergab mit ihm, und deshalb weich ich ihm aus. Ein Mann, der fällt, ein Künstler, der sich verliert, es gibt nichts Traurigeres auf Erden. Daran ist diese Frau schuld. Ja ja, lache nicht, daran ist das Weib schuld.«

»Wie grausam und böse du bist,« sagte Lätizia und lehnte schläfrig ihre Wange an seine Schulter.

Sie beschloß, zu Judith zu gehen. Es dünkte ihr eine Vorstufe zu dem andern, schwereren Beginnen, das sie dadurch noch aufschieben konnte, und für das ihr Mut noch nicht reif war. Wenn sie es als Abenteuer sah, lockte es, aber eine Stimme rief ihr zu, daß es ein Abenteuer nicht sein durfte.


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