Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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Auf jedem Pfahl eine Eule

1

Lätizia sehnte sich.

Sie fuhr mit der Gräfin-Tante in den Süden der Schweiz und lustwandelte staunend zu Füßen blauer Gletscher; sie lag am Ufer des Genfer Sees und träumte oder las Gedichte; von Bewunderern umringt, schritt sie lächelnd über die Promenaden der Kurorte; ihrer Jugend und ihres Schatzes von Gefühlen enthusiastisch bewußt, genoß sie den Tag und den Abend, Bild und Buch, Duft und Ton, alles, was zu genießen war; aber sie sehnte sich.

Viele kamen und redeten von Liebe, offen und verhohlen; und sie liebte; nicht eben den, der sprach, sondern das Wort, den Ausdruck, die Verheißung. Traf sie ein entzückter Blick, so war sie entzückt; Zwanzigjährigen und Sechzigjährigen schenkte sie ihr Ohr mit gleicher Geduld.

Doch sehnte sie sich.

Die Gräfin-Tante sagte: »Von den Aristokraten laß die Finger, Liebchen; sie sind ungebildet und voller Dünkel. Sie machen keinen Unterschied zwischen einem Weib und einem Pferd. Sie nageln dein junges Herz an einen Stammbaum, und wenn du die Gnade nicht zu würdigen weißt, bist du zeitlebens eine Deklassierte. Haben sie kein Geld, so sind sie zu dumm, welches zu verdienen, haben sie es, so verstehen sie nicht, es auf vernünftige Weise auszugeben. Laß die Finger von ihnen, es sind keine richtigen Menschen.«

Die Gräfin hatte schlechte Erfahrungen mit der Aristokratie gemacht. Sie sagte: »Du kannst dir denken, Liebchen, daß man es weit getrieben hat, wenn ich so reden muß.«

Lätizia saß auf dem Bettrand und betrachtete ihren seidenen Strumpf, der ein Loch hatte. Und sie sehnte sich.

Judith schrieb: »Wir erwarten dich und die Gräfin, wenn wir in unser Haus bei Frankfurt übersiedeln. Es ist ein feenhaftes Schloß, das uns Papa gebaut hat, und soll künftig der Familiensitz sein. Es liegt im Schwanheimer Wald, und mit dem Auto ist man in zehn Minuten in der Stadt. Die Leute, die es sehen, sind begeistert; Felix Imhof sagt, es erinnere an den Palast des Minotaurus. Es hat vierunddreißig Fremdenzimmer, eine fünfzig Meter lange Wandelhalle mit Säulen und Nischen und eine Bibliothek, die nach dem Muster der Peterskuppel in Rom angelegt ist und mehr als zwanzigtausend nagelneue Bücher enthält. Wer soll die alle lesen?«

»Ich freue mich auf die Bücher,« sagte Lätizia und preßte die Hand auf ihr Herz.

Sie hatte eine kleine Kröte aus Gold machen lassen; die trug sie aber nicht am Halse, sondern bewahrte sie in einem Schächtelchen aus Saffianleder auf und betrachtete sie oft, lieblich grübelnd.

In Schwetzingen machten sie die Bekanntschaft eines jungen Argentiniers von deutscher Abkunft. Er studierte in Heidelberg die Rechte, doch gestand er freimütig, daß er nur nach Europa gegangen sei, um sich eine deutsche Frau zu holen. Am Mittag sagte er es, am Abend gab er Lätizia zu verstehen, daß eben sie das Ziel seiner Wünsche sei.

Er hieß Stephan Gunderam, hatte eine olivenfarbene Haut, glühende Augen und tiefschwarze Haare, die in der Mitte des Kopfes gescheitelt waren. Lätizia war von seiner Erscheinung fasziniert, die Gräfin vom Gerücht seines Reichtums. Sie zog Erkundigungen ein, und es erwies sich, daß die Fama nicht übertrieben hatte. Der Gunderamsche Landbesitz am Rio Plata war größer als das Großherzogtum Baden.

»Liebchen, das ist ein Mann für dich,« sagte die Gräfin; doch als sie bedachte, daß sie sich von Lätizia werde trennen müssen, fing sie an zu weinen und verlor für einen ganzen Vormittag den Appetit.

Stephan Gunderam erzählte von dem fernen, fremden Land, von seinen Eltern, seinen Brüdern, seinen Knechten, seinen Viehherden, seinen Häusern. Er sagte, die Frau, die er heimführe, werde eine Königin sein. Er war so stark, daß er ein Hufeisen biegen und einen fingerdicken Strick zerreißen konnte. Aber er fürchtete sich vor Spinnen, glaubte an Vorbedeutungen und litt häufig an Migräne; da lag er dann drei Tage im Bett und trank Warmbier mit Eidotter und Milch, ein Mittel, das ihm eine alte Mulattin geraten hatte.

Er verliebte sich dermaßen in Lätizia, daß er bleich wurde, wenn er sie sah. Als er bei der Gräfin um sie anhielt, zerdrückte er in seiner Erregung ein Figürchen aus Meißener Porzellan, das auf dem Tisch stand.

Die Gräfin sagte, sie müsse erst an Frau von Febronius, ihre Schwester, schreiben. Sie war würdevoll und gemessen, obgleich sie nach ihrer noch unvergessenen Gewohnheit der sentimentalen Naiven am liebsten in die dicken, runden Händchen gepatscht hätte. Sie erkundigte sich, wie es mit der Reinlichkeit in Argentinien bestellt sei und wie mit den Tafelfreuden. Damit es nicht den Anschein habe, als müsse man Lätizia ihrem Bewerber auf Gnade und Ungnade überliefern, brachte die Gräfin das Gespräch auf den Wald von Heiligenkreuz, der eine zwar nicht gesicherte, doch respektable Morgengabe darstelle. Stephan Gunderam antwortete etwas ungeduldig, er lege hierauf kein Gewicht; Land, Wald und Geld habe er für seine Person genug. Und er knirschte leidenschaftlich mit den Zähnen, so daß die Gräfin Angst bekam.

»Um so besser,« sagte die Gräfin zu Lätizia, »um so besser; er ist großmütig, er ist uneigennützig. Der Wald von Heiligenkreuz bleibt dir nach wie vor, mein Engel. Man weiß nicht, wie das Schicksal sich wendet; ein guter Feldherr denkt an die Reserven.«

»Lassen Sie mir ein wenig Zeit zur Entscheidung, Tante,« bat Lätizia, »ich kann mich an den Gedanken, zu heiraten, noch nicht gewöhnen. Ich bin so jung; heiraten, das heißt am hellichten Tag die Fensterläden schließen.« Die Heftigkeit von Stephan Gunderams Gefühl stimmte sie dankbar und weich; sooft seine Tigeraugen auf sie gerichtet waren, überlief sie ein wohltuendes Rieseln. Aber sie zauderte und zauderte; schließlich, von der Gräfin und von ihm bedrängt, wollte sie drei Monate Frist haben.

In einem Brief vertraute sie sich Judith Wahnschaffe an. Judith antwortete, sie möge doch den Argentinier auffordern, daß er für einige Zeit als Gast in das Frankfurter Schloß mitkomme. Dies dünkte Lätizia ein Ausweg. Als Postskriptum hatte Judith ihrem Brief die Mitteilung hinzugefügt, daß sie sich mit Felix Imhof verlobt habe.

Man hatte eine Verabredung mit Stephan Gunderam. Lätizia ließ sich von der Jungfer die Stiefel zuknöpfen; währenddem las sie in einem Band Lenauscher Gedichte.

»Du mußt dich eilen,« mahnte die Gräfin, »er wartet schon seit drei Uhr; du weißt, wie pünktlich er ist.«

Lätizia hörte kaum. Sie las: »Sahst du ein Glück vorübergehn, das nie sich wiederfindet, so blicke nur in einen Strom, wo alles wogt und schwindet.«

»Du mußt dich eilen, Liebchen,« mahnte die Gräfin.

Lätizia aber sehnte sich sehr.

2

In einer Stadt am Rhein mußten Christian und Crammon Station machen. Die Maschine des Wagens war schadhaft geworden, und der Lenker brauchte zur Ausbesserung einen ganzen Tag.

Sie verließen die Straßen der Stadt, es war ein schöner Septemberabend, und schweigend wanderten sie am Ufer des Stromes entlang. Als es dunkel wurde, kamen sie, fast ohne es zu wollen, in einen Biergarten, der am Wasser lag. Die Tische und Bänke, in die Erde festgerammt, standen unter dichtbelaubten Bäumen und waren von einigen hundert Menschen, Bürgern, Arbeitern und Studenten, besetzt.

»Laß uns eine Weile rasten und dem Volk zusehen,« sagte Crammon. Und sie fanden einen Tisch nahe dem Eingang, wo noch Platz war. Eine Kellnerin stellte zwei Krüge Bier vor sie hin.

Kellerluft war unter den Bäumen, von den Ausdünstungen der Menschen erfüllt. Die spärlichen Lampen hatten irisierende Nebelringe. Am Nachbartisch saßen Studenten mit roten Kappen und Bändern; sie hatten fette, gedunsene Gesichter und freche Stimmen. Einer schlug mit einem Stock dreimal auf den Tisch, dann begannen sie zu singen.

Crammon riß die Augen auf, und seine Lippen zuckten sarkastisch. Er sagte: »So denk ich mir eigentlich die Indianer, Sioux oder Irokesen.« Christian antwortete nicht. Er hatte die Ellbogen an den Leib gedrückt und die Schultern etwas hochgezogen. Auch an den übrigen Tischen herrschte ziemlich viel Lärm. »Wir wollen doch wieder gehen,« sprach Christian nach einer Weile, »mir ist unbehaglich.«

»Ja, siehst du, mein Lieber, das ist das Volk,« belehrte ihn Crammon mit einer Mischung von Hochmut und Spott; »so singt es, so sauft es, so riecht es. Und ruhig fließet der Rhein. Prosit, Durchlaucht.« Unter fremden Menschen nannte er Christian immer Durchlaucht und freute sich, wenn er dadurch eine ehrfürchtige Neugier bei Zuhörern erregte. Wirklich sahen einige Männer an ihrem Tisch betroffen nach ihnen und flüsterten untereinander.

Ein junges Mädchen mit blonden, um den Kopf geschlungenen Zöpfen war in den Garten getreten. Sie blieb am Eingang stehen und schaute suchend über die Tische. Die Studenten lachten; einer rief sie herzu. Sie zögerte verlegen, doch ging sie hin. »Wen suchst du, hübsches Kind?« fragte ein Fuchs. Das Mädchen schwieg. »In die Kanne für deinen Vorwitz,« rief ein älteres Semester, »mir geziemt die Frage.« Der Fuchs grinste und trank in langen Schlucken. »Was begehrst du, Mägdlein?« erkundigte sich das ältere Semester mit kollernder Bierstimme; »sollst etwa deinen Vater holen, ist er im Maßkrug steckengeblieben?« Das Mädchen nickte errötend. Nach ihrem Namen gefragt, antwortete sie, sie heiße Katharina Zöllner, nach dem Beruf des Vaters gefragt, antwortete sie, er sei Schiffer; sie sprach zwar leise, doch so, daß Christian und Crammon sie deutlich verstehen konnten. Er sei Schiffer und müsse um drei Uhr morgens schon gegen Köln fahren. »Gegen Köln,« lallte der Frager, »gegen Köln; so gib mir einen Kuß, und ich schaff ihn dir herbei.«

Das Mädchen bebte zurück. Die Kommilitonen fanden die Forderung berechtigt und johlten Beifall. »Zier dich nicht, Katharina,« sagte das ältere Semester, stand auf, faßte sie brutal um die Hüften und küßte sie trotz ihres erschrockenen Sträubens.

»Mir auch,« riefen die andern, »mir auch!« Schon war das Mädchen einem zweiten überliefert; dem riß sie ein dritter aus dem Arm; dem ein vierter, fünfter, sechster. Sie konnte nicht rufen, kaum atmen. Ihr Widerstand wurde schwächer, das Gelächter und Gebrüll ärger. Der Nachbartisch wollte nicht das Zusehen haben; »her zu mir,« meldete sich die Stimme eines dicken Kerls mit Warzen im Gesicht, und Gleichgesinnte wieherten. Als der letzte Student fertig war, packte jener das Mädchen, küßte es, warf es dem Nebenmann zu; immer mehr standen auf, streckten die Arme vor und verlangten die wehrlose Beute. Es geschah nichts, als daß sie sie küßten, aber es war eine ansteckende wüste Gier. Sogar die Weiber johlten und kreischten vergnügt, indes die Studenten, zufrieden mit ihrer Heldentat, aus rauhen Kehlen »Sassa geschmauset« sangen. »Sassa geschmauset, laßt uns nicht rappelköpfig sein.«

Der Körper des Mädchens, eine leblose Masse, wirbelte willenlos von Arm zu Arm. Christian und Crammon hatten sich erhoben. Sie schauten in das Gewühl unter den Baumkronen, vernahmen das Geschrei, das Gelächter, die Zurufe, sahen das Mädchen schon weit entfernt, die Hände, die nach ihr griffen, ihr Gesicht mit den geschlossenen, jetzt wieder entsetzt offenen Augen. Endlich trat einer hinzu, der Mitleid hatte, ein junger Arbeiter, und schlug dem, der sie gerade küßte, die Faust auf die Nase; zwei andre fielen über ihn her, es entstand eine Rauferei, das Mädchen, mit letzten Kräften, taumelte gegen den Zaun, wo Gras wuchs. Ihr Haar war aufgelöst, ihre blaue Bluse zerrissen, daß man die nackte Brust gewahrte, ihr Gesicht voll häßlicher Flecken. Sie suchte sich aufrecht zu halten, nach einigem Umsichtasten brach sie zusammen; und nun kamen Besonnene, die ihr beistanden und einander fragten, was mit ihr zu tun sei.

Christian und Crammon gingen am Ufer des Stroms zur Stadt. Die Studenten hatten einen neuen Kantus begonnen, der mißtönig durch den Abend schallte und allmählich in der Ferne verklang.

3

Mitten in der Nacht verließ Christian sein Lager, zog einen seidenen Schlafrock an und ging in Crammons Zimmer. Dort machte er Licht, setzte sich an Crammons Bett und rüttelte den laut Schnarchenden an der Schulter. Es war ein Ringen mit dem Schlafe selbst, und er wandte den Blick ab, um das verstörte, vertierte Gesicht nicht zu sehen.

Endlich, nach vielem Brummen und Stöhnen, öffnete Crammon die Augen. »Was willst du?« murrte er böse: »was geisterst du?«

»Ich möchte dich etwas fragen, Bernhard,« sagte Christian.

Crammon wurde immer zorniger. »Es ist ja närrisch, einem Menschen die wohlverdiente Ruhe zu verkürzen. Bist du mondsüchtig geworden oder hast du Leibweh? So frage, aber mach schnell.«

»Glaubst du, daß ich richtig lebe, so wie ich lebe?« fragte Christian. »Sei einmal ganz ehrlich und antworte mir darauf.«

»Meiner Treu, er ist mondsüchtig,« entfuhr es Crammon entsetzt, »er redet irre. Man muß einen Doktor rufen lassen.« Er schickte sich an, auf den Knopf des elektrischen Läutewerks zu drücken.

»Laß das,« wehrte ihm Christian, unmutig lächelnd, »laß das, und bemüh dich lieber, zu überlegen, was ich sage. Reib dir die Augen, wenn du noch nicht munter bist; zu schlafen bleibt dir Zeit genug. Ist es, Hand aufs Herz, Bernhard, deine Ansicht, daß ich ganz richtig lebe?«

»Wie, um Himmels willen, kommst du auf solche Verrücktheiten, lieber Wahnschaffe, genannt Christian –?«

»Scherze nicht, Bernhard,« antwortete Christian stirnrunzelnd, »es ist jetzt nicht an dem. Glaubst du, daß ich bei Eva hätte bleiben sollen?«

»Unsinn,« sagte Crammon; »sie hätte dich betrogen, sie hätte mich betrogen. Sie würde den Kaiser betrügen und vor unserm Herrgott doch unschuldig dastehen. Mit ihr kann man nicht rechnen, mit ihr kann man nicht sein, sie ist bloß für die Augen da. Auch das mit dem Eseltreiber in Cordova war Betrug. Gib dich zufrieden und laß mich schlafen.«

Christian erwiderte sinnend: »Ich verstehe nicht, was du sagst, und du verstehst nicht, was ich meine. Seit wir sie verlassen haben, ist mir manchmal, wie wenn ich bucklig geworden wäre. Ohne Spaß, Bernhard; ich steh auf, es befällt mich ein Schrecken, und ich recke mich gerade, so hoch ich kann. Ich weiß, daß ich richtig gewachsen bin, und doch ist mir so, als hätt ich einen Buckel.«

»Vollkommen übergeschnappt,« murmelte Crammon.

»Und nun sag mir, Bernhard,« fuhr Christian unbeirrt fort, und sein klares, offenes Gesicht bekam einen Ausdruck unbeschreiblicher Kälte, »hätten wir nicht der Schifferstochter helfen sollen, du und ich? Oder wenn es dir lästig war, hätt ich es nicht sollen? Sag mir das.«

»Was für eine Schifferstochter, zum Teufel?«

»Bist du so vergeßlich? Das Mädchen in dem Biergarten mein ich. Sie nannte doch ihren Namen, Katharina Zöllner, erinnerst du dich nicht? Und sagte, sie sei die Tochter eines Schiffers. Sie haben sie schauderhaft zugerichtet.«

»Sollt ich meine Haut zu Markte tragen für eine Schifferstochter?« versetzte Crammon wütend. »Die Leute mögen sich nach ihrer Fasson vergnügen, was gehts mich an, was gehts dich an? Bist du den wilden Bestien in die Pranken gefallen, als sie Adda Castillo zerfleischt haben? Und das ist weit schlimmer, als von hundert schmierigen Mäulern abgeschmatzt zu werden. Sei kein Schwachkopf, mein Lieber, und laß mich schlafen.«

»Ich bin neugierig,« sagte Christian.

»Neugierig? Worauf denn?«

»Ich will hingehen in das Haus, wo sie wohnt, und sehen, was mit ihr ist. Ich will, daß du mitgehst. Steh auf und geh mit.«

Vor Erstaunen riß Crammon den Mund auf. »Hingehen?« stotterte er, »jetzt? in der Nacht? Hast du deine fünf Sinne beisammen?«

»Ich wußte, daß du schimpfen würdest,« erwiderte Christian mit leiser Stimme und lächelte zerstreut, »aber mich plagt die Neugier so, daß ich mich in meinem Bett von einer Seite auf die andre wälze.« In der Tat hatte sein Gesicht einen lüsternen und erwartungsvollen Zug, der Crammon vollständig fremd war. Er fuhr fort: »Ich möchte sehen, was sie tut, was mit ihr geschieht, wies in ihrer Stube aussieht. Man muß das wissen, man ist ja ganz dumm, was diese Sorte Menschen betrifft. Komm nur mit, Bernhard,« schmeichelte er.

Crammon seufzte, Crammon entrüstete sich, Crammon verwies auf seinen gebrechlichen Körperzustand und die Notwendigkeit des Schlummers für seinen müden Geist; schließlich jedoch, da Christian allen Einwänden ein empfindungsloses Schweigen entgegensetzte und er ihn nicht allein in einen wer weiß wie gefährlichen und verruchten Stadtteil gehen lassen wollte, fügte er sich und stieg verdrossen aus dem Bett.

Christian nahm ein Bad und vollendete seinen Anzug mit gewohnter Sorgfalt. Vor dem Verlassen des Hotels schlugen sie das Einwohnerverzeichnis nach und fanden die Wohnung des Schiffers darin angegeben. Sie stiegen in einen Wagen und fuhren hin. Es war halb fünf Uhr morgens, als der Wagen vor einer Baracke am Stromufer hielt. In den Fenstern war Licht.

Crammon begriff noch immer nicht. Er hatte schon den rostigen Glockenzug in der Hand, da fragte sein ratloser Blick zum letztenmal. Christian schenkte dem Zaudernden keine Beachtung. Ein abgehärmt aussehendes Weib erschien in der Tür. Crammon mußte sprechen, und widerwillig sagte er, sie kämen, um sich nach dem Befinden der Tochter zu erkundigen. Das Weib glaubte, ihre Tochter habe in Heimlichkeit vornehme Herren zu Freunden; sie trat betroffen zurück und ließ die beiden ein.

4

Was Crammon sah und was Christian sah, war nicht dasselbe.

Crammon sah eine düster erleuchtete Stube mit alten Spinden, die verräuchert waren, mit einer Bettstatt, in deren rotkariertem groben Linnen das Mädchen Katharina lag, mit einer Wiege, in der ein wimmernder Säugling lag, mit aufgehängter Wäsche am Ofen, mit einem Tisch, an dem der Schiffer saß und eine Mehlsuppe löffelte, mit einer Bank, auf welcher ein junger Bursche schlief, und mit vielen häßlichen, schmutzigen Gegenständen außerdem.

Für Christian war es wie ein Traum vom Fallen. Auch er sah den Schiffer, das abgehärmte Weib, den schlafenden Burschen, den Säugling in der Wiege und das Mädchen, dessen verglaste Augen und verkrampfte Züge ihn übrigens sofort an den Beweggrund seines Hierseins gemahnten; aber er sah es, wie man Bilder sieht, während man in einen Schacht hinuntergleitet; Bilder, die beständig wiederkehrten und von andern abgelöst wurden, die sich von oben her dazwischenschoben.

So sah er Eva Sorel, die einem ihrer Äffchen eine Walnuß reichte.

Jetzt erhob sich der Schiffer und nahm seine Kappe ab. Und Christian sah Sir Denis Lay und den Grafen von Westmoreland, die einander begrüßten und sich die weißbehandschuhten Hände reichten; ein nichtssagender Vorgang, der aber etwas Grelles und Schneidendes hatte.

Jetzt erwachte der Bursche auf der Bank, rekelte sich, gab sich einen Ruck und starrte finster erstaunt auf die Fremden, indes die von ihrem abscheulichen Erlebnis hingeworfene Katharina den Kopf herüberwandte und erschrocken das Deckbett bis an das Kinn zog. Da sah Christian das anmutige Bild der im leeren, von Blitzen durchflammten Saal ballspielenden Lätizia wieder, und jedes Ding, auf das sein Auge fiel, hatte Bezug auf ein andres aus der andern Welt.

Die Neugier, die ihn hergetrieben, nährte noch das lüsterne Lächeln auf seinen Lippen. Aber sein Blick suchte Hilfe bei Crammon, und er empfand das Unschickliche seines stummen, dummen Dastehens, das Zwecklose und Törichte des nächtlichen Ausflugs überhaupt. Kaum erträglich erschien ihm der Aufenthalt in dem niedrigen Raum, der Geruch mangelhaft gepflegter Körper und jahrelang getragener Kleider.

Bis zum letzten Augenblick hatte er sich vorgestellt, daß er mit dem Mädchen sprechen würde. Aber gerade dies erwies sich als unausführbar. Er getraute sich nicht einmal, den Kopf in die Richtung zu wenden, wo sie lag. Dabei war ihm beständig gegenwärtig, wie er sie dort draußen gesehen hatte, wegtaumelnd von den Biertischen, mit aufgelöstem Haar und zerrissener Bluse.

Wenn er die Worte überlegte, die er ihr sagen könnte, dünkte ihn jedes einzelne besonders überflüssig und gemein.

Der Schiffer sah ihn an, das Weib sah ihn an, der Bursche sah ihn an, letzterer mit tückisch verkniffenen Augen, als bereite er sich zu handgreiflicher Beleidigung vor, und nun trat auch noch ein alter Mann aus einem Verschlag hervor, wo Kartoffeln aufgehäuft waren, und heftete trübe Blicke auf ihn. In der Bedrängnis, in die ihn dies peinigende Anschauen versetzte, machte er ein paar Schritte gegen das Bett Katharinas. Die hatte ihr Gesicht zur Wand gekehrt, lag regungslos da. In einem Anfall zorniger Verzweiflung griff er in die Taschen, erst in die linke, dann in die rechte, fand nichts, wußte auch nicht recht, was er suchte, spürte dabei den Diamantring am Finger, der ein Geschenk seiner Mutter war, zog ihn hastig herunter und warf ihn auf das Bett, mitten zwischen die Hände des Mädchens, wie einer, der sich loskaufen will.

Katharina bewegte den Kopf, erblickte den herrlichen Ring, und Verachtung und Bestürzung, Lust und Furcht wechselten in ihren Zügen; sie hob den Blick, senkte ihn wieder und wurde bleich. Ihr Gesicht war nicht schön; es war durch die Empfindungen entstellt, deren Beute sie in den kürzlich vergossenen Stunden gewesen war. Aus einem Grund, der ihm selbst rätselhaft war, mußte Christian plötzlich lachen, heiter und herzlich lachen; zugleich drehte er sich gebieterisch nach Crammon um und forderte ihn durch eine Gebärde zum Gehen auf.

Crammon hatte indes die Peinlichkeit der Situation auf seine praktische Weise zu lösen beschlossen. Er richtete ein paar Worte an den Schiffer, der in seinem kölnischen Platt antwortete, dann nahm er aus der Brieftasche zwei Scheine und legte sie auf den Tisch. Der Schiffer betrachtete die Scheine, die Hände des Weibes langten danach, Crammon schritt zur Tür.

Fünf Minuten, nachdem sie das Haus betreten hatten, verließen sie es wieder, und zwar schnell, mit Schritten von Flüchtenden.

Während sie im Wagen über das holperige Pflaster fuhren, sagte Crammon mürrisch: »Du bist deinem Zahlmeister hundert Mark schuldig. Das andre, was nicht Bargeld ist, will ich verschmerzen. Oder kannst du mir den verlorenen Schlaf bezahlen?«

»Ich verehre dir den chinesischen Apfel aus ambrafarbenem Elfenbein dafür, der dich bei dem Händler in Antwerpen so begeistert hat,« erwiderte Christian.

»Tu das, mein Sohn,« sagte Crammon, »aber spute dich, sonst bekomme ich aus Wut über diese Geschichte ein Gallenfieber.«

Aber als er am Mittag ausgeschlafen hatte, betrachtete Crammon das Vorgefallene mit der philosophischen Milde, deren er unter Umständen fähig war, und nachdem sie köstlich gefrühstückt hatten, sagte er, indem er die kleine Pfeife stopfte: »Solche Extravaganzen im Stile Harun al Raschids führen zu nichts, mein Lieber. Diese dunklen Tiefen kannst du nicht ergründen. Wozu in unbekanntem Revier jagen, da das bekannte noch so viele Reize hat? Sieh deinen ergebenen Diener an, der vor dir sitzt, eine wahre Fundgrube von Rätseln und Geheimnissen. Deshalb sagt auch der Dichter so treffend: Was wissen wir von Sternen, Wasser und Wind? Was von den Toten, die unter der Erde sind? Was von Vater und Mutter, Weib und Kind? Das Herz ist gefräßig, das Auge blind.«

Christian lächelte kühl. Verse, dachte er geringschätzig, Verse . . .

5

Als sie in dem neuen Prachtbau am Schwanheimer Forst eintrafen, fanden sie dortselbst große Unruhe und eine Menge Gäste. Lätizia war noch nicht gekommen, Felix Imhof wurde stündlich erwartet, Lieferanten und Postboten kamen und gingen ununterbrochen, es war ein Treiben wie in einem Bienenstock.

Frau Richberta begrüßte Christian mit gehaltener Würde, obwohl die Freude ihren Augen einen Phosphorglanz verlieh. Judith sah angegriffen aus und nahm von dem zurückgekehrten Bruder wenig Notiz. Nur einmal, am Abend, stürzte sie ihm plötzlich in die Arme und gab einen sonderbar wilden Laut von sich, der eine sinnliche Ungeduld, verborgene Begierden, deren Beute das kalte und ehrgeizige Mädchen allzu lange gewesen war, verräterisch kundgab.

Unangenehm berührt, machte sich Christian von ihr los.

Er ging mit Crammon auf die Jagd, oder sie fuhren in die benachbarten Städte. Nirgends hielt es Christian, er wollte immer weiter, immer woanders hin. Auch sein Blick wurde unstet; wenn sie durch die Straßen schritten, schaute er verstohlen in die Fenster von Wohnungen und in die Flure von Häusern.

Eines Nachts saßen sie in einem Weinkeller zu Mainz und tranken Bernkastler Doktor, dreißigjährig und von seltener Blume. Crammon, Kenner durch und durch, füllte mit verliebter Miene sein Glas stets aufs neue. »Sublim,« sagte er und steckte ein dickbestrichenes Kaviarbrot in den Mund; »sublim. Das sind die Wirklichkeiten des Lebens. Das sind meine Altäre, meine Erbauungsschriften, meine Reliquien, meine stillen Andachten. Die unsterbliche Seele ruht, und hinter mir im Staub liegt das Erhabene.«

»Sprich wie ein ordentlicher Mensch,« sagte Christian.

Aber der Weinselige fuhr unbeirrt fort: »Ich habe genossen das irdische Glück. Das hab ich, Bruderherz, das hab ich, in Hütten und Palästen, im Süden und im Norden, zu Wasser und zu Land. Nur die letzte Erfüllung ward mir nicht. O Ariel, warum hast du mich verstoßen?«

Er seufzte und zog ein kleines, kostbar gebundenes Album aus der Brusttasche, das er immer bei sich trug. Es enthielt zwölf schöne Photographien der Tänzerin Eva Sorel. »Sie ist wie ein Knabe,« sagte er, dem Anblick der Bildnisse hingegeben, »ein schlanker, spröder, schneller Knabe. Sie steht an der Grenze des Geschlechts, die Zweideutige, Zweigestaltige, wo Männer verrückt werden, wenn sie an Fleisch und Blut nur denken. Du schlüpfrige Eidechse, du liebesnüchterne Amazone! Graut dir nicht auch ein wenig, Christian, rieselts dir nicht kühl in den Adern, wenn du sie in deinen Armen dir vorstellst, auf einem Bett mit ihr, Brust an Brust? Mir graut. Da ist etwas von Widernatur darin und von Schändung. Wem sie die Lippen reicht, der ist verloren. Das haben wir ja erlebt.«

Christian verspürte auf einmal Sehnsucht, in einem Wald zu sein, in einem stillen, finstern Wald. Es graute ihm, aber in andrer Weise, als Crammon meinte. Er sah ihn an und hatte Mühe, zu begreifen, daß da ein vertrauter Mensch vor ihm saß, dessen Antlitz und Gestalt er schon tausendmal ohne nachzudenken gesehen hatte.

»Alle sind Dirnen, mein süßer Ariel,« begann Crammon wieder, das letzte Bild betrachtend, auf dem Eva mit dem Traubenkorb tanzend dargestellt war, »alle, alle, alle sind Dirnen, unzüchtige und wilde oder furchtsame und geheime, nur du bist rein; Vestalin du, Halbgespenstchen; Spinnenwesen, das an seinem selbstgesponnenen Faden durch die Lüfte steuert. Laß uns trinken, Freund, wir sind aus Dreck gemacht und müssen Feuer als Medizin nehmen.«

Er trank das Glas leer, stützte den Kopf in die Hand und verfiel in melancholisches Sinnen.

Plötzlich sagte Christian: »Ich glaube, Bernhard, wir müssen uns trennen.«

Crammon starrte ihn an, wie wenn er nicht recht gehört hätte.

»Ich glaube, wir müssen uns trennen,« wiederholte Christian mit leiser Stimme und einem unbestimmten Lächeln; »wir sind nicht mehr für einander, glaube ich. Geh du deiner Wege, ich will meine gehen.«

Crammons Gesicht wurde vor Zorn und Erstaunen dunkelrot. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und knirschte: »Was fällt dir ein? Gibst mir den Laufpaß wie einem Dienstboten? Mir?« Er erhob sich, nahm Hut und Mantel und ging.

Christian blieb noch lange in Gedanken sitzen, das unbestimmte Lächeln auf den Lippen.

Am folgenden Tag beim Erwachen, als Christian nach seinem Diener läutete, trat an Stelle des Dieners Crammon mit einem tiefen Bückling ins Zimmer. Über dem linken Arm trug er die gebürsteten Kleider, in der rechten Hand die gereinigten Schuhe. Im Ton des Dieners wünschte er guten Morgen, legte dann die Kleider auf einen Stuhl, stellte die Stiefel auf den Boden, fragte, ob das Bad gerichtet werden solle und was der gnädige Herr zum Frühstück befehle, alles mit vollkommenem Ernst, mit einem traurigen Ernst beinahe und einer Anmut innerhalb der gespielten Rolle, die Wohlgefallen erweckte.

Christian mußte lachen. Er streckte Crammon die Hand entgegen. Das Spiel fortsetzend, trat Crammon einen Schritt zurück und verbeugte sich verlegen. Dann zog er die Vorhänge auf, öffnete ein Fenster, brachte das frische Hemd, die Strümpfe, die Krawatte, lispelte noch einige Fragen und ging, um nach einer Weile mit dem Frühstückstablett wiederzukehren. Nachdem er den Tisch gedeckt und Teller und Tassen geordnet hatte, stand er mit geschlossenen Hacken und vorgeneigtem Haupt; endlich, als Christian abermals lachte, veränderte sich der Ausdruck seiner Züge, und er fragte, halb spöttisch, halb trotzig: »Willst du noch immer behaupten, daß du mich entbehren kannst?«

»Mit dir kann man nicht rechten, Bernhard,« antwortete Christian.

»Es gehört nicht zu meinen Gewohnheiten, von der Tafel aufzustehen, wenn erst die Suppe serviert ist,« sagte Crammon; »kommt meine Zeit, so troll ich mich von selber. Fortschicken lass ich mich nicht.«

»Bleib, Bernhard,« versetzte Christian beschämt, »bleib nur bei mir.« Und sie reichten sich die Hände.

Es wollte aber Christian scheinen, daß aus dem Freund nun wirklich ein Diener geworden sei, ein Mensch jedenfalls, gegen den er nicht mehr verpflichtet war, sich aufzuschließen, an den ihn kein inneres Band mehr knüpfte, ein Begleiter nur.

Von da an herrschten Scherz und oberflächliche Tändelei in ihren Gesprächen ausschließlich, und Crammon merkte nicht oder übersah es mit Fleiß, daß seine Beziehung zu Christian verwandelt war.

6

Die Ankunft des Argentiniers verursachte Aufsehen unter den Gästen des Hauses Wahnschaffe. Er hatte fremdartige Gewohnheiten. Den Damen, die er begrüßte, drückte er mit solcher Lebhaftigkeit die Hand, daß sie einen Schrei unterdrückten. Wenn er eine Treppe herabkam, blieb er vor den letzten Stufen stehen, schwang sich wie ein Akrobat über das Geländer und ging dann weiter, als ob dies die natürlichste Sache von der Welt wäre. Der Gräfin hatte er ein kleines, löwengelbes Hündchen geschenkt, und sooft er diesem Hündchen begegnete, zwickte er es ins Ohr, bis es entsetzlich zu quietschen begann. Aber er tat es nicht mit Lustigkeit und Lachen, sondern trocken und geschäftsmäßig.

Von den zahlreichen Koffern, die er mitgebracht, war einer der größten als Reiseapotheke eingerichtet. Es befanden sich darin, festgeschraubt in Behältern, alle möglichen Mixturen, Pulver und Medikamente; Dosen, Tuben, Schachteln und Gläser, und wenn jemand über eine Unpäßlichkeit klagte, wußte er sogleich ein Mittel aus dem großen Koffer dagegen und empfahl es dringlich.

Felix Imhof hatte brennendes Interesse für ihn gefaßt. Wo er seiner habhaft werden konnte, zog er ihn beiseite und fragte ihn aus, nach seiner Heimat, nach seinen Plänen und Geschäften, nach seinem Außen- und seinem Innenleben.

Dies ertrug die eifersüchtige Judith nicht. Sie machte ihrem Verlobten Szenen und warf Lätizia vor, daß sie Stephan Gunderam nicht zu fesseln wisse.

Lätizia wunderte sich mit großen Augen. Sie fragte unschuldig-kokett: »Was kann man denn dazu tun?«

»Man muß wissen, was ihnen Vergnügen macht,« erwiderte Judith zynisch.

Sie haßte den Argentinier, doch wenn sie allein mit ihm war, suchte sie ihn zu umgarnen. Wäre es möglich gewesen, ihn Lätizia abspenstig zu machen, sie hätte es ohne Skrupel getan, aus bloßer Unersättlichkeit.

Ihre Augen glitzerten in beständiger, heimlicher Begierde. Sie ging mit Imhof, Lätizia und Stephan Gunderam ins Theater, als Edgar Lorm in der Jüdin von Toledo gastierte. Der Beifall, mit dem der Schauspieler überschüttet wurde, wühlte ihre ganze Seele auf, und sie begehrte. Was aber begehrte sie? Den Mann? den Künstler? seine Kunst? seinen Ruhm? Sie hätte es nicht zu sagen vermocht.

Sie wartete ungeduldig auf Crammon, von dem sie wußte, daß er mit Edgar Lorm befreundet war. Crammon sollte den Schauspieler ins Haus bringen. Sie war gewohnt, daß jeder kam, nach dem sie die Angel warf. Sie bissen an, sie wurden serviert, und man tat sich, je nach ihrem Wohlgeschmack, gütlich an ihnen. Der Verbrauch an Menschen war groß.

Aber Crammon und Christian kehrten erst zurück, als Lorms Gastspiel schon zu Ende war. Judith geriet in schlechte Laune und quälte ihre Umgebung grundlos. Wäre ihr Wunsch erfüllt worden, so hätte sich ihr flackerndes und immer neue Nahrung aufgreifendes Gemüt vielleicht beruhigt, doch nun verrannte sie sich eigensinnig in den Gedanken an das, was ihr entgangen war.

7

Christian und Crammon waren eine Woche lang bei Klementine und Franz Lothar von Westernach in der Steiermark. Klementine hatte Crammon des Bruders wegen gerufen, der vor einiger Zeit tief verstört von einem Aufenthalt in Ungarn zurückgekommen war.

Crammon und Franz Lothar waren alte Freunde. Der diplomatische Beruf hatte den offenen und schmiegsamen Menschen zurückhaltend und spröde gemacht; er nahm den Beruf ernst, obwohl er ihn nicht liebte. Eine hypochondrische Gemütsverfassung hatte sich schon frühzeitig in ihm entwickelt.

Christian faßte Sympathie für ihn. Wenn er ihn so trüb vor sich hinstarren sah, fühlte er sich versucht, ihn zu fragen. Klementine, in ihrer leer plaudernden Manier, gab Crammon Verhaltungsmaßregeln, zu denen dieser die Achseln zuckte.

Sie sagte, sie habe an ihren Vetter, den Baron Ebergeny, geschrieben, auf dessen Gut in Syrmien Franz Lothar als Gast geweilt hatte. Der Baron aber, ein halber Bauer, hatte ihr keine Aufklärung von Belang zu geben vermocht; er hatte nur angedeutet, daß er und Franz Lothar an einem der letzten Tage von dessen Anwesenheit bei einem Scheunenbrand in Orasje, einem Dorf in der Nähe des Guts, zugegen gewesen, und daß bei diesem Brand viele Menschen ums Leben gekommen seien.

Aus Franz Lothar selbst war nichts herauszubringen. Er schwieg beharrlich. Je mehr sich die Schwester um ihn bemühte, je finsterer schloß er sich zu. Mochte sein, daß Crammon eines Blickes, eines Tones fähig war, der sein erstarrtes Inneres traf und es löste; an einem Abend geschah das Unerwartete. Es erwies sich, daß eben jener Scheunenbrand die Ursache der krankhaften Melancholie geworden war.

Klementine hatte sich nach ihrer Gepflogenheit bald zur Ruhe begeben. Crammon, Christian und Franz Lothar saßen stumm beieinander. Plötzlich, kein äußerer Vorgang bot den Anlaß hierzu, bedeckte Franz Lothar das Gesicht mit den Händen, und ein Schluchzen brach aus seiner Brust. Crammon beschwichtigte ihn, streichelte ihm über die Haare, ergriff ihn bei den Händen; umsonst, das Schluchzen wurde zu einem Weinkrampf, der den Körper in Stößen erschütterte.

Christian saß unbeweglich da. Es wurde ihm bitter in der Kehle, denn er spürte das Triftige und die Seelenwahrheit in dem Ausbruch von Schmerz mit unerwarteter Stärke.

Jäh, wie der Krampf begonnen, endete er. Franz Lothar erhob sich, ging mit seinen ziehenden Schritten auf und ab und sagte: »Ihr sollt hören, was da war.« Danach setzte er sich wieder und erzählte.

Im Dorf Orasje stand eine abendliche Tanzunterhaltung bevor. Es gab keinen Saal, und wie in solchen Fällen üblich, wurde die große gedielte Scheune eines Bauern hergerichtet. Zahlreiche Lampen wurden aufgehängt und die Holzwände mit Laub und Blumen geschmückt. Dem Brauch gemäß erhielten die ringsum auf den Gütern wohnenden Herrenfamilien Einladungen zu dem Fest; ein reitender Bote überbrachte sie mündlich und feierlich.

Franz Lothar bat seinen Vetter, den Ball der Bauern mit ihm zu besuchen. Seit langem war ihm viel Rühmens gemacht worden von dem Bilde, das sich dabei entfaltete; die schneeweißen Gewänder der Männer, die derb und malerisch bunten der Frauen, die nationalen Tänze, die urtümliche Musik, all dies versprach Vergnügen und Kenntnis neuer Sitten.

Sie wollten erst zu einer späten Stunde hinüberfahren, wenn das Tanzen schon begonnen hatte; Bekannte aus ihrem Kreis, zwei junge Komtessen und deren Bruder, hatten die Absicht gehabt, sich ihnen anzuschließen; sie gingen aber dann vor ihnen hin, weil die jungen Damen am Ball teilnehmen und keinen Tanz versäumen mochten. Die ältere von ihnen, Komtesse Irene, verehrte Franz Lothar herzlich und seit langem.

Einige Tage vor dem Ball waren die Mädchen von Orasje mit den Burschen in Zwistigkeiten geraten. Beim Kirchgang hatte ein Bursche einer siebzehnjährigen Schönen, die ihn ihre Abneigung zu deutlich hatte merken lassen, eine lebendige Maus auf die entblößte Schulter gesetzt. Schreiend lief das Mädchen zu den Gefährtinnen, die sich um sie scharten und eine aus ihrer Mitte an die Burschen schickten mit dem Verlangen, der Missetäter solle Abbitte leisten.

Dies wurde verweigert; unter Lachen und Spott, aber die Mädchen wollten den mutwilligen Streich nicht leicht nehmen, sie wiederholten ihre Forderung schroffer, und als sie zum zweitenmal abgewiesen wurden, faßten sie den Beschluß, die Burschen von Gradiste zum Ball einzuladen, mit denen die von Orasje seit vielen Jahren in Feindschaft lebten. Sie wußten, welche Beleidigung sie damit den ihren zufügten, aber sie bestanden darauf, die Übermütigen zu bestrafen, und obwohl sie gewarnt wurden, auch von ihren Müttern und Vätern, obwohl stumme und laute Drohungen aller Art ihnen hätten Furcht einflößen müssen, verblieben sie bei ihrem Willen.

Die Burschen von Gradiste natürlich jubelten und triumphierten über den billigen Sieg; am Abend des Tanzfestes waren sie vollzählig und schön angetan zur Stelle, brachten sogar ihre eigne Musikkapelle mit. Von den jungen Männern von Orasje aber erschien nicht ein einziger. Sie zogen in der Dämmerung unheimlich still durch die Straßen des Dorfs und waren dann für eine Weile verschwunden.

Die Alten von Orasje, die Verheirateten, saßen im Hof an Tischen, plauderten, nicht so aufgeräumt wie sonst an solchen Abenden, denn sie spürten die rachebrütende Stimmung ihrer Söhne und fürchteten sie, tranken Wein und lauschten der Musik. In der Scheunenhalle waren über dreihundert junge Menschen versammelt; die Luft war schwül, und die Tanzenden waren in Schweiß gebadet. Plötzlich, während eines Csardas, wurden die beiden Scheunentore zu gleicher Zeit von außen zugeschlagen. Die es sahen und hörten, hielten im Tanzen inne. Nun schallte ein widrig-starkes Geräusch in die grellen und jubelnden Töne der Instrumente; es war der Klang von Hämmern, und eine einzelne Stimme rief gellend angstvoll: »Man nagelt die Türen zu!«

Die Musik schwieg. Die Atmosphäre war in einem Augenblick erstickend geworden. Alle starrten versteinert gegen die Türen; ihr Blut gerann bei dem fürchterlichen Pochen der Hämmer. Auch lautes Hin- und Widerreden drang von draußen herein; die Alten erhoben Einspruch, das Streiten wurde zum Lärm, zum wüsten Geschrei, zu einem anwachsenden Heulen, und da begann es auf einmal zu knistern und zu prasseln; vom Schlagen der Hämmer war eine Lampe heruntergefallen, das Petroleum hatte sich entzündet, und die mürbe Bretterdiele hatte wie Zunder Feuer gefangen, das nicht mehr zu ersticken war.

Da war es mit jeder menschlichen Besonnenheit und Haltung zu Ende. Im Nu verwandelten sich die Hunderte in wilde Tiere. Die Burschen warfen sich in rasender Kraft gegen die verschlossenen und vernagelten Tore. Aber die waren aus dickem Eichenholz gezimmert und spotteten der Anstrengung. Die Mädchen stießen irrsinnige Schreie aus, und da der Rauch durch die Fugen und die sternartig ausgesägten Fensterlöcher nicht abziehen konnte, umhüllten sie mit den Röcken ihre Köpfe. Andre schleuderten sich wimmernd zu Boden, und wenn sie von den Hin- und Hertobenden getreten wurden, wanden sie sich in Zuckungen und streckten die Arme über sich. Das trockene Fachwerk stand rasch in lichterlohen Flammen. Hochofenhitze verbreitete sich. Einzelne rissen sich die Kleider vom Leib, Mädchen wie Burschen, und in der Todesangst und Todesqual umschlangen sie sich und raubten, im düstersten Taumel, dem hinschwindenden Leben noch einen Fetzen Fleischeslust.

Diese umschlungenen Paare sah Franz Lothar später mit eignen Augen als verkohlte Überreste zwischen den rauchenden Trümmern. Er langte mit seinem Vetter an, als das Entsetzliche bereits vorüber war. Den Flammenschein hatten sie schon von weitem bemerkt und ihre Pferde zur Eile getrieben. Von den umliegenden Dörfern strömten Scharen von Menschen herzu; Hilfe konnte jedoch nicht mehr geleistet werden, die Scheune war in einem Zeitraum von fünf Minuten niedergebrannt, und alle darin Eingesperrten, mit Ausnahme von fünf oder sechs, hatten den Tod gefunden.

Unter den Opfern befanden sich auch die Komtesse Irene, ihre Schwester und ihr Bruder. Wie schrecklich dies auch war, für Franz Lothar fügte es dem Schrecken des Ganzen nur wenig hinzu. Das Bild der Trümmerstätte, der Anblick der rauchenden Leichen, der Geruch davon, Geruch von Blut und versengten Haaren und verbrannten Kleidern, die glatthäutigen, gefleckten Dorfhunde, die gierig knurrend um den heißen Herd voll gekochten Fleisches schlichen, die medusisch entstellten Züge der Erstickten, die unter den Körpern der Verkohlten unversehrt lagen, der stumme und der laute Schmerz der Mütter, Väter und Brüder, die syrmische Nacht mit Qualm bis an den gestirnten Himmel, das alles schlug ihn nieder wie mit Knütteln, und eine schwarze Verzweiflung nistete sich unlöslich in seinem Gemüte ein.

Daß er sich endlich hatte aussprechen können, war Erleichterung. Er saß am Fenster und blickte ins Dunkel hinaus.

Crammon, Gewölk auf der zerfurchten Stirn, sagte: »Sie können nur mit der Peitsche im Zaum gehalten werden. Was ich bedaure, ist die Abschaffung der Folter. Unsre milde Gesetzgebung soll der Teufel holen.« Damit ging er hin und küßte Franz Lothar auf die Backe.

Christian hatte eine Empfindung von Kälte und Starrheit im Rücken.

Für den nächsten Morgen war die Abreise bestimmt. Crammon trat ins Zimmer zu Christian, der so in Gedanken verloren war, daß er den Gruß des Freundes nicht erwiderte. »Was treibst du, Mensch!« rief Crammon aus und musterte ihn; »hast du in den Spiegel geschaut?«

Christian war in diesen Tagen ohne seinen Diener, sonst hätte der Mißgriff nicht geschehen können: er trug zu einem lichtgrauen Anzug einen Schlips von derselben Farbe.

»Ich bin sehr zerstreut heute,« sagte Christian mit halbem Lächeln und band den Schlips wieder auf, um ihn durch einen andern zu ersetzen. Er brauchte hierzu dreimal soviel Zeit wie gewöhnlich. Crammon schritt ungeduldig auf und ab.


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