Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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16

Sie mußten noch eine Weile marschieren, ehe sie zum Parktor von Christiansruh kamen. Als Voß sich verabschieden wollte, sagte Christian: »Sie werden müde sein, wozu sollen Sie noch den Weg ins Dorf machen. Übernachten Sie bei mir.«

»Wenn es ohne Unbequemlichkeit für Sie sein kann, nehme ich es an,« erwiderte Voß.

Sie gingen ins Haus und betraten die Halle, die erleuchtet war. Amadeus Voß schaute staunend um sich. Sie gingen die Treppe hinauf, in das Speisezimmer, das im Louis-Quinze-Stil eingerichtet war. Christian führte seinen Gast dann durch andre Räume in das Gemach, das er für ihn bestimmt hatte. Von Raum zu Raum staunte Amadeus Voß mehr. »Das ist noch ein ander Ding als in Halbertsroda,« murmelte er; »es ist ein Unterschied wie zwischen Festtag und Alltag.«

Schweigend saßen sie bei Tisch einander gegenüber. Dann gingen sie in die Bibliothek. Ein Diener servierte den schwarzen Kaffee auf silberner Platte. Voß stand an einen Pfeiler gelehnt, die Hände auf dem Rücken und starrte in die Luft. Als der Diener sich entfernt hatte, sagte er: »Haben Sie einmal von der telchinischen Seuche gehört? Es ist eine Krankheit, die der Neid der Telchinen ausgebrütet hat, der in Menschen verwandelten Hunde des Aktäon, und diese Krankheit wendet sich verderblich gegen alles in ihrem Umkreis. Ein Jüngling namens Euthelides erblickte seine eigne Schönheit mit neidischem Auge in einer Quelle, und die Schönheit welkte hin in Krankheit.«

Christian sah still vor sich nieder.

»Es gibt eine Sage von einem Edelmann in Polen,« fuhr Amadeus fort; »dieser Edelmann wohnte am Weichselufer einsam in einem weißen Hause, und alle Nachbarn flohen seine Nähe, weil sein neidischer Blick Unglück über sie brachte, die Herden tötete, die Scheunen in Brand steckte, die Kinder mit Aussatz bedeckte. Einst wurde ein schönes Mädchen von Wölfen verfolgt und flüchtete in sein weißes Haus. Er verliebte sich in sie und heiratete sie. Weil aber das Übel, das von ihm ausging, auch sie überfiel, riß er sich die Augen aus und vergrub die glänzenden Kristalle an der Gartenmauer. Nun war er genesen, aber die vergrabenen Augen gewannen sogar unter der Erde neue Kraft, und ein alter Diener, der sie aus dem Boden grub, wurde von ihnen getötet.«

Auf einem niedrigen Sessel sitzend, hatte Christian die Arme um seine Knie geschlungen und schaute zu Voß empor.

»Man muß von Zeit zu Zeit die Augen entsühnen,« sagte Amadeus Voß. »Drüben im Dorfe Nettersheim liegt eine Magd im Sterben, ein armes Ding, unsäglich verlassen; in einem Verschlag neben dem Stall liegt sie, und die Bauern glauben nicht an ihren nahen Tod, halten sie für arbeitsscheu. Zu der bin ich ein paarmal gegangen, um meine Augen zu entsühnen.«

Sie schwiegen lange, und als die Uhr in dem hohen gotischen Gehäuse zum Mitternachtsschlag aushob, gingen sie in ihre Zimmer.

17

Dem Ruf seines Vaters folgend, fuhr Christian nach Würzburg.

Die Begrüßung war höflich von seiten beider. »Ich hoffe, daß ich dich nicht inkommodiert habe,« sagte Albrecht Wahnschaffe.

»Ich stehe zu deiner Verfügung,« antwortete Christian kühl.

Sie machten einen Spaziergang über das Glacis, redeten aber wenig miteinander. Die Dobermannhündin, Freia geheißen, die beständige Begleiterin Albrecht Wahnschaffes, trottete zwischen ihnen. Es überraschte Albrecht Wahnschaffe, zu bemerken, daß Christians Züge Veränderungen von innen her aufwiesen.

Abends, beim Tee, sagte er mit einer ritterlichen Geste: »Du bist zu einer ungewöhnlichen Erwerbung zu beglückwünschen. Es schlingt sich ja ein ganzer Legendenkranz um diesen Diamanten. Die Sache hat Staub aufgewirbelt, man wundert sich allgemein. Mit einigem Recht, scheint mir, da du weder ein englischer Herzog noch ein indischer Prinz bist. Ist es wirklich ein so begehrenswertes Stück?«

»Ein wundervolles Stück,« bestätigte Christian. Plötzlich kamen ihm Vossens Worte in den Sinn: man muß die Augen entsühnen.

Albrecht Wahnschaffe nickte. »Ich zweifle nicht,« sagte er; »ich verstehe solche Passionen, obgleich ich als Kaufmann die Brachlegung eines so erheblichen Kapitals mißbilligen muß. Es ist eine Exzentrizität. Der Weltzustand ist immer gefährdet, wenn Männer aus dem Bürgertum exzentrisch werden. Über einen gewissen Punkt möchte ich deine Betrachtung anregen. Alle Privilegien, deren du dich erfreust, und sie sind nicht gering, wie du zugeben mußt, alle Erleichterungen des Daseins, alle Möglichkeiten zur Befriedigung deiner Launen und Leidenschaften, die gesellschaftliche Gipfelstellung, die du einnimmst, das alles beruht auf Arbeit. Ich brauche nicht hinzuzufügen: auf der Arbeit deines Vaters.«

Aus einer Ecke des Gemachs hatte sich die Hündin Freia erhoben. Sie trat zu Christian und legte schmeichelnd den Kopf auf seinen Schenkel. Albrecht Wahnschaffe, in einer leichten Regung von Eifersucht, gab dem Tier einen Klaps auf die Flanke.

Er fuhr fort: »Ein solches Ausmaß von Arbeit bedeutet natürlich Verzicht auf allen Linien. Man ist Pflugschar, die aufreißt und rostet. Man ist Brennstoff, der Helligkeit gibt und verzehrt wird. Ehe, Familie, Freundschaft, Kunst, Natur, sie existierten kaum für mich. Ich habe gelebt wie der Bergmann im Stollen. Und welchen Dank hatte ich? Unsre Volksbetrüger füttern ihren Anhang mit dem frechen Märchen, als seien wir die Vampire, die das Blut der Unterdrückten trinken. Sie wissen nichts, die Brunnenvergifter, oder wollen nichts wissen von den Erschütterungen, Leiden und Entbehrungen, an die der friedliche Lohnsklave mit keiner Ahnung hinreicht.«

Freia schmiegte sich dichter an Christian, leckte seine Hand und warb demütig um seinen Blick. Die stumme Zärtlichkeit des Tieres tat ihm wohl. Er runzelte die Stirn und sagte lakonisch: »Wenn es so ist und du es so empfindest, warum immerfort arbeiten?«

»Es gibt auch eine Pflicht, du Weichgebetteter, es gibt eine Treue gegen die Sache,« erwiderte Albrecht Wahnschaffe, und seine blaßblauen Augen zürnten. »Jeder Bauer hängt an dem Stück Erdreich, dem er seine Sorge weiht. Als ich anfing, war unser Land noch ein armes Land. Heute ist es ein reiches Land. Ich will nicht behaupten, daß meine Leistung dem Ganzen gegenüber hoch in Betracht kommt; aber sie ist einzurechnen. Sie ist ein Symptom unsres Aufschwungs, unsrer jungen Macht, unsres wirtschaftlichen Gedeihens. Wir stehen nun auch unter den großen Völkern und haben einen Leib und ein Gesicht.«

»Was du sagst, ist gewiß richtig,« versetzte Christian, »leider fehlt mir der Sinn dafür. Ich bin in dieser Hinsicht entschieden mangelhaft organisiert.«

»Fünfundzwanzig Jahre früher, und dein Los wäre gewesen, ein Brotverdiener zu sein,« sprach Albrecht Wahnschaffe weiter, ohne auf den Einwand zu achten; »heute bist du Nachfahr und Erbe. Deine Generation blickt in eine verwandelte Welt und Zeit. Wir haben euch Flügel an die Schultern geheftet, und ihr habt vergessen, wie beschwerlich das Kriechen ist.«

Christian, im dunklen Verlangen nach der Wärme eines Körpers, nahm den Kopf der Hündin zwischen seine Hände, die mit dankbarem Knurrlaut sich erhob und die Vorderpfoten gegen seine Schultern stemmte. Mit einem Lächeln, das noch dem Spiel mit dem Tier galt, sagte er: »Keiner verschmäht, was ihm in den Schoß fällt. Ich habe freilich nie gefragt, woher es kommt und wohin es soll. Man könnte gewiß auch anders leben. Vielleicht werde ich noch einmal anders leben. Es müßte sich ja dann zeigen, ob man ein andrer wird und wie man wird, wenn die Behelfe fehlen, die Flügel, von denen du sprichst.« Sein Gesicht war ernst geworden.

Albrecht Wahnschaffe fühlte sich auf einmal ziemlich ratlos vor diesem schönen, stolzen, fremden Menschen, der sein Sohn war. Um seine Verlegenheit zu verbergen, antwortete er hastig: »Anders leben, das ist es; genau das meine ich. In der Überzeugung, daß dir ein Dasein auf die Dauer zur Last werden muß, das nur eine Kette von Nichtigkeiten ist, wollte ich dir vorschlagen, eine deinen Kräften und Gaben würdigere Bahn zu betreten. Wie wäre es mit der diplomatischen Karriere? Wolfgang fühlt sich ungemein befriedigt über die Möglichkeiten, die sich ihm dabei bieten. Es ist auch für dich noch nicht zu spät. Die versäumte Zeit läßt sich einbringen. Der Name, den du trägst, wiegt jeden Adelstitel auf. Du verbleibst in einer Region, die dir gemäß ist; du hast große Mittel, die persönliche Eignung und außerordentliche Beziehungen; das übrige vollzieht sich automatisch.«

Christian schüttelte den Kopf. »Du irrst dich, Vater,« sagte er leise, aber bestimmt, »ich habe nicht die Fähigkeit dazu, auch nicht die geringste Lust.«

»Dacht ich mir,« entgegnete Albrecht Wahnschaffe lebhaft; »also nichts mehr davon. Mein zweiter Vorschlag, mir selbst sympathischer, möchte dich zur Mitarbeit in der Firma ermuntern. Der leitende Gedanke ist, eine repräsentative Stellung für dich zu schaffen, entweder im inneren oder im äußeren Dienst. Wählst du das letztere, so könntest du deinen Aufenthalt im Ausland wählen, in Japan, in den Vereinigten Staaten. Weitgehende Vollmachten würden dir erlauben, unabhängig aufzutreten. Du übernimmst Verantwortungen, die in keiner Weise drückend wären, und genießt die Vorrechte eines Botschafters. Es bedarf nur deiner Einwilligung, das andere ist meine Sorge.«

Christian erhob sich von seinem Stuhl. »Ich bitte dich herzlich, Vater, dieses Thema fallen zu lassen,« sagte er. Seine Miene war kalt, sein Blick gesenkt.

Auch Abbrecht Wahnschaffe stand auf. »Sei nicht zu rasch, Christian,« mahnte er. »Ich kann dir nicht verhehlen, daß mich deine endgültige Weigerung empfindlich träfe. Ich habe auf dich gerechnet.« Er sah Christian fest an. Christian schwieg.

Nach einer Weile fragte er: »Wann warst du zum letztenmal auf den Werken draußen?«

»Es muß drei oder vier Jahre her sein,« antwortete Christian.

»Es war um Pfingsten vor drei Jahren, wenn ich mich recht entsinne,« sagte Albrecht Wahnschaffe, wie immer ein wenig eitel auf sein selten trügendes Gedächtnis; »du hattest mit deinem Vetter Theo Friesen eine Vergnügungsfahrt in den Harz verabredet, und Theo wollte einen Abstecher zu den Fabriken machen. Er hatte von unsern neuen Wohlfahrtseinrichtungen gehört und interessierte sich dafür. Ihr habt euch aber dann doch nicht aufgehalten, scheint mir.«

»Nein. Ich hatte es Theo ausgeredet. Wir hatten noch einen weiten Weg, und ich wollte ins Quartier kommen.«

Christian erinnerte sich jetzt genau. Es war Abend geworden, als das Auto langsam durch die Straßen der Maschinenstadt fuhr. Er hatte sich dem Wunsch seines Vetters gefügt, aber plötzlich war der Widerwille gegen diese Welt aus Rauch und Staub und Schweiß und Eisen erwacht; er hatte den Wagen nicht verlassen gewollt und dem Lenker befohlen, das Tempo zu beschleunigen.

Gleichwohl erinnerte er sich des Höllengesangs, zu dem Stahlschlag und Radgesurr sich verbündeten; er hörte noch das Donnern, Pfeifen, Zischen, Kreischen und Fauchen; sah noch das Vorüberziehen von Schmieden, Walzen, Pumpen, Dampfhämmern, Gebläsen, Hochöfen, Schmelzöfen, Gießereien, Kesselhäusern; die Tausende geschwärzter Gesichter; ein menschenähnliches Geschlecht, aus Kohle gemacht, behaucht von Weiß- und Rotgluten; elektrische Nebelmonde, die durch den Raum tanzten; Totenkarren gleichende Fahrzeuge, von einer violetten Dämmerung verschlungen; die Wohnstätten in einem Schein von Behäbigkeit und einem Sein von unergründlicher Traurigkeit, die Badehäuser, Lesehallen, Vereinshäuser, Krippen, Spitäler, Säuglingsheime, Warenhäuser, Kirchen und Kinotheater. Dies Gepräge von Zwang und Fron, von Pferch und Aufputz, von Häßlichem, Allerhäßlichstem auf Erden, das überschminkt, von Drohendem, das gefesselt und erstickt war.

Vetter Friesen erschöpfte sich in staunenden Ausrufen; Christian hatte erst wieder frei aufgeatmet, als der Wagen über die Landstraße raste, in panischer Flucht vor dem lodernden Grauen.

»Und seitdem warst du nicht mehr dort?« fragte Albrecht Wahnschaffe.

»Seitdem nicht mehr.«

Sie standen eine Weile schweigend voreinander. Albrecht Wahnschaffe ergriff die Hündin Freia beim Halsband und sagte mit merklicher Überwindung: »Geh mit dir zu Rate, du hast Zeit; ich dränge dich nicht; ich werde warten. Wenn du die Umstände erwägst und dich selber prüfst, wirst du zu der Einsicht gelangen, daß ich dein Glück im Auge habe. Antworte mir also jetzt nicht, und wenn du mit dir im reinen bist, laß mich deinen Entschluß wissen.«

»Ich bitte um die Erlaubnis mich zurückziehen zu dürfen,« sagte Christian. Albrecht Wahnschaffe nickte, Christian verbeugte sich und ging.

Am andern Morgen fuhr er wieder nach Christiansruh.

18

In einer Nebenstraße des belebtesten Viertels von Buenos Aires stand ein Haus, das der Familie Gunderam gehörte. Die Eltern Gottfried Gunderams hatten es gekauft, als sie Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nach Argentinien gekommen waren. Damals war es billig gewesen; die Entwicklung der Stadt hatte inzwischen ein Objekt von hohem Wert aus ihm gemacht. Gottfried Gunderam erhielt verlockende Angebote, nicht bloß von Privatleuten, sondern auch von der Gemeinde, die das baufällige Haus niederreißen lassen wollte, um an seiner Stelle einen modernen Mietspalast zu errichten.

Aber Gottfried Gunderam blieb gegen alle Versuchungen taub. »Das Haus, in dem meine Mutter ihr Leben beschlossen hat, kommt nicht in fremde Hände, solang ich noch einen Atemzug in mir habe,« erklärte er.

Diese Hartnäckigkeit beruhte nicht so sehr auf kindlicher Pietät als vielmehr auf einem Aberglauben, der so stark war, daß er sogar seine Geldgier zum Schweigen brachte. Er fürchtete, die Mutter werde aus dem Grab aufstehen und sich an ihm rächen, wenn er das Stammhaus der Familie veräußerte und zerstören ließ. Gedeihen, Reichtum, gute Ernten und hohes Alter hingen nach seinem Meinung davon ab. Kein Unberufener durfte das Haus betreten.

Das Haus wurde von den Söhnen und Verwandten spöttischerweise der Escurial genannt; aber Gottfried Gunderam nahm von dem Spott keine Notiz und hatte sich allmählich daran gewöhnt, das Haus ebenfalls und in allem Ernst den Escurial zu nennen.

Einst, lange vor seiner Reise nach Deutschland, hatte Stephan dem Alten in einer Stunde, wo er getrunken hatte und bei guter Laune war, das Versprechen abgelistet, daß er den Escurial bekommen sollte, wenn er heiraten würde. Als er nun Lätizia heimgeführt hatte, rechnete er mit diesem Versprechen. Er wollte sich in Buenos Aires als Advokat niederlassen und die verlotterte Ruine, den Escurial, in einen behaglichen Wohnsitz verwandeln.

Er erinnerte den Vater an seine Zusage. Jedoch der Alte leugnete sie ihm rundweg ab. »Kannst du mirs schwarz auf weiß zeigen?« fragte er augenzwinkernd; »kannst dus nicht? Was willst du dann von mir? Was bist du für ein Rechtsgelehrter, wenn du ohne schwarz auf weiß eine Forderung realisieren willst?«

Stephan schwieg; er begnügte sich damit, den Alten von Zeit zu Zeit zu mahnen, kalt, methodisch und ruhig.

Der Alte sagte: »Das Weib, das du dir genommen hast, ist nicht nach meinem Geschmack. Sie paßt nicht in unsre Verhältnisse. Sie ist eine Bücherleserin, pfui Teufel; ein weißhäutiges Püppchen ohne Rasse. Sie soll zufrieden sein mit dem, was sie hat. So dumm bin ich nicht, daß ich mich euretwegen in Unkosten stürze. Den Escurial zum Wohnen einzurichten, ist ein teurer Spaß, und Geld hab ich keins, absolut keins.«

Stephan schätzte das Barvermögen seines Vaters auf vier bis fünf Millionen Franken. »Du bist mir mein Erbteil schuldig,« erwiderte er.

»Ich bin dir einen Stoß in die Zähne schuldig,« gab der Alte grimmig zurück.

»Ist das dein letztes Wort?«

Der böse Greis antwortete: »Mein letztes Wort sag ich noch lange nicht. Noch mindestens ein Dutzend Jahre nicht. Aber wir wollen einen Vergleich schließen, denn ich lebe mit den Meinen gern in Frieden. So höre: Wenn dein Weib niederkommt und einen Jungen auf die Welt bringt, sollt ihr den Escurial haben und fünfzigtausend Pesos obendrein.«

»Gib mirs schriftlich, damit ichs schwarz auf weiß habe.«

Der Alte lachte trocken. »Bravo,« rief er und kniff die Augen zusammen, »jetzt bist du klug, ein kluger Rechtsgelehrter. Man sieht doch wenigstens, daß die Tausende nicht umsonst verstudiert sind.« Und mit auffallender Willigkeit setzte er sich an den Schreibtisch und verfaßte die geforderte Erklärung.

Ein paar Wochen später sagte Stephan zu Lätizia: »Wir fahren heute in die Stadt, ich will dir den Escurial zeigen.«

Die einzige Bewohnerin des Escurial war eine neunzigjährige Mulattin, und um sie aus ihrer Höhle zu locken, mußte man Steine ins Fenster werfen. Dann erschien sie, krumm, halb blind, in Lumpen gehüllt und mit einem gelben Auswuchs auf der Stirn.

Die Straße war vor einem Jahrhundert um einen Meter tiefer gelegt worden, deshalb war es nötig, daß vom Tor des Hauses eine Leiter herabgelassen wurde; die mußten Stephan und Lätizia erklimmen. Innen war alles verfault und vermodert, die Möbel und die Dielen. In den Ecken ballten sich Spinnweben wie Wolken, und fette, haarige Spinnen glotzten hervor. Die Tapeten hingen in Fetzen von den Wänden, die Fensterscheiben waren zerbrochen, die Kamine eingestürzt.

Aber in einem Raum, dem Sterbezimmer der Stammutter, stand ein Tisch mit schöner Intarsia, ein antikes Stück aus einem Sieneser Kloster. Die Intarsia zeigte zwei Engel, die Palmenzweige gegeneinander neigten, und zwischen ihnen kauernd einen Adler. Auf dem Tisch lagen alle Juwelen, die die Verstorbene besessen; Broschen, Ketten, Ohrgehänge, Ringe und Armbänder lagen hier seit Jahr und Tag, von dickem Staub bedeckt und durch den gespenstischen Ruf des alten Hauses besser geschützt als durch die vergitterten Fenster.

Lätizia war erschrocken und dachte: Hier soll ich wohnen, wo vielleicht Geister in der Nacht erscheinen, um sich zu schmücken?

Jedoch als Stephan ihr seine Umbau- und Erneuerungspläne auseinandersetzte, wurde sie froh, und gleich verwandelten sich die Räume, in denen Verwesung herrschte, in einladende Gemächer, zierliche Boudoirs, helle, kühle Säle mit hohen Fenstern und Treppenaufgänge mit Teppichen und Estraden.

»Es liegt nur an dir, uns zu einem glücklichen und schönen Heim baldmöglichst zu verhelfen,« sagte Stephan; »ich für meine Person tue meine Pflicht; von dir kann man dasselbe nicht behaupten.«

Lätizia schlug die Augen nieder; sie kannte die Bedingung des alten Gunderam.

Von Frist zu Frist mußte sie ihre fehlgeschlagene Hoffnung bekennen. Der Escurial lag nach wie vor im Totenschlaf, und Stephans Gesicht wurde immer finsterer. Er schickte sie in die Kirche, daß sie beten solle; er streute gemahlene Walnüsse auf ihr Bett; er gab ihr Knochenpulver, in Wein gelöst, zu trinken; er ließ eine Frau kommen, die wirksamer Sprüche mächtig war, und Lätizia mußte sich vor ihr entkleiden und ihren Leib, um den sieben brennende Kerzen aufgestellt waren, der zauberkräftigen Beschwörung unterwerfen. Und sie ging in die Kirche und betete, obwohl sie an das Gebet nicht glaubte, keine Andacht verspürte und von Gott nichts wußte. Sie erschauerte bei dem Gemurmel der italienischen Hexe, obwohl sie sich, wenn alles vorbei war, über das Kauderwelsch und den Hokuspokus lustig machte.

Sie zeugte im Geiste das Bild des Kindes, das ihr der Leib versagte. Sie sah es, unbestimmten Geschlechts, aber vollkommen in der Schönheit. Es blickte sie mit sanften Rehaugen an. Es hatte die Züge eines Raffaelschen Engels und die zarte Seele einer Ode von Hölderlin. Es war zu großen Dingen erkoren, und ein schwindelnder Lebensaufstieg stand ihm bevor. Der Gedanke an dies Traumwesen erfüllte sie mit schwärmerischen Empfindungen, und sie wunderte sich über Stephans Zorn und wachsende Ungeduld. Sie wunderte sich und war sich keiner Schuld bewußt.

Stephans Mutter, Donna Barbara, wie sie genannt wurde, sagte zu ihrem Sohn: »Ich habe deinem Vater acht geschenkt; acht lebendige Menschen. Drei sind gestorben, vier sind Männer geworden, deine Schwester Esmeralda will ich gar nicht zählen. Warum ist jene unfruchtbar? Züchtige sie, mein Sohn, schlage sie.«

Da griff Stephan zähneknirschend nach seinem Ochsenziemer.

19

Es war Abend und Christian ging ins Försterhaus. Schon war ihm der Weg selbstverständlich; über das Zwangvolle, das ihn hintrieb, gab er sich keine Rechenschaft.

Amadeus Voß saß bei der Lampe und las in einem abgegriffenen Buch. Durch die zweite Tür im Zimmer enthuschte ein Schatten, seine Mutter.

Nach einer Weile fragte Voß: »Wollen Sie morgen mit mir nach Nettersheim gehen?«

»Was soll ich dort?« fragte Christian zurück.

Voß wandte sich ganz zu ihm; seine Brillengläser flimmerten ins Dunkel hinein. »Vielleicht ist sie schon tot,« murmelte er.

Er trommelte mit den Fingern auf seinen Knien. Da Christian schwing, begann er von der Magd Walpurga zu erzählen, die beim Großbauern Borsche, seinem Onkel, in Diensten stand.

»Sie ist im Dorf geboren, eine Häuslerstochter. Mit fünfzehn Jahren ging sie in die Stadt. Sie hatte viel gehört von dem schönen Leben in der Stadt und glaubte es wunder wie weit zu bringen. Sie kam in verschiedene Häuser, zuletzt zu einem Kaufmann; da war ein Sohn, der verführte sie, und wie es zu geschehen pflegt, man jagte sie davon. So ist es eben, daß diejenigen, die ohnehin die Opfer sind, auch noch die Strafe erleiden müssen.

Sie gebar ein Kind; das Kind starb. Mit ihr selber aber ging es tiefer und tiefer herab. Sie fiel einem Mädchenhändler als Beute zu, der brachte sie in ein Bordell, dort war ihres Bleibens nicht lange, danach wurde sie Straßendirne. Es war in Bochum und in Elberfeld, wo sie diesen Beruf ausübte, und es war ihr nicht wohl dabei, und sie kam ins Elend. Eines Tages wurde sie von Heimweh erfaßt, sie raffte ihre letzte Kraft zusammen und kehrte ins Dorf zurück, bettelarm und krank am Körper, doch gewillt, sich ihr Brot zu erarbeiten, gleichviel um welchen Lohn und durch welche Plage.

Aber niemand wollte sie nehmen. Ihre Eltern waren tot, Verwandte hatte sie keine, so war sie der Gemeinde zur Last, und man ließ es sie entgelten. Eines Sonntags geschah es, daß der Geistliche von der Kanzel herab gegen sie wetterte. Zwar nannte er ihren Namen nicht, aber er sprach vom Lotterleben und vom Sündenpfuhl und von der Heimsuchung und von der Strafe und wie der Zorn des Herrn sich so sichtbar an einem Beispiel erfüllt habe, das vor aller Augen stehe. Da war sie gebrandmarkt und der öffentlichen Verachtung preisgegeben und beschloß, ihrem Dasein ein Ende zu machen. An einem Abend, als der Großbauer Borsche vom Wirtshaus heimging, sah er eine Frauensperson in gräßlichen Zuckungen mitten auf der Straße liegen. Es war Walpurga, die Stadthure, wie sie im Dorf allgemein geheißen wurde. Kein Mensch war in der Nähe; der Bauer hob sie auf seinen breiten Rücken und trug sie in seinen Hof. Sie hatte von vielen Zündhölzern den Phosphor abgeschabt und gegessen, und das bekannte sie. Da ließ ihr der Bauer Milch reichen, sie erholte sich und durfte auf dem Hof bleiben.

Manchen Tag konnte sie arbeiten und sich aufs Feld schleppen, manchen wieder nicht, da verkroch sie sich in einen Winkel und streckte sich hin. Die Knechte, so viel ihrer waren, betrachteten ihren Leib als herrenloses Gut, und dagegen half kein Sträuben. Erst als der Bauer zornig dazwischenfuhr, wurde es besser. Sie war erst dreiundzwanzig Jahre alt und hatte trotz Krankheit und erlittenen Elends ein blühendes Aussehen bewahrt; ihre Wangen waren immer gerötet, ihre Augen glänzten frisch. Und wenn sie nun nicht zur Arbeit ging wie die andern Mägde, so zogen diese über sie her und hießen sie ein betrügerisches Mensch.

Vor zwei Wochen kam ich auf einer Wanderung nach Nettersheim und kehrte bei Borsches ein. Sie bewillkommten mich freundlich, denn da sie mich als künftigen Geistlichen ansehen, gelte ich etwas bei ihnen. Sie redeten auch von Walpurga; der Bauer erzählte mir ihre Geschichte und bat, ich möge doch einmal zu ihr gehen und ihm sagen, ob ich ihre Krankheit für Verstellung halte. Auf meinen Einwand, weshalb er nicht den Arzt zu Rate ziehe, erwiderte er, der Doktor aus Heftrich sei bei ihr gewesen, habe jedoch nichts ausfindig machen können. Hierauf ging ich zu ihr. Sie lag im Stall, durch eine Bretterwand vom Vieh getrennt, vor der Erdbodenkälte durch eine Schicht Streu geschützt, eingehüllt in eine alte Pferdedecke. Ihre gesunden Farben und ihre volle Gestalt täuschten mich nicht, und ich sagte zum Bauern: Die glimmt nur noch so hin. Er und die Bäuerin schienen mir zu glauben, aber als ich sie aufforderte, die Kranke anständig unterzubringen und zu verpflegen, zuckten sie die Achseln und meinten, wärmer als im Stall sei es nirgends, und wer solle sich um ein so gemiedenes und armseliges Weibermensch groß kümmern und in Unbequemlichkeiten stürzen?

Am dritten Tag ging ich wieder hinüber und dann jeden andern Tag. Meine Gedanken konnten sich nicht mehr von ihr losreißen. In meinem ganzen Leben hat mir kein Mensch so ins Herz gegriffen. Sie konnte jetzt nicht mehr aufstehen, das sahen sogar die Böswilligsten. Ich saß bei ihr im dunstigen Verschlag, auf einer Holzbank neben der Streustelle. Mit jedem Mal wurde sie froher, wenn ich kam. Unterwegs pflückte ich Feldblumen, die hielt sie in den gefalteten Händen über der Brust fest. Man hatte ihr gesagt, wer ich sei, und allmählich hatte sie eine Menge Fragen an mich zu stellen. Sie wollte wissen, ob es ein ewiges Leben und eine ewige Seligkeit gebe. Sie wollte wissen, ob Christus auch für sie am Kreuz gestorben sei. Sie hatte Angst vor den Qualen des Fegefeuers und sagte, wenn es so schlimm sei wie alles, was sie unter den Menschen erfahren, jammere sie ihr unsterbliches Teil. Darin war keine Schmähung und keine Klage; sie wollte bloß wissen.

Und was konnte ich antworten? Daß Christus auch für sie das Kreuz auf sich genommen, versicherte ich ihr. Das übrige Fragen ließ mich stumm. Man ist so stumm und wild, wenn ein lebendiges Herz nach Wahrheit verlangt, und der gefrorene Christ da drinnen möchte auftauen zu neuem Tag und neuer Sonne. Sie verbrennen im Fegefeuer und fragen, wann es sie umfangen wird. Im Schwarzen sehen sie die Schwärze nicht, mitten in Flammen nicht den Brand. Wo ist Satans wahres Reich, hier oder dort? Und wo ›dort‹, auf welchem Stern, der noch verfluchter wäre? Man stößt den Armen aus dem Wege, steht geschrieben, sämtlich verkriechen müssen sich die Bedrängten des Landes; aus Städten röcheln Sterbende, die Seele tödlich Verwundeter schreit, und doch stellt Gott das Unrecht nicht ein. Und es steht geschrieben, daß der Herr zu Satan sprach: Woher kommst du? Und Satan antwortete: Vom Herumziehen auf der Erde und vom Aufspüren auf der Erde.

Sie bat mich, ihr Absolution von ihren Sünden zu geben, und sie beichtete mir ihre Sünden. Aber nichts von dem, was ihr sündig war, erschien mir sündig. Ich sah die Ödnis und Verlassenheit; die öden Stuben sah ich, die schaurigen Wände, die Straßen bei der Nacht mit flackernden Laternen, die einsamen Menschen mit ihren Augen ohne Gnade, und des Wortes gedachte ich: Man bricht im Dunkel in die Häuser, bei Tage sperren sie sich ein und kennen nicht das Licht. Das sah ich, das dachte ich, und ich sprach sie frei von Schuld, auf mein Gewissen. Ich sprach sie frei und verhieß ihr das Paradies. Da lächelte sie mich an, bat mich um meine Hand und küßte sie, eh ich es hindern konnte. Das war gestern.«

Amadeus schwieg. »Das war gestern,« wiederholte er nach langem Sinnen, »und heute bin ich nicht hingegangen aus Furcht vor ihrem Sterben. Sie ist vielleicht schon tot.«

»Wenn Sie jetzt noch gehen wollen, ich bin bereit,« sagte Christian schüchtern. »Es ist nur eine Stunde Wegs, ich begleite Sie.«

»So gehen wir also,« erwiderte Voß aufatmend und erhob sich.

20

Eine Stunde später waren sie im Hof des Großbauern. Die Stalltür war offen. Knechte und Mägde standen davor. Ein alter Knecht hielt eine Laterne hoch im Arm, und alle schauten hinein in den Holzverschlag. Ihre Gesichter in dem bewegten und ungenügenden Licht zeigten eine verwunderte Andacht. Drinnen auf der Streu lag der Leichnam der Walpurga mit Wangen wie Rosen. Nichts in dem Antlitz erinnerte an den Tod, alles an einen friedlichen Schlaf.

Auf der Holzbank brannte in einem Leuchter eine Kerze. Sie war nah am Verlöschen.

Amadeus Voß schritt durch die Gruppe der Knechte und Mägde hindurch und kniete zu Füßen der Leiche nieder. Der alte Knecht, der die Laterne hielt, flüsterte etwas, da knieten auch die Knechte und Mägde auf den Boden und falteten die Hände.

Eine Kuh blökte laut, dann hörte man nur das Klingeln der Glocken am Hals der beunruhigten Rinder. Die Dunkelheit im Stall, das Antlitz der Toten, das wie ein gemaltes Bild war, die vom Licht der Laterne gelb beglühten Gesichter der Knienden mit ihren stumpfen Stirnen und hartgeschlossenen Lippen; das alles sah Christian mit aufgelockertem Gefühl.

Er war im Hof stehengeblieben, in der Finsternis.

Als Amadeus Voß wieder zu Christian hinausgetreten war, kam der Schreiner des Dorfs, um an der Toten das Maß für den Sarg zu nehmen. Sie begaben sich auf den Heimweg, ohne miteinander zu sprechen.

Mitten im Gehen hielt Christian plötzlich inne. Es war bei einem Wegweiser; er umklammerte den Pfahl mit beiden Händen, legte den Kopf zurück und blickte mit tiefer Gespanntheit in die ziehenden Nachtwolken. Da hörte er Amadeus Voß sagen: »Wärs möglich? Wärs möglich?«

Christian wandte ihm das Gesicht zu.

»Mir wird in Ihrer Nähe ganz eigen, Christian Wahnschaffe,« sagte Voß tonlos und gepreßt; dann murmelte er vor sich hin: »Wärs möglich? Könnte das Ungeheuerliche geschehen?«

Christian schwieg, und sie gingen weiter.

21

Crammon hatte Gäste. Nicht bei sich zu Hause, dort verboten sich gewisse Zusammenkünfte durch die respektable und unschuldige Nähe der beiden alten Fräuleins Aglaja und Konstantine von selbst. Es wäre kummervoll und eine nicht zu verwindende Enttäuschung für die guten Damen gewesen, die von der Tugendhaftigkeit ihres Gebieters und Beschützers so überzeugt waren wie von des Kaisers Majestät.

In früheren Jahren hatte es allerdings bisweilen geschienen, als wandle der Angebetete nicht immer auf einwandfreien Pfaden. Man hatte ein Auge zugedrückt. Jetzt aber, so gesetzt und sonor, wie er sich gab, wagte sich kein Zweifel mehr an ihn.

Crammon hatte seine Gäste in den Sonderraum eines vornehmen Hotels geladen, in welchem er bekannt und hoch geehrt war. Die Gesellschaft setzte sich zusammen aus einigen jungen Männern von Adel, gegen die er Verpflichtungen hatte, und, was den weiblichen Teil betraf, aus einem Vierteldutzend Schönheiten, gerade so unterhaltsam, so elegant und so willig, als es für den Zweck wünschenswert war. Crammon nannte sie seine Freundinnen, aber es war etwas Schläfriges und Verdrießliches in der Art, wie er sie behandelte; er gab ihnen einfach zu verstehen, daß er nur der geschäftliche Leiter der Partie und mit seinem Herzen ganz und gar nicht bei der Sache sei.

In der Tat war niemand zugegen, für den er nicht Gleichgültigkeit empfunden hätte. Am sympathischsten war ihm der alte Klavierspieler mit den langen grauen Locken, der immer die Augen schloß und träumerisch lächelte, wenn er ein melancholisches oder schmachtendes Stück vortrug, genau wie vor zwanzig Jahren, als Crammon noch ein Himmelstürmer gewesen war. Er steckte ihm Süßigkeiten und Zigaretten zu und klopfte ihm manchmal liebreich auf die Schulter.

Die Tafel bog sich unter der Last der Speisen und der Weine. Man streute Pfeffer in den Sekt, um den Durst zu steigern. Die Herren vergnügten sich beim Kirschenessen damit, daß sie die Kerne in die Halsausschnitte der Damen warfen, diesen wieder gelang immer besser der Versuch, das Gesetz der Erdanziehung zu umgehen; ihre reizenden Schuhe und in Seide und Spitzen raschelnden Beine waren an Orten zur Schau gestellt, wo man vordem ehrbar und vertikal gelebt hatte. Die beweglichste unter ihnen, eine beliebte Soubrette, erstieg die Plattform des Flügels, und begleitet von dem graugelockten Künstler schmetterte sie das Couplet der letzten Mode in den Raum.

Die jungen Leute sangen die wiederkehrende Endstrophe mit.

Crammon klatschte mit je zwei Fingern Beifall. »Es zwickt mich etwas,« sagte er leise in den Lärm hinein. Er stand auf und verließ das Zimmer.

Im Korridor lehnte einsam und etwas müde der Oberkellner Ferdinand an einem Spiegelrahmen. Eine zarte Vertraulichkeit von zwei Dezennien verband Crammon mit diesem Mann, der nie in seinem Leben indiskret gewesen war, so viele Geheimnisse er auch schon erlauscht hatte.

»Böse Zeiten, Ferdinand, die Welt liegt im argen,« sagte Crammon.

»Man muß es nehmen, wie es kommt, Herr von Crammon,« tröstete der Würdige und überreichte die Rechnung.

Crammon seufzte. Er gab Auftrag, den Herrschaften, falls sie nach ihm fragten, zu melden, daß er sich unpäßlich gefühlt habe und nach Hause gegangen sei.

»Es zwickt mich etwas,« sagte er, als er auf der Straße ging. Wieder einmal beschloß er zu reisen.

Er sehnte sich nach dem Freund. Ihm schien, er habe keinen Freund gehabt außer jenem, der ihn von sich gestoßen.

Er sehnte sich nach Ariel. Ihm schien, er habe nie ein Weib besessen, weil die seiner nicht geachtet, die ihm Inbegriff von Genius und Anmut war.

An der Treppe vor der Wohnungstür stand Fräulein Aglaja. Sie hatte ihn kommen gehört und war vor die Tür geeilt. Crammon erschrak, denn es war spät in der Nacht.

»Es ist eine Dame im Salon,« flüsterte Fräulein Aglaja; »seit acht Uhr abends sitzt sie da und wartet. Sie hat uns so flehentlich gebeten, bleiben zu dürfen, daß wir nicht das Herz hatten, sie wegzuschicken. Es ist eine noble Dame, ein liebes Gesicht –«

»Hat sie ihren Namen genannt?« fragte Crammon mit unheildrohenden Falten auf der Stirn.

»Das wohl nicht –«

»Leute, die meine Wohnung betreten, haben ihren Namen zu nennen,« brauste Crammon auf; »bin ich ein Bahnhof? Bin ich eine Wärmestube? Gehen Sie hinein und fragen Sie, wer sie ist. Ich bleibe indessen hier.«

Nach ein paar Minuten kam das Fräulein zurück und sagte in mitleidigem Ton: »Sie schläft. Sie ist im Sessel eingeschlafen. Sie können sie aber sehen; ich habe die Tür ein wenig offen gelassen.«

Auf den Fußspitzen schlich Crammon über den Flur und spähte in das erleuchtete Zimmer. Er erkannte die Schlafende sogleich. Es war Elise von Einsiedel. Sie schlummerte mit zurückgelehntem und zur Seite geneigtem Kopf. Ihr Gesicht war blaß, die Augen waren dunkel umrändert, der linke Arm hing schlaff herab.

In Hut und Mantel stand Crammon, düster blickend. »Unseliges Kind,« murmelte er.

Mit aller Vorsicht, deren er fähig war, schloß er die Tür, dann zog er Fräulein Aglaja zur Treppe hinaus und sagte: »Die Anwesenheit einer Dame verbietet mir selbstverständlich, in meinem Hause zu übernachten. Ein Bett für mich wird sich irgendwo finden. Ich hoffe, Sie billigen meinen Entschluß.«

Von soviel Sittenstrenge und Enthaltsamkeit hingerissen, sah ihn Fräulein Aglaja wortlos an. Crammon fuhr fort: »Morgen mit dem frühesten packen Sie meine Koffer und bringen sie mir um halb elf Uhr zum Ostendexpreß. Konstantine mag Sie begleiten, damit ich von euch beiden Abschied nehmen kann. Die Dame drinnen soll bleiben, solang es ihr gefällt. Bewirten Sie sie; erfüllen Sie ihr jeden Wunsch; sie hat Kummer und bedarf der Schonung. Wenn sie sich nach mir erkundigt, sagen Sie, ich sei wegen dringlicher Geschäfte abgereist.«

Hiermit ging er die Treppe hinunter. Bestürzt und wehmütig blickte ihm Fräulein Aglaja nach. »Gute Nacht, Aglaja,« rief er vom Hausflur aus noch einmal zurück. Dann fiel das Tor ins Schloß.

22

Es war in den letzten Tagen des April, als Christian eine Depesche Eva Sorels erhielt. Der Wortlaut war: Eva Sorel wird vom dritten bis zum zwanzigsten Mai im Hotel Adlon in Berlin sein und erwartet Christian Wahnschaffe dort mit Bestimmtheit.

Christian las die Zeilen mehrere Male. In seinem innern und in seinem äußern Leben hatte sich alles zu einem Wendepunkt vorbereitetet. Er wußte, daß dieser Ruf eine Entscheidung für ihn bedeutete, deren Art und Tragweite ihm jedoch unbekannt war.

Seit einigen Wochen war eine Unruhe in ihm, die in der Nacht zu stundenlanger Schlaflosigkeit wuchs. An manchen Tagen hatte er das Auto kommen lassen, um in eine der nahen Städte zu fahren. Wenn der Wagen auf halbem Wege war, befahl er dem Chauffeur, umzukehren.

Er war nach Waldleiningen gegangen und hatte seine Pferde geliebkost und mit seinen Hunden gespielt. Da hatte ihn das Gefühl eines Schülers überfallen, der sich durch lügenhafte Entschuldigungen Freiheit verschafft, und seine Lust an den Tieren war dahin gewesen. Seinen Lieblingshund, eine herrliche graue Dogge, umschlang er beim Abschied, und während sie einander in die Augen blickten, schien Christian, der entlaufene Schüler, sagen zu wollen: Ich muß erst meine Prüfung ablegen, worauf der Hund antwortete: Ich begreife, du mußt fort.

Auch Sir Denis Lays Vollblut, das sich wieder erholt hatte, sagte mit zärtlicher Drehung des überschlanken Halses: Ich begreife, du mußt fort.

Daß das Vollblut beim Rennen in Baden-Baden laufen sollte, war ausgemacht; der irische Jockei war voll Zuversicht. Aber am Tage, nachdem Christian Waldleiningen verlassen hatte, wurde ihm mitgeteilt, das Tier sei wieder anfällig geworden. Christian dachte: Sicher hab ich ihm mit meiner Liebe zu stark zugesetzt; es entbehrt nun die Hand, die ihm so schöngetan; wie einsam muß es sich fühlen ohne die Hand, die es liebte.

Mit Anbruch des Frühlings waren täglich Gäste aus den Städten nach Christiansruh gekommen. Doch Christian hatte selten jemand empfangen. Einen allein ertrug er schwer. Wenn es zwei waren, gaben sie einander Rede und Antwort und erleichterten ihm das Schweigen.

Eines Tages kamen Konrad von Westernach und Graf Prosper Madruzzi mit Grüßen von Crammon. Sie befanden sich auf einer Reise nach Holland. Christian lud sie zum Essen, war aber äußerst wortkarg. Konrad von Westernach sagte später in seiner derben Art zu Graf Prosper: »Was für ein wunderliches Lächeln der Mensch an sich hat; man weiß nicht, ist er ein bißchen albern oder macht er sich über einen lustig.«

»Es ist wahr,« bestätigte der Graf, »man weiß nie, wie man mit ihm dran ist.«

23

Christian hatte dem Diener Befehle wegen der Reise erteilt und war in die Treibhäuser gegangen, wo die Gärtner arbeiteten. Inzwischen war die Dämmerung eingebrochen. Tagsüber hatte es geregnet, jetzt tropften nur noch die Bäume. Das junge Grün hob sich leuchtend gegen die Abendröte ab; die Fenster des schönen Hauses waren in Gold getaucht.

»Herr Voß ist in der Bibliothek,« meldete der älteste Diener.

Christian hatte Amadeus Voß aufgefordert, er möge sich der Bibliothek nach seinem Gefallen bedienen, ohne Rücksicht, ob er selbst zu Hause war oder nicht. Die Dienstleute waren entsprechend unterrichtet. Voß hatte sich erboten, einen Katalog anzufertigen; bis jetzt hatte er keine Anstalten dazu getroffen; er stöberte bloß, und wenn ihn ein Buch interessierte, fing er an zu lesen und vergaß die Zeit.

Auch im Bibliotheksaal lag die Abendröte. Voß war gerade beschäftigt, eine Menge Bücher, fünfzig oder sechzig, die er aus den Regalen genommen, auf dem großen Eichentisch in Stößen aufzuschichten.

»Wozu tun Sie das, Amadeus?« fragte Christian zerstreut.

»Die möchte ich mit Ihrer Erlaubnis sämtlich verbrennen,« antwortete Amadeus Voß.

Christian wunderte sich. »Warum denn?« fragte er.

»Weil mich nach einem Autodafe gelüstet. Es ist nichtsnutziger und verworfener Kram, die Pest eitler und träger Gehirne. Spüren Sie nicht das Gift davon in der Atmosphäre?«

»Nein, ich spüre nichts,« erwiderte Christian, dessen Zerstreutheit zunahm, »aber verbrennen Sie sie nur, wenn es Ihnen Freude macht,« fügte er hinzu.

Amadeus Voß, der seit drei Uhr nachmittags in der Bibliothek war, hatte hier etwas Merkwürdiges erlebt. Beim Herumsuchen in den Regalen hatte er in einem von ihnen ein Paket zusammengebundener Briefe entdeckt; es war vermutlich durch Zufall hinter die Bücher geraten und dort vergessen worden. Er hatte ein paar Zeilen des zu oberst liegenden Briefes gelesen; aus den ersten Worten schon hauchte ihm die Glut einer Seele entgegen. Da hatte er sich nicht enthalten können, das Paket aufzuschnüren; er war mit den Briefen in einen Winkel geschlichen und hatte sie der Reihe nach mit fiebernden Blicken durchflogen.

Einige waren datiert; das Datum war zwei Jahre alt. Unterschrieben waren sie nur mit einem F. Eine solche Fülle der Liebe, der Hingebung, der Vergötterung, der Entselbstung lag in jedem Ausdruck, in jeder Wendung, in jedem Bild, ein so wilder und zugleich geistig duftender Strom von Zärtlichkeit, Schmerz, Glück und Sehnsucht, daß Amadeus Voß aus einer Schein- und Schattenwelt in eine wirkliche schlüpfte, in der doch alles wieder nur gedichtet und ihm hingestellt war als betrügerische Lockung.

Und diese unbekannte F., dieses beredte, glänzende, ergriffene und für ihn namenlose Wesen, wo war sie jetzt? Was hatte sie mit ihrer Liebe gemacht? Zwischen manchen Blättern lagen gepreßte Blumen; war die Hand schon verwelkt, die sie gepflückt? Und was hatte er aus dieser Liebe gemalt, der demütig Umworbene, der achtlose Verschwender? Dem damals Zwanzigjährigen war doch nur Zeitvertreib gewesen, was dies erfüllte Herz als Schicksal traf, und er hatte es zertreten und verbraucht, ein Reicher, der nicht zählt und rechnet.

Je weiter er las, je tiefer bohrte sich der Stachel in Amadeus' Brust. Die Telchinen bekamen Gewalt über ihn. Er wurde abwechselnd blaß und rot. Seine Finger zitterten; sein Gaumen vertrocknete; in seinem Kopf stach es wie mit Nadeln. Wäre Christian jetzt eingetreten, er hätte sich in schäumendem Haß auf ihn geworfen, um ihn zu würgen oder die Kehle zu durchbeißen. Hier war das Unerringbare, das ewig verschlossene Tor, vor das der Dämon ihn hingeschmettert.

Dumpf brütend saß er lange; dann, nach scheuem Umherblicken, steckte er die Briefe in seine Tasche. Und dann erwachte die Begierde, etwas zu zerstören, zu vernichten; er wählte Bücher als die Opfer dazu und wartete mit zurückgedrängter Erregung auf Christians Kommen.

24

Es ist fast lauter zeitgenössischer Schund,« sagte er trocken und wies auf die Bücher. »Geschichten wie aufgedröseltes Garn; verworren, ohne Anfang, ohne Ende. Liest man eine Seite, so kennt man tausend. Sittenschilderungen mit dem Behagen am Kleinen und Gemeinen. Die Gefühle wuchern wie Unkraut, und der Stil ist so lärmend, daß einem Hören und Sehen vergeht. Liebe, Liebe und wieder Liebe. Oder Elend, Elend und wieder Elend. Da sind auch Historien und Memoiren; der pure Klatsch. Gedichte; schale Reimereien von Leuten, die sich aufplustern. Eine Popularphilosophie; selbstgerechtes Geschwätz; ein überzeugter Pfaff ist mir lieber. Was soll das alles? Lesen ist gut; wenn der Geist mich aufnimmt, ist es gut, sich zu vergessen und zu verlieren. Aber der Ungeist hat keine Ehrlichkeit und keine Phantasie; er ist ein Dieb und ein Schwindler.«

»Verbrennen Sie sie nur,« wiederholte Christian und setzte sich abseits.

Amadeus Voß ging zu dem Marmorkamin, der so groß war, daß ein Mann bequem sein Lager darin aufschlagen konnte, und öffnete das geschmiedete Gitter. Dann trug er die Bücher Stapel um Stapel hinüber und warf sie auf die steinernen Platten. Als er alle hineingeworfen hatte, zündete er die Blätter eines Buches an und schaute mit gesenktem Kopf zu, wie sich die Flamme verbreitete.

»Sie wissen, Amadeus, daß ich Christiansruh verlasse,« wandte sich Christian an ihn. Es war jetzt völlig dunkel geworden.

Voß nickte.

»Ich weiß nicht, auf wie lange,« fuhr Christian fort, »es kann lange dauern, bis ich zurückkomme.«

Amadeus Voß schwieg.

»Was wollen Sie beginnen, Amadeus?« fragte Christian.

Voß zuckte die Achseln. Unwillkürlich drückte er die Hand an die Brust, dorthin, wo die Briefe der Unbekannten waren.

»Es ist eng und düster im Forsthaus,« sagte Christian. »Wollen Sie nicht in Christiansruh wohnen? Wenn Sie wünschen, ordne ich alles heute noch an.«

»Machen Sie mich nicht durch Almosen zum Bettler, Christian Wahnschaffe,« antwortete Voß. »Und wenn Sie mir das ganze Haus schenken, mit allen seinen Gärten und Wäldern, so bin ich eben um das Haus und die Gärten und Wälder ärmer.«

»Das versteh ich nicht,« sagte Christian.

Voß ging auf und ab. Der Teppich dämpfte seine starken Schritte.

»Sie sind viel zu leidenschaftlich, Amadeus,« sagte Christian.

Amadeus blieb vor einem in die Nische gebauten Pult stehen. Auf diesem lag die alte Bibel, die Christian gekauft. Sie war aufgeschlagen. Die Flamme von den brennenden Büchern loderte so hell, daß er die Worte lesen konnte. Er las eine Weile still, dann nahm er das Buch, ging zum Kamin, setzte sich Christian gegenüber und las laut:

»Freue dich, Jüngling, in deiner Jugend, und laß dein Herz guter Dinge sein und folge den Gelüsten deines Herzens und den Blicken deiner Augen. Aber wisse, daß dich Gott über dieses alles zu Gericht ziehen wird.«

Die Stimme, sonst fast ohne Hebung, tönte bei dem Worte Gott wie eine Glocke.

»Gedenke an Gott in deiner Jugend, ehe kommen die Tage des Unglücks und die Jahre, von denen du sagen wirst: sie gefallen mir nicht. Eh verdunkeln Sonne und Tageslicht und Mond und Sterne und wiederkehren die Wolken nach dem Regen. Eh die Hüter des Hauses zittern, und sich krümmen die Stärksten, und die Mühlen stillstehen, weil es menschenleer geworden, und es denen dunkel wird, die durch die Fenster sehen. Eh verschlossen bleiben die Straßentüren und man erwacht beim Laut eines Vogels und verstummen die Töchter des Gesangs. Eh verachtet wird der Mandelbaum, und lästig wird die Zikade, und die Kapern dahin sind, und der Mensch in sein ewiges Haus gehet. Eh der Silberstrick reißt, und die goldene Ölflasche verrinnt, und der Eimer am Born zerbrochen und das Rad am Brunnen zertrümmert wird . . .«

Er hielt inne. Christian, der kaum zuzuhören schien, hatte sich erhoben und war dicht an das Gitter des Kamins getreten. Nun kauerte er sich mit untergeschlagenen Beinen nieder und schaute mit einem Ausdruck heiteren Staunens in die Flammen.

»Schön ist das Feuer,« sagte er leise.

Amadeus Voß starrte ihn sprachlos an. Plötzlich sagte er: »Lassen Sie mich mit Ihnen gehen, Christian Wahnschaffe.«

Christian wandte den Blick nicht vom Feuer.

»Lassen Sie mich mit Ihnen gehen,« sagte Voß dringlicher; »es ist möglich, daß Sie mich brauchen, gewiß aber ist, daß ich ohne Sie verloren bin. In mir ist die Finsternis, in mir ist der Teufel. Sie allein können ihn bannen. Warum es so ist, weiß ich nicht; daß es so ist, weiß ich. Lassen Sie mich mit Ihnen gehen.«

Christian erwiderte: »Gut, Amadeus, Sie sollen bei mir bleiben. Ich will einen haben, der bei mir bleibt.«

Amadeus erbleichte, und seine Lippen bebten.

Christian sagte: »Schön ist das Feuer.«

»Es frißt das Unreine und ist rein,« murmelte Amadeus Voß.


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