Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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16

In einer Nacht, als sie auf der Straße gingen, sprach Becker von Eva Sorel. »Sie hat eine außerordentliche Situation erlangt,« sagte er. »Einige Leute behaupten, sie regiere Rußland und beeinflusse entscheidend die europäische Diplomatie. Sie entfaltet beispiellosen Luxus; der Großfürst hat ihr das berühmte Palais des Herzogs Biron geschenkt; unheilvolles Andenken, der Mann und das Haus. Sie empfängt die Minister und die fremden Gesandten wie eine gekrönte Herrscherin. In Paris und London rechnet man mit ihr; man verhandelt mit ihr, zieht sie zu Rat. Man wird noch viel von ihr hören. Sie ist ehrgeizig über jeden Begriff.«

»Daß sie hoch steigen würde, war vorauszusehen,« bemerkte Christian leise. Von seinen Angelegenheiten, von dem, was ihn zu Becker geführt, zu sprechen, drängte es ihn mehr und mehr. Aber er fand nicht das Wort.

Becker fuhr fort: »Ihre Seele mußte das Maß verlieren, von dem ihr Körper bis zur Grausamkeit tyrannisiert wird. Es ist ein natürlicher Ausgleich. Sie will Macht, Einblick, Aufdeckung, Mitwisserschaft. Sie spielt mit Menschenschicksalen, mit Völkerschicksalen. Einst sagte sie mir: Die ganze Welt ist nur ein einziges Herz. Nun, man kann dieses Herz, die ganze Menschheit auch in sich zerstören. Der Ehrgeiz ist nur eine andre Form der Verzweiflung; sie muß mit ihm an die Grenze gehen, an die äußerste Grenze. Dort werde ich dann sein, dort werden viele sein, die den Kreis nach der entgegengesetzten Seite zurückgelegt haben, und wir werden uns die Hände reichen.«

Sie waren am Ufer des Sees; er knöpfte den Mantel zu und schlug den Kragen auf. »Ich sah sie in Paris über die Galerie eines alten Hauses schreiten,« flüsterte er; »in jeder Hand einen Kandelaber, an jedem Kandelaber zwei brennende Kerzen. Die Flammen rauchten braun; ein weißer Schleier flog ihr über die Schulter; ich hatte ein Gefühl der Leichtigkeit wie nie zuvor. Ich sah sie, als sie noch im Sapajou auftrat, hinter der Bühne auf der Erde liegen und mit unbeschreiblicher Aufmerksamkeit eine Spinne beobachten, die zwischen den Fugen zweier Bretter ein kompliziertes Netz spann; sie hob den Arm und befahl mir, stillzustehen, und so lag sie und sah der Spinne zu. Da wußte ich, was sie von der Spinne lernte und was für eine Kraft der Hingabe in ihr war. Ohne daß ich es recht spürte, zog sie mich in ihren brennenden Ring; der unstillbare Durst in ihr nach Gebild und Werk, nach Enthüllung und immer neuem Gesicht belehrte mich, den sie ihren Lehrer hieß. Ja, die Welt ist ein einziges Herz, und wir dienen alle einem einzigen Gott. Ich bin zu ihm verurteilt und bin zu mir verurteilt.«

Wie könnt ichs ihm nur sagen? dachte Christian unruhig. Er fand nicht das Wort.

»Ich stand neulich einmal in einer Kapelle,« erzählte Becker, »in die Betrachtung eines wundertätigen Muttergottesbildes versunken und dachte über den einfachen Glauben des Volkes nach. Ein paar kranke Frauen, Männer und Greise lagen auf den Knien, schlugen das Kreuz und beugten sich bis zur Erde. Ich vertiefte mich in die Züge des heiligen Bildes, und allmählich fing das Geheimnis seiner Kraft an, mir klar zu werden. Das war kein bloßes Stück Holz, kein bloßes Gemälde. Viele Jahrhunderte hindurch hatte das Bild die Ströme leidenschaftlicher Anbetung und Verehrung, die aus den Herzen der Mühseligen und Beladenen aufstiegen, in sich hineingezogen; es mußte sich erfüllt haben mit der Kraft, die von ihm auf die Gläubigen überging und sich in ihm wiederspiegelte. Es war zu einem lebendigen Organ, zu einem Berührungspunkt zwischen den Menschen und Gott geworden. Von diesem Gedanken ergriffen, schaute ich die Greise, die Frauen, die Kinder wieder an, wie sie im Staub knieten, ich sah die Züge des Bildes sich mitleidig beleben, und da kniete ich ebenfalls nieder und betete an.«

Christian schwieg. Dergleichen mitzufühlen, war ihm nicht gegeben. Aber die Sprache Beckers, der ekstatische Ausdruck, der große, glühende Blick ließen ihn nicht aus dem Bann, und in der Erregung, die sich seiner bemächtigte, erschien ihm sein Vorhaben als durchführbar.

In einem unwirtlichen Hotelzimmer allein, überraschte er sich, ruhlos auf und ab gehend, bei einem inneren Zwiegespräch mit Iwan Becker, und er entwickelte dabei eine Beredsamkeit, die ihm sonst, Aug in Auge gegen Menschen, versagt war.

»Hören Sie mich an. Vielleicht können Sie es begreifen. Ich besitze an vierzehn Millionen. Und das ist nicht alles. Es strömt immerfort frisches Geld hinzu. Täglich, stündlich strömt Geld herzu, und ich kann nichts dagegen tun. Es ist nicht allein zweckloses Geld, sondern es ist auch hinderliches Geld. Es ist mir überall im Weg. Alles, was ich unternehme, bekommt ein schiefes Licht durch das Geld. Es ist nicht wie etwas, was mir gehört, sondern wie etwas, was ich schuldig bin, und jeder Mensch, mit dem ich rede, erklärt mir auf irgendeine Weise, daß ich es schuldig bin, ihm oder einem andern oder allen zusammen. Begreifen Sie das?«

Christian hatte das Gefühl, in einem freundlichen, ungezwungen überzeugenden Ton zu dem Iwan Becker seiner Einbildung zu sprechen, und es schien ihm, daß Iwan Becker durchaus billige und begreife, was er sagte. Er öffnete das Fenster und gewahrte Sterne.

»Teil ichs aus, so richt ich Unheil an,« fuhr er fort und ging wieder umher, ohne doch einen Laut von sich zu geben; »das hat sich schon gezeigt. Der Grund liegt wahrscheinlich in mir. Ich bin der Mensch nicht, der Gutes oder Nützliches damit stiften kann. Was ist denn gut oder nützlich? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was für mich angenehm oder unangenehm ist. Es ist unangenehm, daß ich auf Schritt und Tritt von den Leuten daran erinnert werde: du hast ja die Millionen hinter dir, kannst jeden Tag Schluß machen, wenn du es satt hast, und nach Hause gehen. Deshalb bleiben mir die Sachen nicht in der Hand; deshalb ist kein fester Boden unter mir; deshalb kann ich nicht ganz so leben, wie ich leben will; deshalb kann ich an mir selbst nicht froh werden. Nehmen Sie mir vorläufig die Millionen ab, Iwan Michailowitsch, Sie können damit anfangen, was Sie wollen. Ist es nötig, so gehen wir zu einem Notar und lassen eine Urkunde anfertigen. Teilen Sie sie aus, wenn Sie wollen, speisen Sie Hungrige, helfen Sie Notleidenden, ich kann es nicht, mir ist es zuwider, ich will es los sein. Lassen Sie Bücher drucken, bauen Sie Häuser für die Armen, vergraben Sie es, verschwenden Sie es, es ist mir gleich, ich will es los sein. Bei mir ist es doch nur so, daß ich ein Maul stopfe, das dann die Zähne nach mir bleckt.«

Wie er in dieser Art in seinem Innern redete, erheiterten sich seine Züge. Die glatte Stirn, die tiefblauen Augen, die großflächigen, etwas blassen Wangen, die frischen Lippen mit der glattrasierten Haut ringsum, alles war von Heiterkeit übergossen.

Es dünkte ihm möglich, daß er auch zu Becker selbst, wenn schon nicht genau so, doch ähnlich sprechen könne, wenn er am andern Tag zu ihm ging.

17

Man kam durch einen kleinen Vorplatz in ein dürftig möbliertes Zimmer. In dem Vorplatz hielten sich einige junge Leute auf. Einer wechselte mit Becker ein paar Worte, dann gingen sie fort.

»Es ist meine Schutzgarde,« sagte Becker mit schwachem Lächeln; »aber sie mißtrauen mir wie alle andern. Es ist ihnen befohlen worden, mich nicht aus den Augen zu verlieren. Haben Sie nicht bemerkt, daß man uns auch auf der Gasse beständig gefolgt ist?«

Christian verneinte.

»Als jenes unglückliche Geschöpf in Lausanne den Revolver auf mich richtete,« fuhr Becker fröstelnd fort, »riefen mir ihre Lippen das Wort Verräter zu. Ich sah in die schwarze Mündung und erwartete den Tod. Sie traf mich nicht, aber seit diesem Augenblick fürchte ich mich vor dem Tod. Am Abend kamen viele meiner Freunde zu mir und beschworen mich, ich solle mich rechtfertigen. Ich erwiderte ihnen: Wenn ich euch denn als Verräter gelten soll, so nehmt den Begriff in seiner ganzen Furchtbarkeit, in seiner ganzen Hölle. Sie verstanden mich nicht. Es ist das Geheiß an mich ergangen, daß ich mich zerstören soll, auslöschen und zerstören. Den Scheiterhaufen bauen und mich darauf verbrennen. Mein Leiden ausdehnen, daß es alle ergreift, die in meine Nähe kommen. Vergessen, was ich getan; auf Hoffnung verzichten; niedrig werden, gemieden werden, ausgestoßen sein, Grundsätze verleugnen, Fesseln sprengen, sich beugen vor dem bösen Prinzip, Schmerz ertragen, Schmerz verursachen, den Boden umpflügen und zerreißen, wenn auch herrliche Saat verdirbt. Verräter: das ist nichts. Ich irre umher und hungere nach mir selbst. Ich entferne mich von mir, schreie nach mir, bin durch und durch Opfer. Es ist unvergleichlich mehr Schmerz in der Welt seitdem; die Seelen steigen zum Urquell nieder, um sich mit den Verdammten zu verbrüdern.«

Er preßte die Hände ineinander und sah aus wie ein Verrückter. »Mein Körper sucht die Erde, die Tiefe, die Befleckung, die Nacht,« begann er wieder; »das Innere in mir öffnet sich wie etwas Wundes; ich spüre Verstrickung, Schicksalswucht, Zeitangst; ich bete um Gebete; ich bin ein Schemen in dem Geisterzug jammernder Kreaturen; der Schmerz, der die Atmosphäre füllt, zermalmt mich; mea culpa, mea maxima culpa!«

Die Empfindung des Peinlichen wuchs zur Beklommenheit in Christian. Er schaute bloß.

Auf einmal erschallte mehrmaliges Pochen an der Vorplatztür. Becker fuhr zusammen und horchte auf. Das Pochen wiederholte sich heftiger und rascher.

»Also doch,« murmelte Becker bestürzt; »ich muß fort; verzeihen Sie, ich muß sogleich fort. Man wartet auf mich im Auto. Bleiben Sie noch ein paar Minuten hier, ich bitte Sie.« Er griff nach einer Reisetasche, die auf dem Bett stand, sah sich mit irren Blicken um, preßte die verkrüppelte Rechte an seinen Rock und murmelte hastig: »Leihen Sie mir fünfhundert Franken. Ich habe mittag mein letztes Goldstück ausgegeben. Zürnen Sie mir nicht, ich bin in schrecklicher Eile.«

Christian zog mechanisch die Brieftasche heraus und reichte Becker fünf Scheine. Becker stammelte einen Dank, ein Lebewohl und stürzte hinaus.

In einem Zustand der Betäubung verließ Christian eine Viertelstunde später das Haus. Er irrte lang in der Landschaft über der Stadt herum, auf den Berghöhen; mit dem Nachtzug kehrte er nach Berlin zurück.

Während der ganzen Dauer der vielstündigen Fahrt fühlte er sich körperlich elend.

18

Er fand in seiner Wohnung Bettelbriefe vor; einen von seinem früheren Diener; einen von einem Verein für Obdachlose; einen von einem Musiker, den er in Frankfurt flüchtig gekannt.

Es war ein Bankausweis da mit dem Ersuchen, ein beiliegendes Dokument mit seiner Unterschrift zu versehen.

Am nächsten Tag verlangte Amadeus Voß sechstausend Mark, die Witwe Engelschall, unter lautem Jammern, daß man ihr Mobiliar pfänden werde, wenn sie einen Wechsel nicht einlösen könne, dreitausend.

Er gab und gab, und es widerte ihn vor der Gabe. Im Hörsaal kamen sie, die Fremdesten, Gleichgültigsten, im Speisehaus, wo immer er sich sehen ließ, sprachen von ihren Bedrängnissen, waren verlegen oder unverschämt, baten oder forderten.

Er gab und gab; sah kein Ende, keine Rettung, fühlte die Schwere von Gewichten auf sich, gab und gab.

In allen Augen war die Erwartung; er kleidete sich schlechter; er schränkte seine Bedürfnisse aufs äußerste ein; vergeblich, das Geld wälzte sich hinter ihm her, rollende Lava, und verbrannte alles, was er anrührte. Er gab und gab, und sie forderten und forderten.

Da schrieb er an seinen Vater. »Nimm das Geld von mir,« schrieb er. Er war sich der Sonderbarkeit und Neuartigkeit seines Begehrens bewußt, denn er stattete es mit einer Reihe klar überlegter Gründe und Überredungsformeln aus. »Stelle dir vor, ich sei ausgewandert und verschollen; oder ich lebte irgendwo unter einem andern Namen; oder es wäre, durch meine oder deine Schuld, zum endgültigen Bruch zwischen uns gekommen, du hättest mich auf Pflichtteil gesetzt, der Stolz verbiete mir, auch davon Gebrauch zu machen, ich wollte auf eignen Füßen stehen und mich von meiner Hände Arbeit ernähren. Stelle dir vor, ich hätte alles vertan und die Kapitalien, die ich noch zu erwarten habe, wären auf Jahre hinaus mit Beschlag belegt. Oder stelle dir vor, du seist selbst verarmt und wärst gezwungen, mir die Mittel zu entziehen. Ich will ohne die Mittel leben. Es macht mir keine Freude mehr, mit den Mitteln zu leben. Ich glaube, man kann das keinem erklären, der die Mittel noch hat und nie ohne sie gewesen ist. Erweise mir den Gefallen und verfüge erstens über die Summen, die ich auf der Bank liegen habe, zweitens über die, die mir nach der bisher üblichen Ordnung zugeflossen sind. Alles ist ja dein unbestreitbares Eigentum. Du hast mir bei unserm vorjährigen Gespräch sehr deutlich zu verstehen gegeben, daß ich nur von der Frucht deiner Arbeit zehre.«

Dann kam der Vorschlag, auf den er bereits in dem auserdachten und nicht verwirklichten Gespräch mit Iwan Becker angespielt. »Widerstrebt es dir, eine persönliche oder geschäftliche Nutznießung aus dem zu ziehen, was ich zurückerstatte und zurückweise, so laß Waisenhäuser dafür bauen, Findelanstalten, Spitäler, Invalidenheime, Bibliotheken; es gibt ja so viele Notleidende, und man kann ihr Elend lindern. Ich bin dazu nicht imstande; mich interessiert es nicht; es ist mir sogar ein unangenehmer Gedanke. Daß hierin ein Mangel meines Charakters zutage tritt, leugne ich nicht, und falls du dich zu einer derartigen Verwendung entschließen solltest, tu es nicht in meinem Namen.«

Zum Schluß hieß es: »Ich weiß nicht, ob du Wert darauf legst, daß ich mit freundschaftlichem Gefühl deiner gedenke. Vielleicht hast du mich innerlich schon verworfen und dich von mir losgesagt. Soll noch ein Band fortbestehen, so kann es nur sein, wenn du mir in dieser, einerseits so schwierigen, andrerseits so einfachen Sache deine Hilfe nicht verweigerst.«

Der Brief blieb ohne Antwort, aber es kam einige Tage, nachdem er abgeschickt war, der Pastor Werner zu Christian, ein Freund der Familie Wahnschaffe. Er kam im Auftrag des Geheimrat, wie auch aus eignem Trieb. Christian kannte ihn seit seinen Kindertagen.

19

Des Pastors aufmerksamer Blick musterte den Raum, die ärmlichen, häßlichen Möbel, die mit rührseligen Bildern bedruckten Rollgardinen an den Fenstern, die kahlen getünchten Wände, die trübe kleine Lampe, die rissigen Dielenbretter, das abgewetzte Leder des Sofas mit den abgewetzten Porzellannägeln, den Schrank, dessen Tür einen klaffenden Riß zeigte und auf dem eine Gipsfigur stand. Eine stumme, flammende Verwunderung malte sich in seinem Gesicht.

Die Gipsfigur, Garibaldi im Kalabreser, hatte Christian unlängst einem herumziehenden italienischen Händler abgekauft.

»Ich habe Ihnen mitzuteilen, daß Ihr Herr Vater selbstverständlich bereit ist, Ihren Wunsch zu erfüllen,« sagte Pastor Werner. »Etwas andres bleibt ihm ja kaum übrig. Daß er außerdem in Sorge um Sie schwebt und Ihre Handlungsweise vollkommen unbegreiflich findet, brauche ich Ihnen nicht zu verhehlen.«

Ein wenig ungeduldig antwortete Christian: »Schon vor Monaten habe ich ausdrücklich versichert, daß kein Anlaß zur Sorge ist, nicht der mindeste.«

»Nach Ihrem nunmehr kundgegebenen Vorhaben erstreckt sich eine naheliegende Beängstigung nichtsdestoweniger auf Ihre Existenzfrage,« warf Pastor Werner sanft ein. »Haben Sie denn einen Beruf ergriffen, der Sie hinlänglich sicherstellt?

Christian erwiderte, er bereite sich für einen solchen Beruf vor, das sei ja seinem Vater bekannt; ob er Talent dafür habe und sein Auskommen finden würde, könne er freilich nicht sagen.

»Und so lange Sie das Auskommen nicht finden, wovon wollen Sie sich ernähren?« fragte der Pastor. »Ich kann Ihnen nur die Worte wiederholen, die mir Ihr Vater bei unsrer letzten Unterredung zurief: Will er betteln? Mildtätige Gaben in Anspruch nehmen? Hungern? Sich dem Zufall anvertrauen und schlechten Freunden? Schleichwege gehen? Zu Unerlaubtem greifen? Und zuletzt doch als reuiger Narr zurückverlangen nach dem, was er von sich geworfen hat? Ich habe Ihren Vater erinnerlichermaßen nie in solcher Verfassung gesehen und nie Reden von solcher Leidenschaftlichkeit von ihm gehört.«

»Mein Vater mag sich beruhigen,« erwiderte Christian; »nichts von dem, was er fürchtet, wird geschehen. Auch nichts von dem, was er möglicherweise hofft. das Zurückverlangen nämlich. Daran ist so wenig zu denken, wie daß der Vogel wieder zum Ei wird oder das Feuer zum Holzscheit.«

»Hatten Sie denn von vornherein im Sinn, sich aller pekuniären Stützen vollständig zu berauben?« forschte Pastor Werner vorsichtig.

»Nein,« erwiderte Christian zögernd, »das wohl nicht. Ich bin dem nicht gewachsen; jetzt noch nicht. Man muß das erst lernen. Es ist schwer; etwas so Schweres muß man lernen. Das Leben in der Großstadt würde zu viel Fatales und Störendes mit sich bringen. Auch habe ich gewisse Verbindlichkeiten übernommen. Es gibt einige Menschen, die in einer bestimmten Weise auf mich gerechnet haben, ich weiß nicht, wie weit sie imstande sind, mit mir zu gehen. Ich habe ja überhaupt kein Programm; was sollt ich denn mit einem Programm anfangen? Es handelt sich darum, daß ich endlich einmal in eine klare und vernünftige Situation komme und die dummen Quälereien los bin. Ich will mir den Überfluß vom Halse schaffen; Überfluß ist, was ich nicht ganz unbedingt und nach strenger Prüfung für mich und jene paar Menschen zum Leben brauche. Jedes Brauchen aber läßt sich meiner Meinung nach vermindern, und so lange vermindern, bis aus dem, was man entbehrt, ein Gewinn wird.«

»Versteh ich Sie also recht,« sagte der Pastor, »so ist Ihre Absicht, einen Teil Ihres Vermögens zur Sicherung gegen die nackte Notdurft zu behalten?«

Christian setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hand. »Ja,« sagte er leise, »ja. Aber das ist eben der Punkt, über den ich nicht ins reine komme. Ich kann nicht ergründen, wo da die Grenze zwischen Recht und Willkür liegt. Ich war leider an Verhältnisse gewöhnt, die mich mit der Zeit unfähig gemacht haben, diese neuen Umstände praktisch zu beurteilen. Es fehlt mir der Maßstab für das, was entbehrlich und was notwendig ist, mehr gegen die andern als gegen mich. Sie haben mich richtig verstanden, Herr Pastor; ich möchte einen Teil behalten, aber nur einen sehr geringen Teil. Mit mir selber um eine Ziffer feilschen, das mag ich nicht. Sie hat ohnehin etwas Lächerliches und Armseliges, die ganze Geldfrage, und wird von dem eigentlich Wichtigen nur so nachgeschleift. Ein Kapital festlegen und die Zinsen abschöpfen, wären sie auch noch so klein, das ist mir unleidlich zu denken; da ist man schon wieder ein Rentner, schon wieder in der gepolsterten Welt. Aber was sonst? Sie sind ein erfahrener Mann, Herr Pastor; raten Sie mir.«

Der Pastor sann. Bisweilen schaute er Christian forschend an, dann ließ er die Augen wieder sinken und sann. »Ich bin ziemlich betroffen von Ihren Worten,« gestand er endlich. »Ich muß sagen, daß mich vieles daran überrascht, ja fast alles. Mich dünkt, ich gewinne jetzt einigen Einblick. Sie fordern Rat von mir. Nun ja.« Er sann wieder, heftete wieder einen Blick auf Christian: »Sie verzichten demnach auf Ihr Vermögen; Sie verzichten auf die jährlichen Einkünfte, die Ihnen die Familie, die Firma bisher ausbezahlt hat. Schön. Man wird diesen Verzicht anerkennen. Daß Sie niemals wieder die Hand danach ausstrecken werden, will ich gern glauben; die Art, wie Sie sich binden, ist verpflichtender als ein feierliches Gelöbnis. Sie haben mit der früheren Existenz abgeschlossen. Man wird dies auf der andern Seite drüben respektieren, ohne allen Zweifel. Ich verstehe die innere Pein, die Ihnen die Frage verursacht, welchen Spielraum Sie sich für Ihren persönlichen, leiblichen Bedarf gewähren sollen, für die Zeit des Anfangs, die bitter sein wird und voll Überwindungen. Ich verstehe es; es ist ein Problem der Schamhaftigkeit; es setzt sich in Widerspruch zu Ihrer Gebärde, zu Ihrem Gefühl. Ich verstehe es.«

Christian nickte. Der Pastor fuhr mit etwas erhobener Stimme fort: »Hören Sie mich an. Was ich vorzubringen habe, ist heikel. Es ist beinahe wie ein Spiel, beinah wie eine List. Ich bin, wie Sie vielleicht wissen, Seelsorger des Zuchthauses in Hanau. Ich betreue verlorene und von der Gesellschaft verstoßene Menschen. Ich beschäftige mich mit ihnen, ich kenne die Triebfedern ihrer Handlungen, ich kenne die Finsternis ihrer Herzen, ich kenne ihre eingefrorene Sehnsucht. Nach meiner Erfahrung darf ich behaupten, es gibt keinen einzigen unter ihnen, der nicht, in einem höheren Sinn, zu retten ist, keinen einzigen, den das einfache ernste erfüllte Wort nicht irgendwo in seinem Innern trifft. Dann wacht der göttliche Funke auf, und das ist schön. Ich diene dieser Aufgabe mit meiner ganzen Kraft, und bei einzelnen ist die Besserung und Umwandlung so weit gediehen, daß sie wie Neugeschaffene in das bürgerliche Leben zurückgekehrt sind und jeder Versuchung tapfer standhielten. Freilich hängt der Erfolg häufig davon ab, wie man sie vor der Not behüten kann. Hier fehlt fast alles. Von Gutmeinenden wird manche Hilfe geleistet; auch der Staat steuert bei, wennschon in seiner kargen Manier; es ist zu wenig. Wie wäre es nun, wenn Sie von dem Vermögen, das Sie Ihrem Vater überweisen, es ist ja sehr bedeutend, ein Kapital ablösen würden, deren Zinsen für entlassene Sträflinge verwendet werden? Zucken Sie nicht zurück; hören Sie mich zu Ende. Dieses Kapital bestünde in sicheren Papieren, sagen wir in der Höhe von dreimalhunderttausend Mark; das genügt; das sind annähernd fünfzehntausend Mark Interessen, das genügt, damit läßt sich herrlich viel ausrichten. Die Papiere anzutasten und zu veräußern, seitab vom Zinsendienst und ohne Verklausulierung, ist Ihnen allein erlaubt. Sie nehmen davon monatlich oder vierteljährlich eine von Ihnen selbst zu bestimmende Summe, von der Sie Ihre Lebensbedürfnisse bestreiten. Die Zinsen zu beziehen und in nachzuweisender Art zu verwenden, steht nur mir und meinen Amtsnachfolgern zu. Das alles müßte rechtskräftig festgelegt werden. Der Zweck, leicht einzusehen, ist ein doppelter. Erstens die Werktätigkeit, das große gute Schaffen; dann die natürliche Hemmung für Sie: jede überflüssige und unbesonnene Ausgabe gefährdet ein Schicksal; jede Enthaltsamkeit, die Sie üben, setzt sich um in Glück, in ein Stückchen Menschenglück. Das gibt den Richtungspunkt, den Damm, die sittliche Linie. Es ist ein selbsttätiger moralischer Mechanismus sozusagen. Bei der von Ihnen erstrebten Unabhängigkeit handelt es sich um zwei, drei Jahre, schätze ich; bis dahin können Sie bei der Lebenshaltung, die Sie sich vorgesetzt haben, wohl kaum mehr als ein Zehntel des Kapitals verbraucht haben. Auch das ist natürlich wieder ein Problem für Sie, aber eines, dünkt mich, das Sie locken müßte, sich daran zu erproben. Sie brauchen nicht an das humane Ziel zu denken. Ich weiß ja jetzt, Sie haben es auch in dem Brief an Ihren Vater ausgedrückt, daß Sie derlei aus mir unzugänglichen Gründen abgeneigt sind. Ich könnte Ihnen aber Dinge mitteilen und von Fügungen erzählen, die Sie erkennen ließen, wie da die feinsten Blutfasern des Menschengeschlechts Gift einsaugen, und wie heilig dringend es ist, dies Seelenerdreich umzupflügen. Könnten Sie nur einmal einen der Genesenen, der Freiheit und Hoffnung Wiedergeschenkten von Angesicht zu Angesicht sehen, der Augenschein belehrt und befeuert ja wundersam, so wären Sie auch in Ihrem Gemüt für meine Sache gewonnen.«

»Sie überschätzen mich, Herr Pastor,« sagte Christian mit seinem unbestimmten Lächeln; »es ist immer dasselbe: alle überschätzen mich in dieser Beziehung, alle beurteilen mich falsch. Aber denken Sie nicht weiter darüber nach und fragen Sie nicht, es spielt ja keine Rolle.«

»Und was haben Sie auf meinen Vorschlag zu antworten?«

Christian ließ den Kopf sinken. Er sagte: »Sie legen mir da eine hübsche Schlinge. Lassen Sie mich das einmal überdenken. Ich zehre also gewissermaßen von meiner eignen Wohltat. Was für ein abscheuliches Wort das ist: Wohltat. Indem ich davon zehre, verringere ich sie natürlich. Und Sie sind der Meinung, daß das erzieherisch auf mich wirken und mir mein Vorhaben erleichtern müßte –?«

»Ja, so ungefähr dachte ich, da Sie doch nun diesen Weg eingeschlagen haben.«

»Wenn ich Sie dann enttäusche, haben Sie auf jeden Fall Ihre Bescheidenheit zu bereuen,« fuhr Christian mit einem eigentümlichen Ausdruck von Spott fort; »Sie könnten ja das Doppelte, das Dreifache verlangen, und vielleicht würde ich mich nicht weigern, ganz sicher nicht; denn ob die Millionen, die ich nicht haben will, in diese oder jene Tasche fließen, kann mir ziemlich gleichgültig sein. Warum tun Sie das nicht, da Sie doch dann weniger riskieren würden?«

»Stellen Sie die Frage aus Mißtrauen gegen meine Sache?«

»Ich weiß es nicht; aber antworten Sie mir.«

»Ich habe Ihnen ja meine Berechnung auseinandergesetzt. Was ich fordern darf und kann, ergibt sich aus dem Einblick in die Verhältnisse. Auf der einen Seite ist die Not und die Dringlichkeit zu erwägen, auf der andern Seite gebieten mir Rücksichten, eben diese Linie zu beobachten und die Gelegenheit nicht in einer Weise auszunützen, die mir von Böswilligen oder Ränkesüchtigen zum Vorwurf gemacht werden könnte.«

»Und Sie meinen,« fuhr Christian advokatisch zäh zu fragen fort, »daß es mir etwas bedeutet, daß es mich locken soll, wenn Sie irgendeinem Sträfling, den Sie für gebessert halten, am Ende seiner Strafzeit fünfzig oder hundert oder zweihundert Mark in die Hand drücken, damit er sein Leben von vorne beginnt? Das bedeutet mir nicht das mindeste. Ich kenne ja die Leute gar nicht. Ich weiß nichts von ihnen, weiß nicht, wie sie aussehen, was sie tun, wie sie reden, wie sie riechen, was sie mit dem Geld anfangen, ob es ihnen überhaupt zu etwas dient; das weiß ich alles nicht, und deshalb bedeutet es mir nichts.«

»Nun ja,« gab Pastor Werner ein wenig bestürzt zu, »nun ja; aber ich kenne sie, ich.«

Christian lächelte wieder. »Wir beide sind sehr verschiedene Menschen, Herr Pastor,« sagte er; »wir denken verschieden und handeln verschieden.« Plötzlich blickte er empor. »Alle diese Einwände verfolgen durchaus nicht den Zweck, Ihnen Schwierigkeiten zu bereiten. Im Gegenteil. Sie bitten mich um Hilfe, Sie persönlich, und ich helfe Ihnen, Ihnen persönlich. Dafür leisten Sie mir den Dienst, daß Sie meinen Sparmeister machen und mir ein Exempel aufstellen, an dem ich lernen kann. Ich hoffe, Sie werden keinen Grund zur Klage haben.«

»So sind Sie einverstanden, und ich darf die nötigen Formalitäten in die Wege leiten?« fragte der Pastor, halb noch zweifelnd, halb erfreut.

Christian nickte. »Tun Sie es nur,« entgegnete er; »ordnen Sie es so, wie es Ihnen am besten scheint. Es ist ja alles viel zu gering.«

»Was meinen Sie damit: viel zu gering?« forschte der Pastor, so wie einst Eva unter Lachen und Betroffenheit nach dem Sinn derselben Worte geforscht hatte; »schon vorhin äußerten Sie, die Geldfrage werde von dem eigentlich Wichtigen nur so nachgeschleift. Was ist das eigentlich Wichtige in Ihren Augen?« ^

»Ich kann Ihnen das nicht erklären, Herr Pastor. Ich empfinde nur, daß es zu gering ist. Der Anfang ist es, weiter nichts, und alle überschätzen es so maßlos, alle nehmen es so schwer. Das Schwere kommt erst. Das Schwere ist: das, was man weggegeben hat, wieder hereinzubringen, auf andre Art wieder hereinzubringen, und mehr noch, so daß man den Verlust gar nicht spürt.«

»Sonderbar,« murmelte der Pastor, »sonderbar. Wenn man Sie so hört, könnte man glauben, Sie sprechen von einer Sportleistung oder von einem Tauschgeschäft.«

Christian lachte.

Der Pastor näherte sich ihm und legte ihm seine Hand auf die Schulter. Mit ernstem Blick fragte er: »Wo ist die Frau, die Sie . . . zu sich genommen haben?«

Christian antwortete mit einer hinaus- und hinaufdeutenden Geste.

Dem Pastor kam ein Gedanke, der ihm seltsam und neu dünkte. »Leben Sie denn nicht mit ihr?« fragte er flüsternd, »leben Sie nicht in Gemeinschaft mit ihr?«

»Nein, das nicht,« erwiderte Christian stirnrunzelnd, »das nicht.«

Der Pastor ließ den Arm fallen. Ein langes Schweigen trat ein. Dann begann er: »Ihr Vater ist geradezu erschüttert durch eine Empfindung, die wohl ein Mann hat, der mehrere geliebte Personen von derselben Krankheit ergriffen sieht. Er möchte verbergen, was in ihm vorgeht, aber es gelingt ihm nicht. Zu einer Zeit, wo er für Sie noch gar nicht zu fürchten hatte, sprach er einmal mit mir von Ihrer Schwester Judith. Er gebrauchte das Wort Selbsterniedrigung. Er sprach von einem perversen Trieb zur Selbsterniedrigung.«

Christian machte eine lebhafte Bewegung. »Judith,« sagte er, »ach die. Sie trumpft auf, sie trotzt. Da ist keine Erniedrigung. Sie will wissen, was sie wagen darf und was andre für sie wagen und wie es dann ausgeht. Sie hat es mir ja selbst gestanden. Sie stürzt sich ins Wasser und ist beleidigt, wenn es naß ist; sie geht ins Feuer und hofft, es wird nicht brennen. Nachher haßt sie das Wasser und das Feuer. Nein, damit hab ich nichts zu schaffen.«

»So kaltherzig? Der Bruder?« sagte Pastor Werner vorwurfsvoll. »Doch wie dem auch sei, Ihr Vater ist durch die neuerliche Erfahrung an Ihnen im Kern getroffen. Sein Wirken ist ihm von innen her geleugnet. Die Frucht eines arbeitsreichen Lebens erkennt er als angefault. Jedes nur ersinnliche Gelingen ward ihm; was ist es nun? Das Blut erhebt sich wider ihn. Seine Hand war gesegnet; es ist ihm, als verdorrte sie. Der Reichtum trug ihn auf einen weitbemerkten Gipfel; oben ist er einsam, und der ihn am freudigsten begrüßen sollte, wendet sich ab und gibt ihm ein Gefühl zu kosten, für das er keinen andern Namen hat als Schimpf und Schande.«

Christian blieb still, ja sichtlich gleichgültig. Der Pastor fuhr fort: »Bedenken Sie das Soziale unsrer Welt. Es haftet ihm ja bei aller äußern Roheit und Gewaltsamkeit auch etwas unendlich Zartes und Ehrwürdiges an. Man könnte es einem Baum vergleichen, tief in der Erde, breit in der Luft, mit vielen Ästen und Zweigen, Blüten und Knospen. Es ist ein Gewordenes, von Gott Stammendes, und man soll es nicht mißachten.«

»Wozu sagen Sie mir das, Herr Pastor?« fragte Christian ablehnend.

»Ihr Vater leidet. Gehen Sie zu ihm, eröffnen Sie sich ihm. Der Sohn zum Vater, es ist Pflicht.«

Christian schüttelte den Kopf. »Nein,« erwiderte er, »ich kann nicht.«

»Und Ihre Mutter? Von ihr zu reden, dachte ich, könnte ich mir sparen. Einer Mahnung in bezug auf die Mutter, dachte ich, bedarf es kaum. Sie wartet. Ihr Tag ist ein einziges Warten.«

Christian schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht,« sagte er.

Das Kinn in die hohle Hand gelegt, blickte der Pastor trüb zu Boden. Er ging mit zwiespältigem Gefühl.

20

Es verlangte Crammon nach einem Freund. Der verlorene war unersetzlich. Die Hoffnung, ihn zurückzugewinnen, glomm noch, aber der unbewohnte Raum in der Brust hauchte Kälte aus. Ihn einstweilen mit einem Logiergast zu versehen, empfahl sich aus Gründen der Stimulierung.

Die nächste Anwartschaft besaß Franz Lothar von Westernach. Ein Zusammensein in Franz Lothars Landhaus in der Steiermark war brieflich schon vereinbart. Mit Beginn des Frühjahrs reiste Crammon hin. Die schöne Miß Herkinson, die er im Auto von Spa bis Nürnberg begleitet hatte, ließ er im Stich.

Im Speisewagen sagte er zu einem Bekannten, den ihm der Zufall in den Weg geführt: »Ich vertrage den Lärm nicht mehr, den junge Leute um sich verbreiten. Ich bin jetzt für das Abgeklärte. Das fünfte Dezennium fordert mildere Sitten. Sie meinen: Kiebitz. Na ja, Kiebitz, das ist auch nur ein Wort. Der eine bleibt noch Kiebitz, wenn er eine unbescholtene Jungfrau verführt oder wenn sich seine Tante mit Blausäure vergiftet, der andre ist im Spiele, wenn die Leute auf der Insel Madagaskar von der Pest hingerafft werden. Alles ist relativ.«

Crammon traf Franz Lothar in einem seelischen Konflikt. Seine Schwester Clementine wollte ihn verheiraten. Er gestand es Crammon halb lachend, halb ratlos. Sie hatte ein Mädchen aus einer der ersten Familien im Auge und versprach sich von der Verbindung einen heilsamen Einfluß auf des Bruders Karriere sowohl, als auch auf seine schwankende und tatenscheue Lebenshaltung. Die Präliminarien waren bereits eingeleitet, die Eltern der jungen Dame zeigten sich dem Plan geneigt.

Crammon sagte: »Laß dich nicht übers Ohr hauen, lieber Sohn. Die Sache wird ein schändliches Ende nehmen. Die betreffende Person kenne ich. Sie ist ein Vampir. Das Geschlecht, aus dem sie stammt, gehörte im Mittelalter zu den berüchtigtsten Raubrittern. Später hatten sie reichsgerichtliche Prozesse wegen Mißhandlung ihrer Bauern. Danach kannst du dir deine Zukunft ausmalen.«

Franz Lothar amüsierte sich, denn Crammons Zorn darüber, daß man ihm nun auch diesen Menschen rauben wollte, noch dazu auf die alte geistlose Manier, war dämonisch und überschritt die Grenzen der Wohlanständigkeit. Er begegnete Clementine mit haßerfülltem Schweigen, und wenn er mit ihr in Streit geriet, hatte er einen Ton wie ein gereizter Hund.

Franz Lothars Unentschlossenheit und Angst vor Veränderung ersparten Crammon weitere Kämpfe. Eines Tages teilte er seiner enttäuschten Schwester einfach mit, er sei auf einen so wichtigen Schritt durchaus nicht vorbereitet und bitte sie, die Verhandlungen abzubrechen.

Diese Wendung befriedigte Crammon zwar, aber sie beruhigte ihn nicht. Er wollte vorbeugen, daß sich ein ähnliches Attentat nicht wiederhole. Hiezu erschien es ihm als das beste, Clementine selbst zu verheiraten. Es war schwierig. Sie war nicht mehr ganz jung, hatte viel erlebt, kannte die Welt, besaß klaren Blick, scharfen Verstand; man mußte vorsichtig sein. Crammon hielt Umschau im Geiste. Seine Wahl fiel endlich auf einen Mann von beträchtlichem Reichtum, vornehmer Abkunft und tadellosem Ruf, den Cavaliere Morini. Er hatte ihn vor Jahren bei Freunden in Triest flüchtig kennengelernt.

Er begann, sich häufig zu Clementine zu setzen. Duftige kleine Erzählungen von Eheglück, Sehnsucht, gemütlichem Hausstand flossen ihm von den Lippen. Er merkte, daß der Boden empfänglich war. Er ließ beiläufige Bemerkungen fallen über seine vertraute Freundschaft mit einer ungemein wichtigen und fähigen Persönlichkeit des Auslands. In kunstreicher Steigerung wurde aus dem braven Cavaliere Morini eine eklatante Figur. Sodann schrieb er an Morini, erkundigte sich nach seinem Befinden, erinnerte ihn an gemeinsam verlebte Stunden, log ihm Wehmut und Wiedersehensverlangen vor, fragte nach seinen Reiseplänen, und als die Korrespondenz einmal im Gange war, fand sich der Anlaß bald, von Clementine zu sprechen und ihre vorzüglichen Eigenschaften zu rühmen.

Morini biß an. Er schrieb, er werde im Mai in Wien sein und sich freuen, Crammon dort zu treffen; der Freiin von Westernach ebenfalls zu begegnen, wage er kaum zu hoffen. Alter Idiot, dachte Crammon, und überredete Franz Lothar und Clementine, daß sie zu gegebener Zeit nach Wien kämen. Alles glückte: Morini gefiel Clementine, Clementine gefiel Morini; Crammon sagte zu ihr: er ist ganz bezaubert von Ihnen, und zu ihr: Sie haben einen unverlöschlichen Eindruck auf sie gemacht. Vierzehn Tage später war Verlobung. Clementine lebte auf. Sie war voll Dankbarkeit gegen Crammon. Was Crammon, nicht in reinster Absicht, begonnen hatte, wurde für sie zum reinsten Segen.

Crammon spendete sich die verdiente Anerkennung. Es war ein Werk, so gut wie irgendeines. Er sagte: »Seid fruchtbar und mehret euch. Euern Erstgebornen will ich aus der Taufe heben. Ein solennes Festmahl bei dieser Gelegenheit versteht sich am Rande.«

Er sagte ferner: »In den Büchern der Geschichte wird man mich Bernhard den Stifter heißen. Vielleicht bin ich der Urahn eines berühmten Geschlechts, eines Geschlechts von Königen vielleicht; wer kann das wissen. So werden meine späten Enkel, der Herr nehme sie in seinen Schutz, wenigstens Grund zur Pietät haben.«

Aber es war dies nur täuschendes Feuerwerk der Laune. Sein Geist war angenagt vom Wurm der Zweifelsucht. Er sah schwarz in die Zukunft. Er weissagte Krieg und Umsturz. Er hatte keine Freude an sich und seinen Taten. Wenn er im Bette lag und das Licht verlöscht hatte, fühlte er sich von einer Rotte von Übeln umschlichen, und sie waren uneins unter sich, welches ihn zuerst zerfleischen sollte. Dann drückte er die Augen zu und seufzte schwer.

Fräulein Aglaia, die seinen gepreßten Gemütszustand ahnte, riet ihm, sich fleißiger des Gebets zu bedienen. Er war ihr dankbar für den Rat und versprach, ihn zu befolgen.

21

Der süßlich girrende Walzer hob an. Amadeus Voß bestellte Sekt. »Trinken Sie, Lucile,« sagte er, »trinken Sie, Ingeborg, das Leben ist kurz, das Fleisch will seine Lust, was nachher kommt, ist höllisches Entsetzen.« Er lehnte sich im Sessel zurück und verkniff den Mund.

Die beiden, im extravaganten Berliner Kokottenstil gekleideten Damen kicherten. »Er ist doch gar zu verrückt, unser Doktorchen,« sagte die eine. »Was phantasiert er denn da wieder? Ists unanständig oder gruselig? Man weiß nie recht.«

Die andre bemerkte abschätzig: »Hat pikfein diniert, raucht ne Henry Clay, befindet sich in entzückender Gesellschaft und schwatzt von höllischem Entsetzen. Dazu brauchen Sie doch uns nicht und das Esplanade auch nicht. Pfui, solch Ausdruck überhaupt. Ermannen Sie sich, Mensch! Seien Sie 'n bißchen liebenswürdig, bißchen normal, bißchen hopsassa.«

Sie lachten beide. Voß blinzelte gelangweilt. Der süßlich girrende Walzer schloß mit unerwartetem Lärm. Nackte Hälse und Schultern, verblühte Jünglingsgesichter und verweste Greisengesichter verschwammen im Tabaksqualm zu perlmuttrigem Geflimmer. Von der Straße kamen Hotelgäste, die halb fremd, halb gierig in den Lichtüberfluß starrten; zuletzt ein junges Mädchen, das bei der Drehtür stehenblieb. Amadeus Voß sprang empor. Er hatte Johanna Schöntag erkannt.

Er ging auf sie zu und verbeugte sich. Sie, überrumpelt, grüßte mit voreiligem Lächeln, das sie bedauerte. Er stellte Fragen. Sie zuckte in der Taille zusammen, als breche dort etwas. Kalt maß sie ihn, erinnerte sich eines früheren Schauders, schauderte wieder. Ihr Gesicht war noch unschöner geworden, die Anmut über dem ganzen Wesen bezwingender.

Sie sagte, sie sei seit zwei Tagen in Berlin; im Hotel wohne sie noch bis morgen, dann ziehe sie zu ihrer Cousine, die im Tiergarten wohne.

»Also reiche Verwandte?« warf Voß taktlos ein. Er lächelte gönnerhaft und fragte, wie lange sie in dieser aufregenden Stadt zu bleiben gedenke.

Wahrscheinlich den ganzen Herbst und Winter über, antwortete sie. Aufregend? davon spüre sie nichts; ermüdend und trivial, das ja.

Ob er das Vergnügen haben werde, sie bald zu sehen? Wahnschaffe, wüßte er, daß sie hier sei, ließe sichs gewiß nicht nehmen, sie aufzusuchen.

Er sprach mit einer zudringlichen, anscheinend frischgelernten Artigkeit und Weltkälte. Johanna zog sich innerlich zurück. Als er Christians Namen nannte, erblaßte sie und spähte hilfesuchend gegen die Treppe. In der Bedrängnis fiel ihr das Verschen ein, zu dem sie bisweilen in peinlichen Umständen ihre Zuflucht nahm: Wenn doch einer käme und mich mitnähme. Da lächelte sie. »Ja, ich will Christian sehen,« sagte sie plötzlich mit Freiheit, und in den Worten lag das mutige Bekenntnis: Deswegen bin ich gekommen.

»Und ich? Was geschieht mit mir?« fragte Voß. »Mich werden Sie links liegen lassen? Kann ich Ihnen nicht irgendwie behilflich sein? Wollen Sie nicht mal einen kleinen Spaziergang mit mir machen? Es gibt ja allerlei zu besprechen . . .«

»Nicht daß ich wüßte,« antwortete Johanna mit dem ängstlichen Stirnrunzeln der in die Enge Getriebenen, die sich nicht zu wehren vermag. Um den Lästigen auf gute Manier loszuwerden, versprach sie, ihm zu schreiben. Kaum hatte sie es gesagt, so fühlte sie sich unglücklich darüber; jedes Versprechen hatte etwas Bindendes für sie; sie empfand sich schon wieder als Opfer, und die unheimliche Gespanntheit, die ihr der Mensch erregte, lähmte ihren Willen und reizte sie krankhaft.

Voß fuhr im Auto nach Hause. Es war in ihm nur ein einziger, wühlender, flackernder Gedanke: war sie Christians Geliebte gewesen oder nicht? Diese Frage hatte für ihn eine alles bestimmende Wichtigkeit erlangt seit dem Augenblick, wo er Johanna vor sich gesehen hatte. Es war eine Frage um Besitz und Entbehrung, um Wahrheit und Betrug. Er knüpfte Schlußfolgerungen daran, die seine Sinne entzündeten, Möglichkeiten, bei denen es um das Entweder-Oder des Lebens ging. Er stellte sich Johannas Züge vor und studierte in ihnen wie in einer Geheimschrift. Er sammelte sich zu Argumenten, Zergliederungen und Kunststücken verschlagener Rabulistik. Da trat eine in seinen verdüsterten Kreis, die freche Verschlingungen und Verkettungen verursachte und alle Entscheidungen zu einem Punkte trieb. Er spürte, daß sich Stürme ankündigten, wie er sie noch nie erlebt.

Als er am andern Morgen aus dem Bad kam und sich zum Frühstück setzen wollte, sagte seine Aufwärterin zu ihm: »Das Fräulein Engelschall ist da; sie sitzt drüben im Salon.«

Hastig trank er die Schokolade und ging hinüber. Karen saß an dem runden Tisch und schaute Photographien an, die dort herumlagen; sie hatten alle Christian gehört; es waren Bilder von Freunden und Freundinnen, Landschaften und Häusern, Hunden und Pferden.

Karen trug ein einfaches Kostüm, Rock und Jacke, dunkelblau; die weizengelbe Haarwildnis verschwand unter einem grauen Filzhut, den ein seidenes Band schmückte. Das Gesicht war hager, die Hautfarbe fahl, der Ausdruck finster.

Sie ersparte sich einleitende Wendungen und begann: »Ich komme, weil ich Sie fragen will, ob Sie schon davon wissen. Es könnte ja sein, daß er es Ihnen vorher gesagt hat. Mir hat ers erst gestern gesagt. Sie wissen also nichts? Na, verhüten hätten Sies auch nicht können. Er hat sein ganzes Geld weggegeben. Das ganze Geld, alles, was er hatte, hat er seinem Vater gegeben. Auch das übrige, was ihm jährlich zusteht, ich weiß nicht, wieviel Hunderttausende es sind, will er nicht mehr haben. Auf ein bißchen was hat er sich noch Anspruch vorbehalten. Es reicht gerade zum Nichtverhungern, scheint mir. Wenn ich ihn recht verstanden habe, kann er auch darüber nicht mal frei verfügen. So wie es mit ihm ist, gibts kein Zurück. Das ist bei ihm, wie wenn der Meßner die Glocke geläutet hat; da kann man auch keinen Ton mehr fortnehmen. Man möchte schreien; man möcht sich direkt hinlegen und schreien. Ich sag zu ihm: Mensch, was hast du getan! Drauf macht er ein Gesicht, als wundere er sich, daß man sich über so was aufregen könnte. Nun frag ich Sie: Geht das denn überhaupt? Darf das denn sein? Wird das denn zugelassen?«

Amadeus Voß sprach kein Wort. Sein Gesicht war weiß. Hinter den Brillengläsern loderten gelbe Funken. Ein paarmal strich er mit der Hand über den Mund.

Karen erhob sich und ging auf und ab. »So is es nun,« stieß sie hervor und ließ den Blick mit ingrimmiger Befriedigung durch das Prunkzimmer schweifen; »erst auf dem Bocke droben, dann im Drecke drunten. So gehts. Ich für meinen Teil könnte ja jetzt meinen Schnitt machen. Wenns bloß nicht schon zu spät ist. Vielleicht ists schon zu spät, vielleicht hab ich mirs zu lang überlegt. Man wird ja sehen. Was soll ich schließlich mit dem Gelde. Warten ist vielleicht immer noch das bessere Geschäft.« Sie trat an die andre Seite des Tisches und gewahrte unter den Photographien eine, die sie vorhin nicht gesehen. Es war ein Bild der Frau Richberta Wahnschaffe und zeigte sie im Gesellschaftskleid, geschmückt mit ihrer berühmten Perlenschnur, die, doppelt geschlungen, bis über die Brust herabhing.

Karen griff nach dem Bilde, betrachtete es mit hochgezogener Stirn und sagte: »Wer ist denn die? Sie sieht ihm ähnlich. Wahrscheinlich ists seine Mutter? Ists seine Mutter?« Voß antwortete nicht, nickte nur. Sie fuhr gierig und erstaunt fort: »Die Perlen! Solche Perlen! Daß so was möglich ist! Echte Perlen? Gibts das denn? Die müssen ja wie die Kinderfäuste sein.« Ihre blassen Augen glitzerten heiß, ihre kleinen bösen Unterzähne rieben die Lippe. »Darf ich mirs behalten?« fragte sie. Voß gab keine Antwort. Sie sah sich hastig um, schlug die Photographie in ein Stück Zeitungspapier und schob sie unter ihre Jacke. »Herrgott, Mann, so reden Sie doch einen Ton!« schrie sie Voß brutal an; »Sie haben sich ja zum Erbarmen. Denken Sie denn, mir greift das nicht an die Nieren? Mir doch zu allererst. Sie stehen aber doch auch auf Ihren zwei Beinen wie ein Weibermensch, und die muß oft noch damit arbeiten.« Sie lachte zynisch, warf noch einen Blick auf Voß und durch das Zimmer und ging.

Voß saß noch eine Weile regungslos, strich noch ein paarmal mit der Hand über den Mund, dann sprang er auf und eilte in das Schlafzimmer. Er trat an den Spiegeltisch, auf welchem die Toilettengegenstände lagen, die Christian zurückgelassen hatte, eine kostbare, goldene Garnitur: Bürsten, Kämme, Flaschen mit goldenen Kapseln, goldene Dosen und Behälter mit Salben und Rasierpuder. Alle diese Dinge raffte Voß in größter Hast zusammen und warf sie in einen kleinen Lederkoffer, den er verschloß und im Kasten versperrte. Hierauf kehrte er in den Salon zurück und wanderte mit verschränkten Armen auf und ab, wobei sein Gesicht mehr und mehr verfiel.

Stehenbleibend, bekreuzigte er sich und sprach: »Führe uns nicht in Versuchung und erlöse uns von dem Übel.«

22

An der Station hielt ein altertümlicher Landauer; Botho von Thüngen stieg ein. Er hüllte seine Füße in Decken, denn der Abend war kühl, die Fahrt zum Herrenhaus lang. Schnurgerade schnitt die Straße in die tellerflache Mark.

Botho saß starr aufrecht im Wagen und dachte an die bevorstehende Auseinandersetzung mit dem Freiherrn, seinem Großvater, der ihn berufen hatte. Herr von Grunow-Reckenhausen auf Reckenhausen war der Senior der Familie, oberster Schiedsrichter in allen Streitfällen, letzte Instanz. Sein Urteil und Gebot waren so unwidersprechlich wie die des Königs; Söhne, Schwiegersöhne und Enkel zitterten vor ihm.

Die Familie war weitverzweigt; ihre Mitglieder saßen in der Regierung und im Reichstag, waren hohe Offiziere, Gutsherren, Industriemagnaten, Stiftsdamen, Landräte und Gerichtspräsidenten. Der alte Freiherr hatte sich seit Bismarcks Tod vom öffentlichen Leben zurückgezogen.

Schwarz und verfallen stand das Herrenhaus inmitten eines vernachlässigten Parkes. Zwei edle Doggen traten knurrend aus der Eingangshalle, die von offenen Kerzen erleuchtet war. Auch der unwohnliche Saal, in dem Botho und der alte Freiherr beim Abendessen einander gegenüber saßen, war von Kerzen erleuchtet. Alles mutete ein wenig gespenstisch an in dem Hause, die rissigen Tapeten, der gesprungene staubgraue Stuck der Plafonds, der verwelkte Blumenstrauß auf dem Tisch, das Porzellan aus dem achtzehnten Jahrhundert, die beiden Hunde, die zu Füßen des Freiherrn lagen, und nicht zuletzt dieser selbst; sein kleiner Kopf und sein längliches, mageres, boshaftes Gesicht erinnerten an späte Bildnisse des großen Friedrich.

Sie blieben in dem Saal. Der Freiherr setzte sich in einen Lehnstuhl am Kamin. Der eisgraue, schweigsame Diener warf Scheite aufs Feuer, räumte die Tafel ab und verschwand.

»Du gehst also ab Ersten nach Stockholm,« begann der alte Freiherr und wickelte sich ächzend in einen schottischen Schal; »ich habe unserm Gesandten dort geschrieben; sein Vater war Studienkamerad und Korpsbruder von mir, er wird sich deiner annehmen. Wenn du nach Berlin zurückkommst, gib sofort beim Staatssekretär deine Karte ab. Bringe ihm meine Empfehlungen. Er kennt mich gut. Wir sind Anno siebzig zusammen im Feld gestanden.«

Botho räusperte sich. Der alte Freiherr wünschte und erwartete jedoch keine Einrede. Er fuhr fort: »Mit deiner Mutter bin ich übereingekommen, daß wir deine Verlobung in den nächsten Tage offiziell mitteilen. Die Geschichte zieht sich nun schon lang genug hin. Nächsten Winter heiratet ihr. Du kannst von Glück sagen, mein Junge. Sophie Aurore Bevern, abgesehen davon, daß sie dir ein kleines Fürstentum an Landbesitz und eine Million Taler in die Ehe bringt, ist auch eine Schönheit ersten Ranges und ein Weib von Rasse. Sapperment ja; so was verdienst du gar nicht und weißt es auch nicht zu schätzen, scheint mir.«

»Sophie Aurore steht mir unendlich nah; ich liebe sie sehr,« erwiderte Botho befangen.

»Was ziehst du denn dabei für 'n Gesicht wie die Katze, wenns donnert?« ergrimmte der Freiherr. »Solch Lavendelblütengeschwätz will gar nichts heißen. Ob du sie liebst oder nicht liebst, steht nicht zur Debatte, und ich hab dich auch nicht danach gefragt. Fragen könnt ich dich höchstens nach deiner bisherigen Aufführung, und auch da würdest du am besten tun, in sieben Sprachen zu schweigen, wie der selige Schleiermacher gesagt hat. Da hast du dich an so ne Tänzerin gehängt, hast ein Vermögen verplempert, den Zeitpunkt für den Eintritt in die Karriere nahezu verpaßt: schön; versteh ich; das sind Tollheiten, man war auch mal jung; die Hörner müssen abgestoßen werden. Aber das andre, daß du dich in Proletarierkreisen herumtreibst, die Nächte Gott weiß wo verlungerst, Versammlungen der Heilsarmee besuchst, na, das geht denn doch über die Hutschnur. Ich hatte gedacht, ich könnte das lassen, doch du pumpst einem ja die Galle aus der Leber. Was ich wollte, ist: dir die Richtlinie geben und eine klipp und klare Antwort hören.«

»Gut; so antworte ich, daß ich weder nach Stockholm gehen noch Sophie Aurore heiraten kann.«

Den Freiherrn schleuderte es förmlich empor. »Was –? Du –? Wie –?« Er lallte nur.

»Ich bin bereits verheiratet.«

»Du bist . . . bereits . . . bist bereits . . .« Fahlgrün im Gesicht stierte der Greis seinen Enkel an und sank wieder in den Sessel.

»Ich habe ein Mädchen geheiratet, das ich vor drei Jahren verführt habe, die Tochter der Mietsfrau von damals. Wie es so geht: nach einer durchzechten Nacht kam ich stumpfsinnig-angeheitert nach Hause; sie war schon auf dem Weg in die Arbeit, sie nähte in einem Modesalon. Da zog ich sie in mein Zimmer. Als sie ein Kind zur Welt brachte, war ich schon längst über alle Berge, hatte sie längst vergessen. Die Eltern verstießen sie, das Kind kam zu fremden Leuten und starb, sie selber fiel von Stufe zu Stufe. Der gewöhnliche Weg. Durch eine unausweichliche Fügung traf ich sie vor zwei Monaten wieder und erfuhr das ganze Elend, das sie durchlitten hatte. Meine Lebensanschauungen hatten sich inzwischen vollkommen geändert, hauptsächlich infolge der Begegnung mit einem . . . besondern Menschen; ich tat meine Pflicht. Ich habe alles verscherzt, ich weiß es, meine Zukunft, mein Glück, die Liebe meiner Mutter und meiner Braut, die Vorteile meiner Geburt, die Achtung meiner Standesgenossen, aber ich konnte nicht anders handeln.«

Die ruhige und feste Sprache des jungen Mannes hatte den Freiherrn steinern unbeweglich gemacht. Die buschigen Brauen bewölkten die Augen, der verbissene Mund war eine Höhle zwischen Nase und Kinn. »Soso,« sagte er nach einer Weile mit pfeifender Stimme, »soso. Ein fait accompli; noch dazu eins von so niederträchtiger Art. Soso. Nun, ich habe keine Lust, mich mit einem gottverdammten Narren weiter einzulassen. Man wird die nötigen Schritte tun. Man wird dir die Hilfsquellen abschneiden und dich hinter Schloß und Riegel setzen. Es gibt ja noch Irrenhäuser in Preußen, und man hat noch einiges dreinzureden. Ein Botho Thüngen, der sich in der Gosse wälzt; nettes Spektakel; heulen die Judenblätter nicht bereits Triumph? Na, sie werden schon. Daß wir von heute an geschiedene Leute sind, versteht sich von selbst. Rücksicht erwarte unter keinen Umständen. Leider muß ich dich diese Nacht noch in meinem Hause dulden. Die Pferde sind zu müd für die Fahrt zur Station.«

Botho hatte sich erhoben. Er strich ein paarmal über seine steilen roten Haare. Das von Sommersprossen bedeckte Gesicht war kränklich blaß. »Ich kann ja zu Fuß gehen,« sagte er, hörte aber, daß es regnete, und erschrak bei dem Gedanken an den weiten Weg. Dann sagte er: »Bist du denn deiner Sache so ganz sicher? Bist du denn alles dessen so sicher, was du hast und was du tust und was du sprichst? Ich leugne nicht, daß mich deine Drohungen ängstigen. Ich weiß, du wirst versuchen, sie auszuführen. Meine Überzeugung kann dadurch nicht beeinflußt werden.«

Der Freiherr streckte gebieterisch den Arm gegen die Tür.

In dem Zimmer, das für ihn bereitet war, setzte sich Botho an den Tisch und schrieb beim Licht einer Kerze mit fliegender Hand: »Lieber Wahnschaffe, das Schwere ist getan. Mein Großvater saß so stark, so felsenhaft vor mir; ich empfing sein Verdikt als schlotternder Schwächling. Gefühl, das loderndste, wird Lüge vor diesen Unerschütterlichen, Vorurteile werden Befugnisse, der Druck der Kaste Bestimmung. Dieser Mut, zu existieren! Diese eisernen Stirnen und Seelen! Und ich dagegen! In mir hat unser Geschlecht sein Absurdum gebildet. Verlorener Sohn vom Kopf bis zu den Füßen. Ich las irgendwo von irgendwem, daß er durch seine Ohnmacht Gott überwand. Konnte diese lieblose Landschaft, diese starre, norddeutsche Welt im Widerspiel zu diesem Torquemada des Herkommens etwas andres hervorbringen als einen Hysteriker der Auflehnung wie mich? Meine Kindheit, meine Knabenjugend, meine Jünglingsjahre, das sind aneinandergereihte Zeilen eines herzlosen Traktats über die Kunst, etwas zu gelten, was man nicht ist, und etwas zu erreichen, was der Mühe nicht verlohnt. Ich wußte so wenig von mir selbst wie der Kern in der Nuß etwas von der Nuß weiß. Ich faulenzte und soff und spielte, und machte wie alle um mich her aus der Zeit eine Hure, die mir gefällig sein mußte, oder sie war mir lästig. Man war blind, man war taub, man war fühllos. Aber es ist ein Verbrechen, sehend, hörend und fühlend zu werden. Sophie Aurore begegnete mir; ich lernte lieben, doch ich lernte es mangelhaft, denn ich war ja ein Mensch mit verkrüppelten Sinnen. Da es üblich ist, sich auszutoben, wie der Fachausdruck lautet, bevor man sich mit einem Wesen ewig verbindet, das einem zu heilig sein sollte, um sein Bild und Andenken durch den Sumpf schmutziger Laster zu schleifen, so folgte ich dem Brauch. Aber der im Ungeist waltende Schicksalszwang führte mich in den Bezirk Eva Sorels. Ich erfuhr zum erstenmal, was ein Weib ist und was es bedeuten kann. Ich begriff Sophie, ich fühlte, was ich ihr sein mußte. Da sah ich Sie, Christian. Erinnern Sie sich der Szene, als Sie Eva und den andern die französischen Verse vorlasen? Die Art, wie Sie es taten, zwang mich tagelang, an Sie zu denken. Erinnern Sie sich, wie Sie in Hamburg die silberne Peitsche zerbrachen, mit der Eva Ihren Freund ins Gesicht schlug? Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ich blieb auf Ihrer Spur, ich ergriff jede Gelegenheit, mich Ihnen zu nähern; Sie merkten es nicht. Als Sie abgereist waren, suchte ich Sie; man sagte mir, Sie seien in Berlin, ich suchte dort, ich fand Sie endlich, und unter welchen Umständen! Mein Gemüt war so übervoll; ich konnte über das, was mich zu Ihnen getrieben hatte, dies ganz Dunkle, unerklärlich Magnetische, weder damals noch später sprechen. Heute mußte es sein, denn das Wort, das ich an Sie richte, gibt mir wieder Kraft. Ich bedarf des Trostes. Ich liebe Sophie Aurore, ich werde sie bis zum letzten Blutstropfen lieben; der Absagebrief, den ich ihr geschrieben habe, war das Bitterste von allem Bittern in meinem unnützen und verfehlten Leben. Sie hat ihn nicht beantwortet. Ich habe ein Schicksal zerbrochen, ein Herz zertreten, aber ein andres Schicksal gerettet, ein andres Herz vor der Verzweiflung bewahrt. Habe ich recht gehandelt? Sich für eine Sache, einen Menschen zu opfern war immer eine inhaltsleere Redensart für mich; seit ich Sie kenne, hat der Gedanke eine Bedeutung, und eine sehr ernste. Ihnen klingt ja das alles fremd und vielleicht sogar unsympathisch; Sie grübeln nicht und geben sich keine Rechenschaft; das ist das Unfaßliche. Dennoch weiß ich keinen andern, den ich besser als mein eignes Gewissen fragen könnte: Habe ich recht gehandelt?«


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