Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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23

Der Vorplatz mußte unversperrt gewesen sein; Isolde Schirmacher war zuletzt hinausgegangen. Es hatte eben zu dämmern begonnen, als die Zimmertür geöffnet wurde und Niels Heinrich eintrat.

Karen blieb sitzen. Sie sah nach ihm hin. Sie wollte sprechen, aber das Wort versickerte in der Kehle.

Sein Gesicht hatte den frech ekelnden Ausdruck wie immer. Um die flache, beständig schnuppernde Nase war es ein bißchen gelb. Er trug eine blaue Mütze, weite Hosen und einen gelben Schal um den Hals.

Schnuppernd schaute er sich im Zimmer um. Er schloß das linke Auge und spuckte.

Endlich murmelte Karen: »Was willst du?«

Er zuckte die Achseln und entblößte die verwahrlosten Zähne. Einer, im Mundeck, hatte eine große Goldplombe; sie war sichtlich neu.

»Was solls denn sein?« fragte Karen angstvoll. Ihr war jetzt oft so angstvoll.

Wieder sah man die kariösen Vorderzähne. Es konnte ein Lächeln vorstellen. Er ging auf die Kommode zu und zog eine Lade heraus. Er wühlte in Wäsche, ohne sich zu übereilen.

Hemden, Krausen, Strümpfe, Binden warf er auf die Erde. Dann kam die zweite Lade, dann die dritte. Den größten Teil ihres Inhalts warf er auf die Erde. Dann ging er zum Schrank. Er war verschlossen. Die Hand ausstreckend, heischte er beredt. Die Verwüstung auf dem Boden betrachtend, faßte sich Karen nicht sogleich. In ihrem dumpfen Innern flammte eine Halluzination von erneuter Verarmung auf. Niels Heinrich war nur Vorbote. Sie versuchte zu schreien, denn sie fürchtete sich vor ihm. Er machte eine Grimasse und bewegte nur leicht die Hand um ihre Achse. Die Gebärde mußte eine Gewalt haben: Karen langte in ihre Tasche und reichte den Schlüssel hinüber.

Er riß die Schranktür auf, beschaute prüfend den Inhalt, zerrte Schachteln hervor, die er kaltblütig umstülpte, schmiß die Gewänder auf den Boden wie vorhin die Wäsche, entdeckte im Winkel eine Holzschatulle, holte ein Messer heraus, sprengte den Deckel. Es war eine goldene Brosche darin, ferner die Brosche mit dem Ricordo di Venezia und ein silbernes Kettchen. Alle drei Gegenstände steckte er in die Tasche. Dann ging er ins Nebenzimmer; Karen hörte ihn Lärm machen; sie starrte ausdruckslos in die Luft. Nach einigen Minuten kam er zurück; es war mittlerweile dunkel geworden; drinnen brannte auf dem Nachttisch eine Kerze, die er angezündet. Im Vorbeigehen warf er einen verächtlichen Blick auf die Wiege. Die Tür ließ er offen.

Karen musterte in dem aus dem Nebenzimmer fallenden Halblicht ihre umherverstreuten Habseligkeiten. Plötzlich griff sie in ihre Bluse, holte die Photographie der Frau Richberta Wahnschaffe hervor und starrte mit vertieften, vor Aufmerksamkeit verfinsterten Blicken darauf nieder.

Sie sah nur die Perlen.

24

Als Niels Heinrich die Treppe herunterkam, stand Ruth Hofmann am Tor. Sie wartete auf ihren Bruder, der über die Straße gegangen war, um Brot zu kaufen. Er hinkte ein wenig, und sie konnte sich der Angst, daß ihm etwas zustoßen könne, selten entschlagen.

Sie blickte auf das im Laternenlicht glitzernde Pflaster, auf den Schein von Lampen aus den Stockwerken und höher hinauf, wo sie die Sterne zu suchen gewohnt war, auf undeutliche, rötlich glühende Wolken.

Niels Heinrich blieb stehen. Ruth schlug die großen grauen Augen zu ihm auf. Er maß das Figürchen von oben bis unten, die dichten Haare mit den Lockenenden, das ärmliche Flanellkleid, die schmutzigen und zertretenen Schuhe und zuletzt das klare, blasse, von einem ungeheuer fremden Leben durchflutete Gesicht. Sein Blick fraß sich ein, fiel tobend über sie her, riß ihr das Gewand von den Schultern, und sie, schaudernd wie sie noch nie geschaudert, von etwas Unbekanntem eiskalt bis ins Mark getroffen, wandte sich und schritt langsam gegen die Treppe, auf der sie benommen ein paar Stufen hinaufging.

Niels Heinrich schaute ihr nach. »Judenschickse,« murmelte er durch die Zähne. Der Anruf des heimkehrenden Gisevius weckte ihn aus seinem Brüten. Er zündete eine Zigarre an, schob die blaue Mütze in den Nacken und schlenderte aus dem Tor.

25

Ende Mai brachte Lätizia Zwillinge zur Welt, zwei Mädchen. Stephan fand, daß dies viel Weiblichkeit auf einmal sei. Trotzdem wurden Feste gefeiert. Haus und Garten wurden illuminiert, die Nachbarn zu Gast geladen, das Volk umsonst gespeist. Musik spielte, man tanzte und jubelte, die Brüder betranken und prügelten sich, es ging hoch her.

Lätizia lag in einem reichen Bett unter einem himmelblauen Baldachin. Von Zeit zu Zeit verlangte sie die Zwillinge zu sehen. Jedes ruhte appetitlich in einem Steckkissen. Sie waren einander mysteriös ähnlich. Die Amme, Eleutheria war ihr wohlklingender Name, brachte beide herbei, eins auf dem linken, eins auf dem rechten Arm. Eins hatte ein rotes Bändchen an die Schulter geheftet, eines ein grünes, damit man sie unterscheiden konnte. Das rotbebänderte sollte Georgette heißen, das grünbebänderte Christina. So wünschte es Lätizia. Stephan aber wünschte, daß jedes außerdem noch eine Reihe von glänzendern und schwungvollen Namen erhalten sollte; er stöberte unermüdlich in allen ihm erreichbaren Schmökern und Folianten herum und kam schließlich mit einer gewählten Blütenlese zu Lätizia: Honorata, Friedegund, Reinilda, Roswitha, Portiunkula, Symphorosa, Sigolina, Amalberga. Lätizia lachte Tränen; sie deutete auf die häßliche Amme und sagte: »So schön wie Eleutheria klingt doch keiner. Ich bleibe bei Georgette und Christina.« Wobei Christina schon jetzt ihr erklärter Liebling war.

Sie sah so reizend auf ihrem Lager aus, daß die Leute wie zu einer Schaustellung kamen, um sie zu bewundern. Es waren lauter ungebildete und einfältige Menschen, und Lätizia langweilte sich. Manchmal spielte sie mit Esmeralda Schach; das Mädchen, trunken von Neugier, richtete Fragen über Fragen an Lätizia; sie war während der Stunden der Entbindung zu einem Klumpen geballt vor der Altantür gelegen, und ihre unreife und lüsterne Phantasie war erfüllt von grausig-lockenden Bildern. Lätizia spürte es, und sie sagte: »Geh wieder fort, du; ich mag dich heut nicht leiden.«

Sie erschien sich von Gott geliebt und von Engeln gesegnet. Sie war stolz darauf, daß sie die war, die sie war: Lätizia, ein seltsames Wesen, auserkoren zu seltsamen Erlebnissen. Sie war sich selber neu in jedem Betracht. Sie liebte sich, aber es war keine Eigenliebe, kein eitles Genügen; es war etwas anders, das mit Dankbarkeit und Freude einer Beschenkten zusammenhing.

Daß sie nun zwei Kinder besaß, wirkliche Kinder mit Augen, Händchen und Füßchen, Kreaturen, welche zu zappeln und zu schreien vermochten, die man anziehen und ausziehen, füttern und herzen konnte, das erfüllte sie nicht so sehr mit Glück als die Erwartung, die sich an die knüpfte, das rätselhafte Unbekannte in ihnen, das rätselhafte Sein und Werden.

So lag sie da; schön, zierlich, heiter lag sie da und gab sich ihren Träumen hin.

Indessen fanden zwischen Stephan und dem alten Gunderam Kämpfe statt, bei denen es sich um den Escurial handelte. »Dein Schwarz-auf-Weiß gilt nicht,« höhnte der Alte, »zwei Mädchen sind noch kein Junge, die Masse macht es nicht; zwei Hennen sind auch noch kein Hahn.« Stephan schrie, er lasse sich nicht betrügen, er habe ein angestammtes Recht, er werde prozessieren, er werde es öffentlich verkündigen, wie man ihm mitspiele. Der Alte, die Hände auf die Hüften gestemmt, hatte nur ein Feixen zur Antwort. Es war Streit am Morgen, es war Streit am Mittag, es war Streit am Abend. Der Alte verschloß seine Tür und ließ die seit zwanzig Jahren gepackten Reisekoffer aufeinanderstapeln, fertig zum Transport. Stephan zerschlug Schüsseln und Gläser, warf Stühle durcheinander, stieß Drohungen aus, ritt Pferde zuschanden, bekam Konvulsionen, schickte zum Arzt und ließ sich Morphiumeinspritzungen verschreiben.

Es bildeten sich Parteien. Der Alte hetzte seine Frau auf, Stephan die Brüder; die Brüder machten die Dienstleute rebellisch, mit denen wieder Donna Barbara zeterte. Der Unfrieden wuchs. In der Nacht rumorte es gespensterhaft. Einmal erschallte aus einem Zimmer ein Schuß, alles stürzte ins Freie, nur Stephan fehlte. Er lag mit dem rauchenden Revolver im Bett und ächzte Er hatte gegen sein Herz gezielt und eine Arzneiflasche getroffen. Die Scherben schwammen in einer gelben Flüssigkeit auf dem Boden. Der Alte sagte: »Daß ein schlechter Rechtsgelehrter auch ein schlechter Schütze ist, wundert mich nicht; aber so miserabel zu zielen, dazu gehört schon eine verfluchte Bosheit.« Da konnte sich sogar Donna Barbara nicht enthalten zu bemerken: »Niederträchtig geredet wie ein Gunderam.« Und das Ehepaar stritt weiter bis zum Tagesgrauen.

Stephan verfiel dem Laster des Morphiumgenusses immer mehr. War er nüchtern, so peinigte er Tiere und Menschen. Die Brüder lehnten sich gegen die Beschimpfungen auf, mit denen er sie überhäufte, verschworen sich eines Tages und schlugen ihn, daß er brüllte wie ein Büffel. Lätizia kam ihm zu Hilfe, rief Knechte herbei und lieferte der Rotte eine regelrechte Schlacht. »Bleib bei mir,« jammerte Stephan, und sie mußte sich zu ihm setzen und ihm Trost spenden aus der Fülle ihrer Verachtung. Er verlangte, sie solle ihm Gedichte vorlesen; sie willfahrte ihm und las Gedichte vor. Nicht gerade solche, die sie liebte, sondern Gedichte von Baumbach, Julius Wolff und Frieda Schanz. In der Hausbibliothek, die aus vierzehn bis sechzehn Bänden bestand, gab es eine verschmierte deutsche Anthologie; daraus las sie vor. Stephan sagte: »Herrliche Worte,« und weinte.

Zu andrer Zeit aber begegnete er ihr mit Geringschätzung und Kälte, denn letzten Endes erschien sie ihm als die Schuldige an dem Mißlingen seiner Pläne. Lätizia nahm es gleichgültig hin; ihr Entschluß war gefaßt. Das Grauen vor dem Haus und seinen Bewohnern, der Familie und ihrem Treiben, dem ganzen Land und seiner Luft verlieh ihr Willenskraft. Wenn Stephan sie küssen wollte, erbleichte sie und sah ihn an, als habe er den Verstand verloren. Dann wütete er und drohte mit dem Ziemer. Sie hatte gelernt auf eine Weise zu lächeln, die ihn bändigte und seiner Sicherheit beraubte.

Friedrich Pestel war seit sechs Wochen in Buenos-Aires. Sie schrieb ihm, empfing seine Briefe heimlich. Der Indianerknabe, der sie einst zur Sternwarte begleitet, war ihr treuer und verschlagener Bote. Sie versprach, ihn mit nach Europa zu nehmen, was sein sehnlicher Wunsch war. Auch Eleutheria, die Amme, wünschte sich dies und beteuerte ihre Ergebenheit, als Lätizia sie vorsichtig ins Vertrauen zog. Alle Einzelheiten der Flucht wurden mit Friedrich Pestel verabredet; am Tag der Abfahrt des portugiesischen Dampfers »Dom Pedro« sollte Lätizia in Buenos-Aires sein. Mittel und Wege zu finden, um die Zwillinge hinzuschaffen, bedurfte eines verwickelten Listengespinstes. Sie ersann einen Roman.

Es lebte in der Hauptstadt ein kinderloses altes Ehepaar, Don und Donna Herzales. Der Mann war ein Bruder Donna Barbaras; sein großes Vermögen mußte nach seinem Tode den Gunderamschen Kindern zufallen. Aber da es vom schmutzigsten Geiz besessene Leute waren, blieb zu fürchten, daß sie in einer Laune oder einer zornigen Regung den Blutsverwandten die Erbschaft entziehen könnten. Sie hatten an die Gunderams seit vielen Jahren nicht geschrieben; die Beziehung beschränkte sich auf ehrerbietige Besuche, die Stephan und die Brüder ihnen je zuweilen abstatteten. Lätizia wußte dies. Nun fälschte sie einen Brief, den die Donna Herzales an sie richtete und worin die Bitte ausgedrückt war, die junge Mutter möge mit den Zwillingen in die Stadt kommen und ein paar Tage bei Onkel und Tante wohnen; doch solle sie ohne den Gatten erscheinen, damit man sie besser kennenlerne; Stephan könne nach einer Woche nachkommen und sie holen.

Dieses Sendschreiben, von Lätizia mit geschickt verstellter Hand verfertigt und mit der regulären Post eintreffend, verursachte große Aufregung in der Familie Gunderam. In feierlicher Beratung wurde das Für und Wider erwogen; Habgier und Angst siegten über die Bedenken. Der Alte diktierte Lätizia eine demütig-dankbare Antwort in die Feder; sie durfte ihre Ankunft für den von ihr selbst bestimmten Tag zusagen.

Es gelang ihr, den Brief verschwinden zu lassen.

An dem bedeutungsvollen Morgen schlug ihr das Herz wie eine Weckuhr. Die rumpelige Kutsche fuhr vor; Eleutheria stieg ein; die in weißen Kissengebirgen schlummernden Zwillinge wurden ihr gereicht. Stephan ging musternd um den Wagen herum, prüfte die Bespannung, beklopfte gnädig die Pferde; der Indianerknabe brachte das Handgepäck, verstaute es und kletterte stoisch gelassen auf den Bock; Don Gottfried, Donna Barbara, die Brüder, Esmeralda standen in ernster Gruppe: alles wartete auf Lätizia. Es dauerte fünf Minuten, es dauerte zehn Minuten, es dauerte zwanzig Minuten, Lätizia kam nicht. Stephan murrte, Don Gottfried sah höhnisch in die Luft, Donna Barbara blickte wütend zu den Fenstern empor. Endlich erschien sie.

Sie hatte zuletzt noch ihr Handtäschchen verlegt, worin sich ihr ganzer Schmuck befand. Sie besaß sonst nichts. Geld hatte sie keins.

Sie lächelte strahlend, reichte jedem die Hand, ließ sich von ihrem Gatten auf das Kinn küssen, nahm Platz und rief mit ihrer umflorten, gedehnten, ein wenig klagenden Stimme: »Vergeßt mich nicht und grüßt den Pater Theodor!« Pater Theodor war ein Kapuziner, der manchmal auf der Estanzia vorsprach, um zu betteln. Seiner zu gedenken, in diesem Augenblick, war der reine Mutwille.

Die winterliche Sonne verbarg sich in Nebeln. Lätizia dachte: wo ich hinfahre, wird Sommer sein.

Vierundzwanzig Stunden später stand sie mit Friedrich Pestel auf Deck des »Dom Pedro« und schaute beglückt auf das schwindende Land zurück.

26

Der Fuhrmann brüllte, aber es war schon zu spät: den hinkenden Knaben traf noch eine Ecke des mit einer Ladung Eisenschienen daherratternden Wagens, und er wurde niedergestoßen. Rasch sammelten sich Menschen; ein behelmter Schutzmann schuf sich Bahn.

Christian war eben aus der Driesener Straße eingebogen, als er den Knaben liegen sah. Er näherte sich der Stelle, einige Frauen machten ihm willig Platz. Wie er sich zu dem Knaben niederbeugte, sah er, daß er nur betäubt war; er regte sich bereits und schlug die Augen auf. Er schien auch nicht verletzt zu sein. Er blickte ängstlich um sich und fragte nach dem Geld, das er vor dem Fall in der Hand gehalten hatte. Es waren zwanzig oder dreißig Nickelmünzen gewesen; sie waren im Straßenkot verstreut.

Christian half ihm beim Aufstehen, und mit seinem weißen Taschentuch wischte er das besudelte Gesicht ab. Von größerer Wichtigkeit war es aber dem Knaben, das Geld wiederzubekommen; er konnte sich nicht bücken, kaum recht stehen. Christian sagte: »Hab nur Geduld, bis der Wagen weg ist,« und er machte dem Fuhrmann bemerklich, er solle fahren. Der Fuhrmann war noch in ein hitziges Zwiegespräch mit dem Schutzmann verwickelt, aber als dieser merkte, daß kein Unheil weiter geschehen sei, bedeutete er ihm gleichfalls zu fahren, schrieb jedoch seinen Namen auf und den des Knaben. Der Knabe war Michael Hofmann, Ruths Bruder.

Nun bückte sich Christian und klaubte die Münzen aus dem Kot. Die Zuschauer wunderten sich über den gutgekleideten Herrn, der auf dem schmutzigen Pflaster kniete, um verlorene Nickelmünzen aufzusammeln. Einige kannten ihn. Sie sagten: »Es ist der, wo im Quergebäude bei Gisevius wohnt.«

Jetzt erst lief Ruth herbei, die von Niels Heinrich Engelschall vom Torweg verscheucht worden war. Sie hatte auf der Treppe gewartet, bis sie nichts mehr von ihm sah, dann war sie wieder heruntergekommen, hatte Geschrei auf der Straße gehört, hatte gedacht, es hinge mit dem Menschen zusammen, der sie so wild und frech angestarrt, hatte noch gezögert, bis endlich Ahnung sie ins Freie trieb.

Sie machte nicht viel Wesens, verhehlte ihren Schrecken; die Stimme, mit der sie den Bruder ausfragte, klang heiter. Sie sprach ein vollendet reines Deutsch, mit einem Zwitscherton in der Kehle und außerordentlich rasch.

Als er die Münzen aufgeklaubt hatte, sagte Christian: »Nun wollen wir nachzählen, ob nichts fehlt.« Den Knaben am Arm führend, ging er mit ihm über die Straße und ins Haus. Ruth hatte auf der andern Seite die Hand des Bruders gefaßt, und so stiegen sie die Treppen hinauf. Sie betraten ein Zimmer, das durch seine Größe leer erschien, obwohl es zwei Betten, einen Tisch und einen Schrank enthielt. Es war das einzige Zimmer der Wohnung, daneben war die Küche.

Michael setzte sich aufs Bett; er war noch benommen von dem Sturz; er mochte vierzehn Jahre zählen, aber seine gespannten Züge mit den leidenschaftlichen Augen hatten die Reife eines Zwanzigjährigen.

Christian legte die Münzen auf den Tisch; sie klapperten kaum, so umkrustet von Schmutz waren sie. Ruth sah Christian an, sie schüttelte mitleidig den Kopf, eilte in die Küche, kam mit einem nassen Tuch zurück und kniete nieder, seine Beinkleider abzuwischen, die über und über voll Kot waren. Er wehrte ihr, sie achtete es nicht, und als er zurückwich, rutschte sie auf den Knien nach. Nun ließ er es geschehen und stand ein wenig töricht da, während sie behend und fleißig putzte.

Auf einmal erhob sie das Gesicht zu ihm. Sein Blick hatte auf den vielen Büchern geweilt, mit denen der Tisch bedeckt war; er fragte: »Sind das Ihre Bücher?«

Sie erwiderte: »Freilich sind es meine Bücher.« Und sie sah ihn an; sah ihn an mit einem erstaunlichen Blick voll Kühnheit und wissender Freundschaft. Indem in seinen Zügen der alte hochmütige Ausdruck brach, mit dem sich zu schützen seine Art war, stutzte er über eine Wahrnehmung, die ihn zornig machte gegen sich selbst, weil sie ihm wie Widersinn und Unnatur erschien, ihm Furcht einflößte wie vor etwas Bösem und Unheimlichem in seinem Auge: ihm dünkte nämlich, er gewahre ein blutiges Mal auf der Stirn des Mädchens.

Er kehrte den Blick erschrocken ab, scheute sich, ihn wieder hinzuwenden, aber als er sich dann bezwang und wieder niederschaute, war nichts mehr zu sehen. Da atmete er auf und äußerte Unzufriedenheit mit sich durch ein Runzeln der Brauen.

27

Acht Tage erst schwamm der »Dom Pedro« auf der hohen See, da erkannte Lätizia zu ihrem Leidwesen, daß Friedrich Pestel doch nicht der rechte Mann für sie sei.

Es verlangte sie nach einem Mann, der Phantasie besaß und eine schwungvolle Seele. Im Anblick des unendlichen Meeres und des nächtlichen Sternenhimmels war ein niemals ganz verblaßtes Sehnsuchtsbild wieder lebendig geworden, und sie sagte es Pestel offen und ehrlich, sie könne mit ihm nicht glücklich werden. Pestel war wie aus den Wolken gefallen. Er schwieg und wurde melancholisch.

Es befand sich ein österreichischer Ingenieur an Bord, der in Peru eine Eisenbahn gebaut hatte und nun in die Heimat zurückkehrte. Sein verwegenes Aussehen und seine heitere Erzählergabe gefielen Lätizia, und obwohl es der Schiffsgesellschaft wegen, die sie mit Pestel verheiratet glaubte, nicht anging, daß sie es ihn zu deutlich merken ließ, konnte der Ingenieur, der ein beherzter Abenteurer war und wenig mehr, nicht lange darüber im Zweifel bleiben.

Trotz seines echten Schmerzes machte sich Friedrich Pestel Vorwürfe, daß er für Lätizia, die Amme und die Zwillinge die teuren Überfahrtsbillette erster Kabine und für den Indianerknaben zweiter Kabine aus seiner Tasche bezahlt hatte. Außerdem hatte er noch vor der Abreise in aller Hast einige Toiletten und Wäsche für die Frau gekauft, die er aus der Drangsal entführt und mit der einen Lebensbund zu schließen er fest überzeugt gewesen war.

Der Indianerknabe war seekrank und litt bereits an Heimweh. Lätizia versprach ihm, daß sie ihn von Genua aus wieder zurückschicken werde.

Unter den Passagieren, die ein lebhaftes Augenmerk auf Lätizia gerichtet hatten, war auch ein amerikanischer Journalist, der mehrere Monate in Brasilien gewesen war. Er war witzig, verfertigte Gelegenheitsgedichte, leitete Gesellschaftsspiele und Tanzunterhaltungen, und er gefiel Lätizia fast ebensosehr wie der Ingenieur. Zwischen den beiden gab es alsbald eifersüchtige Plänkeleien, und sie waren einander im Wege.

Eines Abends saßen sie als die letzten Gäste in der Bar, beide mochten nicht schlafen gehen, und sie beschlossen, um eine Flasche Claret zu würfeln.

Sie würfelten, und der Österreicher verlor.

Die Flasche kam, der Amerikaner schenkte ein, sie tranken, lehnten sich zurück, rauchten, sahen einander bisweilen forschend an, schwiegen.

Auf einmal sagte der Yankee durch die Zähne, zwischen denen er seine kurze Pfeife hielt: »Nettes Weib.«

»Reizend,« erwiderte der Ingenieur.

»Hat viel Humor für eine Deutsche.«

Der Ingenieur blies bedächtig Kringeln. »Durch und durch entzückend,« sagte er.

Sie schwiegen wieder. Dann begann der Amerikaner: »Ist eigentlich Nonsens, daß wir uns gegenseitig die Jagd verderben sollen. Meinen Sie nicht? Würfeln wir lieber.«

»Gut, würfeln wir,« stimmte der Ingenieur bei. Er ergriff den Becher, schüttelte ihn, stürzte ihn, die Würfel klapperten auf dem Marmor. »Achtzehn,« sagte der Ingenieur, beinahe erstaunt über sein Glück.

Der andre sammelte die Würfel wieder, schüttelte ebenfalls den Becher, ließ aber die Würfel phlegmatisch auf die Tischplatte gleiten. »Achtzehn,« sagte er seelenruhig, doch konnte auch er seine Verwunderung, die gegründeter war, nicht ganz verbergen.

Sie waren ziemlich ratlos. Sie hüteten sich, das Spiel zu wiederholen. Sie leerten die Flasche und trennten sich unter Höflichkeitsbezeigungen.

Lätizia lag in ihrem Bett, mit weitoffenen Augen und lauschte auf das Pochen der Maschinen, das leise Krachen der Schiffswände, das leise Summen Eleutherias, die in der Nachbarkabine die Zwillinge beruhigte. Sie dachte an Genua, das schon nahe Ziel der Fahrt, und es traten reichgeschmückte Edelleute vor ihren Geist, romantische Verschwörer im Stil Fieskos, fackelbeleuchtete Gäßchen und Begebenheiten der Liebe und Leidenschaft. Das Leben erschien ihr herrlich bunt, die Zukunft wie ein goldenes Tor.

28

Das Kind war weggebracht.

Christian fragte, wo es sei. Karen zuckte störrisch die Achseln. Christian ging zum Zionskirchplatz, in die Wohnung der Witwe Engelschall. Die Witwe Engelschall sagte kurz und barsch: »Ich habs in sichere Verwahrung jebracht. Kümmern Sie sich nicht weiter. Was kümmern Sie sich überhaupt? Ist ja nicht Ihres.«

Christian sagte: »Sie werden mir aber doch angeben können, wo es ist?«

Die Witwe Engelschall erwiderte unverschämt: »Uf keenen Fall. Nischt zu löten an de hölzerne Badewanne. Das Wurm hats sehr gut, und zahlen werden Sie doch hoffentlich ooch n bißchen was an seine Nährmutter. Das is Ihre Pflicht, da können Sie sich nicht drumrumdrücken.«

Christian blickte wortlos in das fette Mondgesicht, das auf einem dreifachen Kinn ruhte und aus dem ihm die Stimme eines alten Seemanns entgegengrollte. Dann nahm er wahr, wie sich diese schwitzende Fleischmasse zu Freundlichkeit verzerrte. Auf die Glastür deutend, die das sogenannte Berliner Zimmer, in welchem er stand, von den übrigen Räumen trennte, sagte die Witwe Engelschall in süßlichem Hochdeutsch, ob er nicht nähertreten wolle, ob sie ihm nicht ein Schälchen Kaffee vorsetzen dürfe; Baumkuchen und Kaffee, wer wolle das verschmähen? Auch erwarte sie eine Baronin, die fahre extra aus Küstrin herein, eine vornehme Dame; die fahre herein, um sich in einer verwickelten Familienangelegenheit Rats zu erholen. Man sei ja auch nicht von gestern, man habe auch seinen Verkehr, wisse wohl umzugehen mit Leuten von Stande, er möge ihr doch die Ehre schenken.

In dem düstern Gelaß standen mehrere mit abgegriffenen Zeitschriften, Witzblättern und Büchern bedeckte Tische wie im Wartezimmer eines Zahnarztes. An den fetten Fingern der Witwe Engelschall starrten Ringe mit bunten Steinen. Sie trug eine rote Seidenbluse und einen schwarzen Rock, der durch einen Gürtel mit einer Silberschnalle, massiv wie eine Türklinke, festgehalten war.

Als Christian am Abend zu Karen kam, saß sie am Ofen, die Wange in die Hand gestützt. Christian hatte ihr zwei Apfelsinen mitgebracht, die legte er ihr in den Schoß. Sie rührte sich nicht, dankte nicht. Er dachte, es sei ihr vielleicht doch nach ihrem Kind bang, und wagte das lange Schweigen nicht zu stören.

Plötzlich sagte sie: »Heut sinds sieben Jahre, daß Adam Larsen starb.«

»Ich weiß nichts von Adam Larsen,« antwortete Christian. Da sie stillblieb, wiederholte er: »Ich weiß nichts von Adam Larsen. Willst du mir nicht sagen, was es war mit ihm?«

Sie schüttelte den Kopf. Unter seinem Blick sich duckend, starrte sie wie sprungbereit an die Mauer. Christian trug einen Stuhl herbei, setzte sich dicht vor Karen und drängte: »Was war es denn mit Adam Larsen?«

Atem häufte sich in ihrer Brust. »Es war meine einzige gute Zeit mit ihm,« murmelte sie, »meine einzige schöne Zeit. Fünfthalb Monate.«

Sie grub; grub es hervor; es wollte zutage, sehnte sich aus dem Schacht heraus. »Bei meinem zweiten Kind wars,« fing sie an; »wir fuhren von Memel nach Königsberg, ich, Mathilde Sorge und ihr Bräutigam. Na ja, Bräutigam, man hieß es eben so. Unterwegs merkte ich, daß die Bescherung kam. Sie rieten mir, ich solle aussteigen. Eine Station vor Königsberg stieg ich aus, Mathilde blieb bei mir und schimpfte, der Bräutigam fuhr in die Stadt. Es war Abend, im März, kalt und naß. Mathilde wußte ein Wirtshaus am Bahnhof, wo sie bekannt war; sie dachte, wir könnten da unterkommen, die Not war schon groß. Aber es war Messe, alles besetzt. Um eine Dachkammer bettelten wir; der Wirt schaute mich an, sah gleich, was los war, denn ich lehnte scheppernd an der Wand, schrie, wir sollten zum Teufel reiten, mit solchen Sachen wollte er nichts zu tun haben. Im Hof war 'n Leiterwagen; da legt ich mich drauf; hätte nicht weiter gekonnt, und wenn sie die Hunde auf mich gehetzt hätten. Der Bauer kam, schimpfte, Mathilde quatschte ne Weile mit ihm, da fuhr er denn. Er fuhr stadtwärts; Mathilde ging daneben. Mir wurde, ich weiß nicht wie. Ich dachte: tot sein, nur mal endlich tot sein! Die Räder holperten auf den Steinen. Ich schrie und schrie. Der Bauer sagte, er mache das nicht länger. Wir waren schon in der Vorstadt. Sie zerrten mich vom Wagen herunter, stützten mich, 'n junger Mensch kam daher und half, der Regen fiel wie aus Eimern, ich konnte nicht mehr, um Lottes willen nur hinein in irgendein Loch, und wenns 'n Keller war. Am Eck war ne Singspielhalle, so für Arbeiter und geringes Volk, da schleppten sie mich durch den Flur in eine Kammer, rückten zwei Bänke aneinander, legten mich drauf. Alles war voller bunter Fetzen von den Damen, die aufs Podium gingen; auf der einen Seite war die Schankstube, auf der andern der Theatersaal; die Musik schallte heraus, das Händeklatschen, Brüllen und Lachen; ein paar flittrig aufgetakelte Frauenzimmer stellten sich um mich rum, kreischten, zeterten, verlangten dies und das. Kurz, was soll ich davon noch viel schwatzen: das Kind kam auf die Welt, aber es war tot. Auch einen Schutzmann hatten sie geholt, und nen Doktor hatten sie geholt, aber wer sich meiner annahm und nicht mehr von mir weggehen wollte, das war der junge Mensch, den wir auf der Straße getroffen, und das eben war Adam Larsen.«

»Er half dir dann auch weiter? Ihr seid dann zusammengeblieben?« fragte Christian gespannt.

Karen fuhr fort: »Er war 'n Maler, 'n Kunstmaler. In Jütland war er zu Hause. Ein weißblonder, magerer Mensch. Damals hatte ich genau solche Haarfarbe wie er. In Königsberg lebte ne Vatersschwester von ihm, die hatte ihn ein paar Wochen aufgenommen, denn es ging ihm schlecht. Aber gerade in der Zeit, wo ich im Heim lag, sie hatten mich in ein Heim geschafft, kriegte er die Nachricht von Kopenhagen, daß er ein Staatsstipendium bekommen sollte, zweitausend Taler für zwei Jahre. Da fragte er mich, ob ich mit ihm gehen möge; er wolle ins Belgische hinüber, da wohne irgendwo an der französischen Grenze ein berühmter großer Maler, bei dem wolle er mit einigen andern arbeiten, die schon dort seien. Er sagte, er hätte mich gern. Ich sagte, das sei ja recht schön, aber ob er denn nicht wisse, mit wem er sich einlasse. Er sagte, er wolle gar nichts wissen, und ich möchte bloß Vertrauen zu ihm haben. Ich dachte, das ist mal einer, der das Herz auf dem rechten Flecke hat, und hatte ihn auch gleich gern. Ich hatte noch keinen gern gehabt. Es war der erste, und es war auch der letzte. Und so ging ich denn mit ihm. Der Maler wohnte in einem Dörfchen, ich glaube, es war schon im Französischen, und wir zogen nicht weit davon in einen andern Ort, der hieß Wassigny. Da mietete Larsen ein kleines Haus. Und jeden Morgen fuhr er mit dem Rad hinüber zu seinem Maler, und wenn schlecht Wetter war, ging er zu Fuß. Es war ne halbe Stunde Wegs. Und jeden Abend kam er zurück, und wir kochten und brieten uns was und machten Tee und plauderten zusammen. Und er wußte nicht genug zu schwärmen von dem Land, wieviel Spaß es ihm mache, das alles zu malen, die Äcker und die Bäume und die Bauersleute und die Bergwerksleute und das Wasser und den Himmel, und was weiß ich noch alles. Davon begriff ich ja nichts. Ich begriff bloß, daß mir war wie in meinem Leben nicht. Ich glaubte mirs nicht, wenn ich aufwachte; ich glaubte mirs nicht, wenn mich die Leute freundlich grüßten. In der Nähe vom Ort war ein Weiher, auf dem schwammen Seerosen, und dort war ich oft, ich hatte so was nie gesehen, aber ich sahs und glaubte mirs nicht. Ich wußte auch: lang kann das nicht dauern, unmöglich kann das lang so bleiben. Und richtig, im August, da legte sich Adam Larsen eines Tages hin; er hatte Fieber, es wurde immer ärger, und nach sechs Tagen starb er. Da war alles aus. Da war alles aus.«

Ihre Hände waren in die Haare gewühlt. Zum drittenmal sagte sie: »Da war alles aus.«

»Und dann?« flüsterte Christian.

Sie schaute ihn an, und jeder Muskel bebte in ihrem Gesicht. »Dann? Ja, was dann war, dann! dann!«

»Konntest du dich denn nicht noch weiter zurechtfinden, ohne . . . ohne . . .« stammelte Christian, erschrak aber vor der entsetzlichen, fahlen Wut in ihrem Gesicht. Sie ballte die Faust und schrie noch lauter, daß es von den Mauern zurückgellte: »Ja dann! Was dann erst kam! Dann!«

Sie schauderte von oben bis unten. »Rühr mich nicht an,« sagte sie zusammenfahrend.

Aber Christian hatte sie gar nicht angerührt.

»Geh jetzt,« sagte sie, »ich bin müd, will schlafen.« Sie erhob sich.

Er stand bei der einen Tür, Karen bei der andern. Karen, mit gesenktem Kopf, sagte dumpf: »Daß ich du zu dir sage . . . Warum ist denn das nur? So was Verrücktes: Du . . .!« Haß und Furcht drückten sich in ihren Mienen aus.

Und als sie allein war, drinnen an ihrem Bett, betrachtete sie tief versunken das Bild der Frau mit den Perlen. Einmal drehte sie den Kopf und schaute wild gegen die Tür, dorthin, wo Christian gestanden war.

Das »Dann« ging Christian nicht aus dem Sinn.

29

Zwei Jahre arbeitete nun Weikhardt an der Kreuzabnahme.

Er konnte das Bild nicht vollenden. Was ihm nicht gelang, durch keine Bemühung, keine Vertiefung, in keiner Einsamkeit, trotz allen Suchens nicht, das war der Ausdruck des Christus.

Er konnte diesen Ausdruck nicht gestalten: das Erbarmen und den Schmerz.

Unzählige Male hatte er das Gesicht von der Leinwand gekratzt; er hatte Modelle gehabt; er hatte Stunden und Tage vor den Gemälden der alten Meister zugebracht; er hatte Hunderte von Skizzen und Studien hingeworfen; er hatte probiert und probiert: umsonst; es gelang nicht.

Im Frühjahr hatte er geheiratet, Helene Falkenhaus, das Mädchen, von welchem er einst zu Imhof gesprochen. Sie führten eine stille Ehe; Mittel waren wenig da, sie mußten sich in allem bescheiden. Helene ertrug jegliche Beschränkung ohne Murren. Ihre Frömmigkeit, die sich bisweilen zu einer harrenden Inbrunst steigerte, half ihr, daß sie dem Mann das Gefühl der Last und Verantwortung nehmen konnte.

Sie hatte Verständnis für die Kunst, höheres Gefühl sogar. Er zeigte ihr seine Entwürfe; manches fand sie schön; manches schien ihr nahe an das zu reichen, was sie als seine Vision ahnte, doch räumte sie ihm ein, daß es das Letzte noch nicht sei. Es war Erbarmen und Schmerz, doch es war nicht Christi Erbarmen und Schmerz.

Da kam die polnische Gräfin nach München, für die er den Luini-Zyklus in der Brera kopiert hatte. Eines Abends gab sie eine Gesellschaft, zu der sie Weikhardt einlud, und unter den vielen Menschen sah er Sybil Scharnitzer wieder. Vor Jahren war sie ihm im Atelier eines Modemalers gezeigt worden; von Schmeichlern und Bewunderern dicht umdrängt, hatte sie ihm damals nur einen allgemeinen Eindruck ihrer Schönheit hinterlassen.

Nun geriet er in eine magische Erregung. Es war da ein Band zwischen ihr und seinem Werk. Er spürte es; er spürte, daß er sie brauchte. Er näherte sich ihr, und seine beschwingte Beredsamkeit fesselte sie. Schlau steuerte er auf ein vorgesetztes Ziel los. Ihre Miene, ihre Gebärde, den erschütternd seelenvollen Blick in sich einsaugend, wurde ihm alsbald klar, was er von ihr erwartete und was sie ihm geben konnte. In diesem Auge, wenn es feucht und groß aufgeschlagen war, formten sich die überirdischen Züge, die er bisher nur ungenau erschaut. Er bat sie, sie möge ihm sitzen. Sie besann sich, dann willigte sie ein.

Sie kam. Er ließ sie Hals und Schultern entblößen und hüllte ihren Oberleib in ein schwarzes venetianisches Spitzentuch. Zehn Minuten lang wandte er, regungslos vor der Staffelei stehend, nicht den Blick von ihr. Kaum daß seine Wimpern zuckten. Dann zog er mit Kohle die Linien des Christushauptes. Sybil war erstaunt. Nach einer Stunde dankte er ihr; es war das erste Wort. Er bat sie, wiederzukommen. Im gleichen Erstaunen wie zu Anfang deutete sie auf die Leinwand. Er lächelte verschmitzt und sagte, das seien Umwege, weiter nichts, sie möge Geduld haben.

Als sie fort war, trat Helene ein. Er hatte ihr erzählt, was er versuchte; seine Zuversicht hatte ihre Zweifel nicht beschwichtigt. Sie wußte über Sybil Scharnitzer Bescheid, auch hatte sie sie am Abend bei der Gräfin mit der Kälte der Frau gegen die Frau beobachtet. Sie schaute die Kohlenskizze an und sagte lange nichts. Endlich, unter seinem fragenden Blick, bemerkte sie, zu Boden sehend: »Ob wohl jemals ein Modell solche Verkleidung gewählt hat?«

Weikhardt, schon wieder in seinem gewöhnlichen Phlegma, entgegnete: »Es wird wohl auch wenig Menschen geben, die diesen Griff hinter die Kulissen kapieren. Maler nun schon gar nicht. Ich seh es bereits, wie sie sich bekreuzigen und geifern.«

»Daran liegt wohl nichts,« sagte Helene; »aber was meinst du mit dem Griff hinter die Kulissen?«

»Ich meine die Kulissen des lieben Gottes.«

Helene dachte nach. Seine Worte hatten sie verletzt. Sie sagte: »Ich könnte dich sehr gut begreifen, wäre Sybils Gesicht ein wahres Gesicht. Aber du weißt ja selbst, wer sie ist und was sie ist. Du weißt ja, daß hinter der wundervollen Hülle das absolute Nichts ist. Und darin, in solch betrügerischem Spiegel, erblickst du das Tiefste der Welt, den Heiland, dein Bild des Heilands? Ist es nicht, wie wenn du dich der Lüge verschrieben hättest?«

»Nein, Frau,« antwortete Weikhardt, »nein. Da hast du zu kurzen Sinn. Es hängt alles viel mehr zusammen als du denkst. Alles ist viel mehr als du denkst, ein Körper, ein Element, ein Strom. Das seelenlose Nichts in Sybil Scharnitzers Brust ist doch auch wieder Abglanz; mir, mir persönlich ist es Wesen. Täuscht mich eine Form, so muß ich der Form danken, daß sie mich den Inhalt träumen läßt. Der Traum ist das Größere. Kann ein Grashalm Lüge sein? Kann eine Muschel Lüge sein? Und siehst du, wenn ich stark genug wäre, unschuldig genug, hingegeben genug, so müßt ich auch im Grashalm und in der Muschel Christi Erbarmen und Schmerz finden können. Das ist alles nur Zufall, und ists kein Zufall, so ists Schickung.«

Die junge Frau widersprach nicht.

30

Das »Dann« ließ Christian keine Ruhe.

Er hatte tagsüber viel gearbeitet; erst um sieben Uhr war er aus dem Physiologischen Institut gekommen, hatte in einer Speisewirtschaft in der Lothringer Straße frugal gegessen, war zu Fuß in die Stolpische Straße gegangen, und hier hatte er sich ermüdet aufs Sofa gelegt und war eingeschlummert.

Als er aufwachte, war es tiefe Nacht. Im Hause regte sich nichts mehr. Er zündete Licht an und schaute auf die Uhr. Es war halb zwölf. Eine Weile besann er sich, dann beschloß er, zu Karen hinüberzugehen. Er war sicher, sie noch wach zu finden; es kam vor, daß sie noch um zwei Uhr Licht hatte. Sie beschäftigte sich seit einiger Zeit mit Stickereien. Sie sagte, sie wolle etwas verdienen. Bisher war es brotlose Arbeit gewesen. Sie mühte sich auch nicht sonderlich um Verwertung.

Er ging über den finstern Hof und stieg im Vorderhaus die drei finstern Stiegen hinauf. Am Gangfenster des dritten Stockes blieb er stehen. Das Fenster war offen; die Nacht war schwül. Seitlich, durch einen Schlund zwischen den toten Mauern zweier Häuser, schwarzangestrichenen Ziegelmauern, ragten Schlöte in die Finsternis. Sie begannen auf der Erde und wuchsen über die Dächer. Oben trugen sie Blitzableiternadeln, und aus manchen qualmte Rauch, der von Feuerglut durchbebt war. Unten war schwarzer Boden, weites Blachfeld mit Bretterzäunen, aufgeschichteten Balken, verstreuten niederen Hütten, Sandgruben, Mörtelgruben, und alles lag still und düster.

Links von der Stiege war die Tür zur Hofmannschen Wohnung. Als er mit seinem Schlüssel die Tür zu Karens Wohnung aufgesperrt hatte, blickte er noch einmal auf jene Tür zurück; er glaubte sich gerufen; es war Täuschung.

Karen lag im Bett. »Was solls denn sein so spät in der Nacht?« murrte sie; »man möchte doch auch seinen Frieden haben.«

»Verzeih,« sagte er höflich, »verzeih, daß ich dich störe; ich dachte, wir könnten noch ein wenig plaudern.«

»Möchte wissen, zu was das soll, das Quasseln in die Nacht hinein.« Sie maß ihn geärgert und lachte durch die Nase.

Er setzte sich auf den Rand des Bettes. »Du mußt mir erzählen, Karen, was nach Adam Larsens Tod geschehen ist,« sagte er. »Es geht mir nicht aus dem Kopf, wie du sagtest: was dann war . . . Natürlich man kann sichs ja ungefähr vorstellen. Ich habe ja jetzt Einblick genug in dein Leben, um es ungefähr zu erraten . . .«

»Nein, das kannst du nicht erraten,« fiel sie geringschätzigen Tones ein, »das kannst du dir nicht vorstellen. Da könnt ich Gift drauf nehmen.«

»Um so mehr möcht ich, daß du einmal davon sprichst,« drängte er, »du hast gewiß nie davon gesprochen.«

Sie schwieg feindselig. Da wurde ihm plötzlich klar, daß ein beharrlicher Instinkt in ihr sich weigerte, ihn in ihre Welt aufzunehmen, und daß alles, was er bisher getan hatte, nicht hinreichte, das Mißtrauen zu besiegen, das ihr in Blut und Nieren saß. Diese Erkenntnis machte ihn traurig und ratlos.

»Hab mich heut schon um sieben ins Bett gelegt,« sagte sie mit blinzelndem Blick; »es war mir nicht gut. Ich glaube, ich werde krank.«

Christian sah sie an. Er konnte nicht verhindern, daß sein Auge den beunruhigt drängenden Ausdruck behielt.

Karen drückte die Lider zusammen. »Quälen, quälen, quälen,« stöhnte sie.

Erschrocken sagte Christian. »Nicht quälen . . . verzeih. Ich gehe ja.«

»Bleib nur.« Sie legte die Wange auf die gefalteten Hände und zog unter der Decke die Knie an den Leib. Ein derber, aber nicht unangenehmer Haut- und Haargeruch strömte von ihr aus.

Es sei ja so gewöhnlich, stieß sie müd und leer vor sich hin, in das Kissen hinein; nicht anders als bei andern. Die so täten, als sei es anders, die lögen einfach. Freilich, viele, um sich interessant zu machen, erfänden allerlei Romane, das könne sie aber nicht. Dazu läge ihr zu wenig am Interessanten. Nein, es sei immer dasselbe. So ganz gemein, ganz schauderhaft gemein, von A bis Z verdreckt. Er solle jetzt nur dableiben. Er solle sich nur wieder hinsetzen. Sie wolle ja erzählen. Herrgott, wenn es denn absolut sein müsse, wolle sie erzählen, obwohl sie nicht wisse, wo sie anfangen solle, es gebe gar keinen Anfang, es sei gar nichts Bestimmtes, nicht die Spur von einem Roman.

Christian setzte sich wieder. »Als Adam Larsen starb, hattest du da nicht einen Weg?« fragte er. »War unter seinen Freunden oder Verwandten keiner, der sich um dich kümmerte und dir half?«

Sie lachte höhnisch. »Ja, Kuchen,« erwiderte sie. »Da bist du glatt auf dem Holzweg. Seine Kollegen wußten kaum was von mir. Zum Begräbnis kam sein Bruder, dem durft ich überhaupt nicht vor die Augen treten. Das war so einer von der Gilde der Ehrsamen, ne goldne Uhrkette auf der Weste und zwanzig Pfennig für die Bedienung. Fremdes Land wars, die Sprache kannt ich nicht, da mußt ich zusehn, daß ich raus machte. An Geld hatte ich so dreißig Franken, mit denen wollt ich mich durchschlagen; war bloß die Frage, wohin. Arbeit zu kriegen, hatte ich ein paarmal versucht. Aber was sollt ich denn arbeiten? Hatte ja nie was gelernt. Als Magd in Stellung gehn? Wieder Stiefel putzen und Stuben scheuern? Danke gehorsamst. Hatte jetzt Besseres gekostet; dachte: wirst dich schon herausbeißen. Übrigens war mir alles ganz egal geworden; was lag denn schon an mir? In Aachen wurde ich Kellnerin. Schöne Sache, Kellnerin. Davon kann man keinem einen Begriff geben. Die Müdigkeit für einzige zwei Beine! Die Niedertracht für einzige zwei Ohren! Der miserabelste Fraß, lauter Abfall; ein Bett wie für einen Hund; Zumutungen, daß man die Tollwut kriegen kann. Da wird man empfänglich für allerlei schwindelhaftes Gerede. Ging in ein Haus. Blieb vier Monate, ging in ein anderes. Hatte Schulden; man hat da auf einmal Schulden, weiß kaum, wofür. Kost, Logis, Kleider, alles wird dreifach angerechnet, jeder Schnaufer muß bezahlt werden. Man denkt bloß noch: heraus, sonst passiert was Schreckliches. Erscheint so 'n Bürschchen, der Kamm ist ihm geschwollen, schmeißt mit Goldstücken um sich, löst einen aus, man geht mit ihm, bereuts am dritten Tag, eines schönen Morgens klopfts an die Tür: Was los? Die Polizei. Das Bürschchen wird hopp genommen, man hat noch seine Mühe, sich rein zu waschen. Was jetzt? Man sucht ein Dach, man sucht ein Bett, man sucht ne Ansprache, man will was Warmes und was für den Durst; gezeichnet ist man einmal, kein Mensch traut einem mehr, hinten schiebts, vorne ziehts, und so kommt man herunter, Schritt für Schritt, Tag für Tag, man merkt es kaum, und schließlich ist man unten.«

Sie rollte sich noch mehr zusammen im Schutz der Decke, und mit dumpferer Stimme fuhr sie fort: »Das spricht sich so: unten. Aber erstens hat es eigentlich kein Aufhören; unter dem Unten ist immer ein noch tieferes Unten; und zweitens: wie es beschaffen ist, das Unten, dafür gibts keine Worte. Das kann sich keiner ausdenken, ders nicht erlebt hat; das kann und kann sich keiner ausdenken, vom Sehen nicht und vom Wissen nicht. Da bewohnst du ne Bude, fünfmal so teuer, als es nach Recht und Billigkeit sein dürfte; selbstredend, du bist ja Freigut, da kann sich jeder die Zähne wetzen. Obs nun ein Salon ist oder ein Schweineloch, dir graut schon, wenn du bloß die Tür aufmachst. Es gehört ja nicht dir, es gehört ja jedem, der Unrat von jedem wird da abgestreift, und du kennst sie alle und erinnerst dich an alle. Was hat es denn noch auf sich, daß man sich ins Bett legt und mal wieder schlafen möchte? Es wird doch ein neuer Tag. Und dann die schmierigen Kaffeehäuser; ewig dieselben Gesichter, ewig dasselbe Gelichter. Und dann die Straße, was man so den Rayon heißt. Immer und ewig bei der Nacht. Kennst ein jedes Fenster, jeden Rinnstein, jede Laterne; gaffst und drehst dich und grinst und schneidest Grimassen, und spannst den Schirm auf, wenns regnet, und gehst herum und stehst herum und lugst nach dem Poli aus und schmeißt dich an jeden Kerl, ob er zertretene Absätze hat oder im Pelze stolziert, und versprichst ihm das Blaue vom Himmel, und möchtest ihm die Leber auskratzen, wenn er dich stehn läßt und ins Gesicht speien, wenn er sich herabläßt. Das ist es eben. Das ist das Hauptkapitel. Jammer und Sorgen, na ja, das haben viele. Was man hingegen von den Menschen erfährt, – du, ich sage dir!«

Diese letzten Worte waren ein Aufschrei, ärger noch als bei dem »Dann«, das Christian nicht hatte vergessen können. Er saß kerzengerade. Er sah über den Lampenzylinder hinweg an eine bestimmte Stelle der Wand, unbeweglich.

Karen redete gegen die Erde zu: »Da ist das Kuppelweib, das einen begaunert und bewuchert, hinten und vorn. Da ist der Hauswirt, der 'n Gesicht macht, als wolle er einem einen Fußtritt versetzen, wenn man ihm am hellen Tag begegnet, und der an die Tür geschlichen kommt, wenns schummert. Da ist der Kaufmann, der dir die Ware aufschlägt und so tut, als wärs Gnade, daß er dir den Pofel für schönes Geld verkauft. Da ist der Schutzmann, der dir wegen jeden Fußbreit Weg Masematten macht und drauf lauert, daß du ihm nen Taler heimlich zusteckst, sonst schindet er dich und du kriegst Strafzettel, daß es bloß so knallt. Da ist der Kneipjee, bei dem du in der Kreide sitzt, der dich kujoniert, wenn du keinen Kies hast und jampelt und feixt, wenn er was in deiner Tasche wittert. Vom Lude will ich gar nicht reden; den mußt du haben, ob du magst oder nicht, sonst bist du elend ausgeliefert, und wenn er ins Zuchthaus gewandert ist, mußt du nen andern nehmen. Alle haben sie das Messer lose am Hosengürtel, aber schlimmer als der Meseckekarl war keiner. Und was die Marterhölle ist, eine ärgere kanns auf der Welt und außer der Welt nicht geben, das ist die Kundschaft, das ist das Geschäft. Die Feinen und die Ordinären, die Jungen und die Alten, die Knickerigen und die Splendiden, wie sie da sind, sind sie nicht besser als das Aas auf dem Müllhaufen. Da sieht man, was Heuchelei ist und Schurkerei, da zeigen sie sich, die Schmutzseelen, mit ihrer Angst und ihrer Verlogenheit und ihrer Gier und ihrer Gemeinheit. Was sie drinnen haben, das kommt heraus. Es kommt heraus, sag ich dir, denn da schämt sich keiner. Das brauchen sie nicht mehr. Und was du vor dir hast, ist der Mensch ohne Scham. Und was du kennenlernst, ist das arme scheußliche Fleisch. Willst du wissen, wie? Trink mal ne Jauchengrube leer, dann weißt du, wie. Obs einer ist, der sein Weib im Kindbett zuschanden schlägt, oder einer, der seine Kinder hungern läßt; ein verlotterter Student oder ein geschaßter Offizier, ein furchtsamer Pfaff oder der Bürger mit nem dicken Bierbauch; es ist immer das nämliche: der Mensch ohne Scham und das arme scheußliche Fleisch.«

Sie lachte mit erquältem Hohn und fuhr fort: »Den Meseckekarl lernt ich kennen, als ich aus dem Krankenhaus kam. Damals hatt ich niemand. Vorher war ich drei Wochen im Gefängnis wegen dem Lumpen, dem Sergeantenmax. Hatt es der schon bös getrieben, gegen den Meseckekarl war er ein dösiges Lamm. Da tauchte im Cafe Nachtigall so 'n junger Mensch auf, ein Gymnasiast oder so was, der schmiß eine Pulle Sekt um die andre, jeden Tag. Und grad mich hatt er sich ausgesucht, grade mit mir wollt er immer gehn. Und die blauen Lappen flogen nur so. Man wußte gleich, daß die Geschichte faul war, und der Meseckekarl nahm ihn beiseite und sagte ihm auf den Kopf zu: Das Geld ist aus deines Vaters Kasse, das Geld ist gestohlenes Geld. Das räumte er auch ein und schlotterte dabei. Aber der Meseckekarl ließ nicht locker und unterwies ihn, wie er mehr herschaffen könnte, und er und der zerrissene Woldemar versprachen ihm, sie wollten ihn in die Opiumstube führen, das sei das Schönste überhaupt, die reine Zauberbude. Und wie der junge Mensch bei mir war des Nachts, da fing er an, gottserbärmlich zu flennen und zu winseln; da tat er mir leid, weil ich wußte, das nimmt ein böses Ende, und das sagt ich ihm auch, aber nicht eben freundlich. Da zog er Geld aus seinen Taschen, so viel hatt ich nie beisammengesehn, lauter gestohlenes Geld, und mir schwindelte vor den Augen, und ich sagte, er solle es fortnehmen; aber er wollte, ich sollt es nehmen, sollte mir was kaufen und tun damit, wozu ich Lust hätte. Ich zitterte an Armen und Beinen und sagte, er solle es um Himmels willen nach Hause tragen; da heulte er wieder zum Steinerweichen und lag auf den Knien da und faßte mich um, und auf einmal stand der Meseckekarl im Zimmer; er hatte sich nebenan versteckt gehalten und hatte alles mit angehört, und ich hatt es nicht geahnt. Aber der junge Mensch, sein Gesicht war wie ein Stück Bimsstein so grau, der sah mich an und sah mich an und glaubte, ich hätte den Meseckekarl versteckt; aber der, glücklicherweise, stieß mich an die Schläfe, daß ich dachte, die Luft wäre lauter Blut und Glut, und zuletzt gab er mir einen Fußtritt, daß ich in die Ecke flog und liegenblieb. Da mußte der junge Mensch doch sehen, daß ich unschuldig war. Den Jungen, Adalbert nannt er sich, den packte Meseckekarl und ging mit ihm davon. Adalbert sagte nichts und deutete nichts, er ging folgsam mit. Und am andern Tag kam er nicht, am dritten Tag nicht, er kam und kam nicht wieder. Da fragte ich den Meseckekarl: Was hast du mit dem Adalbert angestellt? Da sagte er: Auf ein Schiff hab ich ihn gebracht, damit er nach Übersee kommt. Ei ja doch, dacht ich, Übersee, hat sich was. Und ich fragt ihn wieder: Was hast du mit dem Adalbert angestellt? Da sagte er, wenn ich nicht schwiege, würd er mich zu nem Knochenbukett verhauen. Da schwieg ich. Es is ja möglich, daß der Adalbert auf ein Schiff gegangen is, es is ja möglich. Gehört hat man nichts mehr von ihm. Ich machte mir auch nicht viel draus. Es kam ja jeden Tag was andres. Mußt mich meiner Haut wehren. Den Tag rumbringen, die Nacht rumbringen. Es war immer das nämliche, immer das nämliche.«

Sie richtete sich auf und packte Christian mit eisernem Griff am Arm. Ihre Augen starrten ihn funkelnd an, und durch die zusammengebissenen Zähne zischte sie: »Aber das wußt ich alles nicht so. Wenn man drinnen steckt, weiß mans nicht so. Daß das kein menschlich Leben ist, spürt man nicht so. Daß man verdammt und siebenmal verdammt ist, man wills nicht sehn, man wills nicht denken. Warum hast du mich weggenommen? Warum hat das denn sein müssen?«

Christian antwortete nicht. Er hörte die Luft sausen.

Nach einer Weile ließ sie ihn los, oder vielmehr, sie stieß seinen Arm fort, und er erhob sich. Sie fiel aufs Bett zurück. Christian dachte: alles vergebens. Die Bangigkeit, die er empfunden, wuchs zu einem Gefühl der Verzweiflung. Vergebens, sauste es in der Luft, vergebens, vergebens, vergebens.

Da sagte Karen mit einer hellen Stimme, die er noch nie an ihr gehört: »Deiner Mutter Perlenhalsband möcht ich haben.«

»Wie?« fragte Christian verwundert. Er glaubte, nicht recht verstanden zu haben.

Und Karen wieder, mit einem fast kindischen Ton: »Deiner Mutter Perlenhalsband möcht ich haben.« Sie faselte, und sie wußte, daß sie faselte. Nicht eine Sekunde lang hielt sie die Erfüllung eines solchen Begehrens für möglich.

Christian trat ans Bett. »Wie kommst du denn darauf?« flüsterte er. »Was soll denn das? Was meinst du denn?«

»Nie noch hab ich mir etwas so gewünscht,« sagte Karen, regungslos liegend, mit derselben hellen Stimme; »nie noch. Wenigstens sehen möcht ichs mal. Wie so was aussieht. Wenigstens mal in der Hand halten. Obs das wirklich gibt. Geh doch hin zu ihr und verlangs. Fahr hin zu ihr und sag: Die Karen möcht dein Perlenhalsband mal sehen. Vielleicht borgt sie dirs.« Sie lachte irr. »Vielleicht gibt sie dirs für ne Weile. Dann, scheint mir,« sie schlug die Augen in die Höhe, und eine neue Flamme war in ihnen, »dann, scheint mir, könnt es anders sein zwischen uns.«

»Wer hat dir davon gesprochen?« fragte Christian wie im Traum; »woher weißt du von der Perlenschnur meiner Mutter?«

Sie riß die Schublade ihres Nachttischchens auf und holte das Bild hervor. Christian machte eine heftige Bewegung danach, obgleich sie es ihm ohnedies hatte reichen gewollt. »Der Voß hat mirs geschenkt,« sagte sie.

Christian sah das Bild an und legte es schweigend wieder weg.

»Ja, das wünsch ich mir,« begann Karen abermals, und alles war nun irr in ihrem Gesicht, kindisch und begehrlich irr, trotzig und herausfordernd irr: der Glanz in den Augen, das Lächeln, das Lachen; »bloß das wünsch ich mir. Mit der Zunge würd ichs schmecken. In mein Fleisch hinein würd ichs vergraben. Keiner dürft es wissen, keinem würd ichs zeigen. Deiner Mutter Perlenhalsband, ja, das wünsch ich mir, das möcht ich haben; für ne Weile wenigstens.«

Nichts andres hätte Christian so zu innerst treffen können wie dies irre Stammeln, dies irre unsinnige Fordern. Er stand am Fenster, blickte in die Nacht hinaus und sagte langsam und bedächtig: »Gut, du sollst es haben.«

Karen erwiderte nichts. Sie streckte sich aus und schloß die Augen. Sie nahm seine Worte nicht ernst. Als er ging, höhnte sie stumm; höhnte ihn, höhnte sich.

Am andern Morgen fuhr Christian mit der Untergrundbahn zum Anhalter Bahnhof und löste eine Karte dritter Klasse nach Frankfurt. In der Hand trug er eine kleine Reisetasche.

31

»So zieh mal los mit die Kenntnisse,« sagte Niels Heinrich Engelschall zu seiner Mutter, der wahrsagenden Witwe.

Sie befanden sich im Allerheiligsten. Von der Decke hing an einer schwarzen Schnur mit gebreiteten Flügeln eine ausgestopfte Fledermaus herab. In ihre Augenhöhlen waren dunkle Glaskugeln eingesetzt, die glühten. Auf dem Tisch, der mit Karten bedeckt war, stand ein Totenkopf.

Es war Sonntagabend, und Niels Heinrich kam aus der Kneipe. Er machte hier nur Station, denn er wollte ins Strandschlößchen hinaus, zum Tanz. Er trug einen schwarzen Jackettanzug mit einer blau und weiß karierten Leinenweste. Auf dem Kopf saß ein steifer, englischer Hut; er war weit in den Nacken geschoben, so daß man noch den durchgezogenen Scheitel in der Mitte des Schädels sah. Unter der linken Achsel war ein dünnes Spazierstöckchen eingeklemmt. Er wippte mit dem Stuhl, auf den er sich breit gelümmelt hatte. »So zeig mal die Künste und prophezei mal was,« sagte er, und schleuderte ein Fünfmarkstück auf den Tisch.

In seinen verlebten Augen lag der mineralische Schimmer einer unbestimmten Gier.

Die Witwe Engelschall hatte stets Angst vor ihm. Sie mischte ihre Karten. »Biste bei Kasse, mein Jungchen?« schmeichelte sie; »recht so; heb ab, und nu wolln wa mal sehn, was de dir einjebrockt hast.«

Niels Heinrich wippte. In der Kehle brannte es wie Feuer, seit vielen Tagen schon. Er war seiner Zähne überdrüssig und seiner Finger. Er hätte irgend etwas packen mögen, mit der Faust umschließen und zerdrücken. Etwas, das glatt und warm war; etwas, das Leben hatte und um das Leben bettelte. Es war in ihm ein lüsterner Haß gegen die Dinge, gegen die Wege, gegen die Stunden.

»Der Fufzicher bei's rote Aß,« hörte er die Mutter sagen, »Schellenkönig deckt Eichelbub; bedeutet nischt Gutes. Der Zwanziger dazwischen und die graue Frau –« ihr Gesicht zeigte Bestürzung, »wirst mir doch nischt anstellen, Jungchen, wirst doch nich?«

»Quatsch nich, Liese,« fuhr sie Niels Heinrich an, »da lachen ja die Hühner.« Er runzelte die Stirn und warf anscheinend gleichgültig hin: »Sieh mal zu, ob nischt drinsteht von ner Judenschickse.«

Die Witwe Engelschall schüttelte erstaunt den Kopf. »Nee, Jungchen, nee,« sagte sie und legte noch Karten auf, »von ner Judenschickse? Nee. Grünzehn und Herzdame: das könnte der Geldbriefträger sind. I, Jott stärke! Da jehn jleich drei Damens miteinander; in der Liebe, da haste immer 'n Dussel jehabt. Apropos, heute hat die rote Hedwig nach dir jefragt; ob de abends in die Lehmkute kommst, wollt se wissen.«

Niels Heinrich antwortete: »Ick hab se doch erst rausjeschmissen; 'n Jedächtnis wie ne Bierstrippe; so wat lebt nich.« Er lehnte sich wieder zurück und wippte. »Also, wenn du mir nischt Anjenehmes zu verkündijen hast, denn nehm ick meine fünf Märker wieder zu mir.«

»Kommt schon, mein Jungchen, kommt schon, nur Geduld,« besänftigte die Witwe Engelschall und mischte wieder. »Det mit der Judenschickse wern wa schon kriejen, nur Jeduld, wern wa schon kriejen.«

Niels Heinrich starrte in die Luft. Er sah, und wohin er sah, war es dasselbe seit vielen Tagen: einen jungen, glatten Hals; zwei junge, glatte Schultern, zwei junge, glatte Brüste, fremd alles, von fremder Rasse, von fremdem, süßem, schaurigsüßem Blut durchströmt, und wenn man nicht hingreifen konnte, hingreifen und riechen und schmecken, so krepierte man. Er erhob sich, zwang sich zu schlappen Gebärden. »Laß nur man,« sagte er, »is ja doch allens Schwindel. Das Trinkjeld kannste dir meinswejen behalten.« Er strich mit seinem Spazierstöckchen über die Karten hin, warf sie durcheinander und ging.

Die Witwe Engelschall, alleingeblieben, schüttelte den Kopf. Der Ehrgeiz des Berufs regte sich in ihr; sie mischte und legte von neuem. »Wern wa schon kriejen,« murmelte sie, »wern wa schon kriejen« . . .


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