Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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16

Es sollte in der Nacht sein, das war ihr Wunsch, und sie gab ihm ein Zeichen. Es gelang ihr, ihm von den andern unbemerkt zuzuflüstern, daß sie in der Nacht zu ihm kommen und ihm etwas bringen wolle; er möge sie erwarten.

Er sah sie wortlos an. Viele waren schon zu ihm gekommen, in der Nacht; das Versprechen keiner hatte ihn so entflammt. Als sie von ihm weghuschte, bebten seine Lippen.

Nach Mitternacht, alle schliefen im Hause, verließ sie ihr Zimmer und stieg in das obere Stockwerk hinauf, in welchem Christian mehrere Gemächer bewohnte. Sie ging leise, ohne sonderliche Ängstlichkeit. Den Kopf spähend vorgeneigt, raffte sie mit den Händen die Schleppe des weißseidenen Übergewands, das sie trug. Der durchsichtige Stoff glich mehr einem Schimmer auf der Haut, einem Perlenschimmer, als einer Hülle. Nur um Brust und Leib lag er in Verdopplung; den Schritt behinderte ein um die Knie geschlungenes Atlasband, und sie mußte, sich selbst zum Spott, während die Pulse stürmisch klopften, vorsichtig trippeln wie die Geishas, die sie auf dem Theater gesehen hatte.

Als Christian die Tür hinter ihr geschlossen hatte, lehnte sie sich daran; die Beine verweigerten ihr den Dienst.

Er faßte sie zart an beiden Handgelenken, hauchte einen Kuß auf ihre Stirn und fragte lächelnd: »Was wolltest du mir denn bringen, Lätizia? Ich bin gespannt.«

Da wurde sie inne, daß sie die goldene Kröte vergessen hatte. Noch kurz bevor sie aus ihrem Zimmer gegangen war, hatte sie sie bereit gelegt, desungeachtet hatte sie sie vergessen. »Nein, wie dumm,« entschlüpfte es ihr, und sie sah beschämt auf ihre schwarzen Samtschuhe nieder, »wie dumm! Ich hab mir eine kleine Kröte aus Gold machen lassen, die wollt ich dir bringen.«

Er stutzte. Er erinnerte sich der Worte, die er ihr vor vielen Monaten gesagt. Die verflossene Zeit war dreifach lang. Er wunderte sich, wie es hatte sein können, daß ihn eine Kröte so geschreckt. Wohl hörte er sich selbst: »Laß dir eine kleine Kröte aus Gold machen, damit der böse Zauber weicht.« Aber die Mahnung besaß heute keine Gültigkeit mehr, der Zauber war auch ohne Talisman gebrochen.

Wie er nun das Mädchen so vor sich stehen sah, zitternd und trunken, zitterte auch er und ward trunken. Viele waren schon gekommen, in der Nacht; keine so unschuldig und so schuldig dabei, keine so entschlossen und so betört zugleich. Er kannte die Gebärden, ihr stummes Schmachten, das erloschene und wieder aufflammende Auge an ihnen, das halbe Nein und halbe Ja, ihr Anklammern und Wegstoßen, ihre Seufzer, ihre wunderbaren Tränen, die wie warmer, salziger Tau schmeckten, er kannte es an vielen. Und es neuerdings zu erfahren und zu spüren, drängten ihn die Sinne mit aller Macht.

Aber es war etwas dawider. Es war ein braunblasses Gesicht dawider, das ihn mit Augen von unbeschreiblicher Klarheit anschaute. Es war ein blutüberströmtes Gesicht dawider, an dem die schwarzen Haare klebten, und es war ein vom Wasser aufgedunsenes Gesicht dawider, das vordem schön gewesen war. Es war ein Gesicht dawider voll Haß und Scham, das auf schlechtem Linnen ruhte, und ein anderes, in einer Kofferkammer, mit einer weißen Binde umkleidet. Es waren Gesichter von Männern und Weibern dawider, Tausende und Tausende, am Ufer eines Stroms, und andre Gesichter, verkohlte und zertretene in einer Scheune, die er so genau wie in Wirklichkeit durch die Augen eines Ergriffenen gesehen.

Es war sein Herz dawider. Es war die Liebe dawider, die er für Lätizia empfand.

Er wurde ein wenig bleicher, und in seinen Fingerspitzen war Kälte. Da faßte er Lätizia bei der Hand und führte sie in die Mitte des Zimmers. Sie schaute sich zaghaft um, doch jeder Blick galt ihm, von dem sie erfüllt war. Sie fragte nach den Bildern, die an der Wand hingen, bewunderte die Ähnlichkeit seines Porträts, welches sich darunter befand, wollte wissen, was eine kleine Skulptur vorstellte, die er in Paris gekauft hatte; ein Mann und ein Weib, aus Felsen sich lösend, strebten elementar gegeneinander.

Ihre tiefe Stimme hatte sinnlicheren Klang denn je. Indem er ihr antwortete, kam ihm von neuem die Versuchung an, die warme, rosige, blutdurchpulste Wölbung der Schulter, die einer frischen Frucht glich, mit den Lippen zu berühren. Aber es rief in ihm, unüberhörbar: einmal nicht! nur ein einziges Mal nicht!

Es war schwer, aber er gehorchte.

Lätizia wußte nicht, was mit ihr geschah. Sie schauerte zusammen und bat ihn, das Fenster zuzumachen. Aber als das Fenster zugemacht war, fröstelte sie noch stärker. Sie sah ihn von der Seite an. Sein Gesicht erschien ihr hochmütig und fremd. Sie hatten sich auf den Diwan gesetzt, und es war ein Schweigen entstanden. Warum hab ich nur die kleine goldene Kröte vergessen? dachte Lätizia, das ist an allem schuld; und instinktiv rückte sie ein wenig von seiner Seite weg.

»Vielleicht wirst du es später verstehen, Lätizia,« sagte er und erhob sich. Gleich darauf ließ er sich vor ihr auf den Boden nieder, nahm ihre beiden kühlen Hände und legte sie an seine Wangen.

»Nein, ich verstehe es nicht,« flüsterte Lätizia und lächelte mit nassen Augen, »werde es nie verstehen.«

»Doch, du wirst; einmal wirst du es verstehen.«

»Nie,« beteuerte sie leidenschaftlich, »nie.« Alles verwirrte sich in ihr. Sie dachte an Blumen und Sterne, an Bilder und Träume. Sie dachte, wie er es gesagt, an Vögel, die aus der Luft fallen und sterben, und an ein Reh, das erschossen vor ihren Füßen lag. Sie dachte an Wege, die sie gehen würde, an Fahrten auf dem Meer, an Schmuck und an köstliche Gewänder. Aber es hatte kein Bindendes für sie, es löste sich alles wieder zu Stücken. Es riß in ihrem Innern eine Kette, und sie hatte das Bedürfnis, sich hinzulegen und einige Zeit zu weinen. Nicht lange; wenn dann das Weinen vorüber war, konnte es sein, daß sie sich wieder auf den morgigen Tag freute und auf Stephan Gunderam und auf die Hochzeit mit ihm.

»Gute Nacht, Christian,« sagte sie und bot ihm die Hand wie nach harmlosem Plaudern. Die Gegenstände im Zimmer hatten ein andres Aussehen. Auf dem Tisch stand eine geschliffene Schale mit Herbstzeitlosen; die weißen Stengel glichen den Fühlarmen eines Polypen. Die Nacht vor den Fenstern war nicht mehr dieselbe Nacht wie vordem. Man war auf eine eigne Art ganz frei, auf eine trotzige und rachsüchtige Art.

Christian war überrascht von ihrer Haltung und Gebärde. War sie als Mädchen zu ihm gekommen, so ging sie fort als Frau, ohne daß er sie angerührt hatte. »Ich will nachdenken,« sagte sie und nickte ihm mit einem großen, dunklen Blick zu, »ich wills verstehen lernen.«

So ging sie; ging in ihr reiches, armes, abenteuerliches, schweres, tändelndes Leben hinein.

Christian lauschte ihrem Schritt, der hinter der geschlossenen Tür schnell verklang. Er stand regungslos, mit tief gesenktem Kopf. Es war, auch für ihn, nicht mehr dieselbe Nacht wie vordem. Ungeachtet seines Gehorsams gegen die Stimme nagte der Zweifel an ihm, ob, was er getan, recht oder unrecht war, gut oder schlecht.

17

Eines Tages erhielt Christian einen Brief, der die Unterschrift von Iwan Michailowitsch Becker trug. Becker teilte ihm mit, daß er sich vorübergehend in Frankfurt aufhalte und daß eine gemeinsame Freundin ihm nahegelegt habe, Christian Wahnschaffe zu besuchen. Dies unterlasse er aber aus erwogenen Gründen. Wenn Christian Wahnschaffes Gesinnung derart sei, wie die gemeinsame Freundin vorauszusetzen scheine, möge er um eine Abendstunde zu ihm kommen.

Der Name Evas war nicht genannt; er sprach nur von der gemeinsamen Freundin; zweimal. Straße und Haus, wo Becker wohnte, waren angegeben.

Christians erste Regung war, der Aufforderung nicht zu folgen. Er sagte sich, daß er mit Iwan Becker nichts zu schaffen habe. Der Russe war ihm unsympathisch gewesen; seine Beziehung zu Eva Sorel hatte er mißbilligt und hochmütig übersehen. Sooft er sich seines häßlichen Gesichts, seines schleichenden Ganges, seiner stummen, düsteren Gegenwart erinnerte, überkam ihn ein Unbehagen. Was konnte er jetzt von ihm wollen? Weshalb dieser Ruf, in dem Drohendes war?

Nachdem er vergeblich versucht hatte, sich des Nachdenkens hierüber zu entschlagen, zeigte er Crammon den Brief, in der geheimen Erwartung, daß Crammon ihm widerraten werde, zu Becker zu gehen. Crammon las, zuckte die Achseln, sagte aber nichts. Crammon war in übler Laune, Crammon war verletzt; er spürte seit einiger Zeit schon, daß ihn Christian von seinem Vertrauen ausschloß. Außerdem dachte er an Eva Sorel mehr, als seiner Seelenruhe förderlich war. Er machte Fräulein von Einsiedel den Hof; das Fräulein war nicht taub gegen sein Werben, aber dieser Erfolg konnte Crammon das Gleichgewicht nicht zurückgeben, und der Brief riß die Wunde von neuem auf.

Mit Entschluß beendete Christian sein Schwanken und machte sich auf den Weg zu Becker. Das Haus lag in der Vorstadt; er mußte vier Stiegen einer Mietskaserne erklimmen. Er bemühte sich, nirgends anzustreifen, nicht an der Mauer, nicht am Geländer. Als er vor der Tür die Glocke zog, war sein Gesicht blaß von Beklommenheit und Widerwillen.

Wie leidend er aussieht, dachte Christian, als er in dem armselig möblierten Zimmer Iwan Becker gegenübersaß. Er fragte sich, ob dieser Zug des Leidens neu sei oder ob er ihn früher bloß nicht wahrgenommen habe. Als Becker das Wort an ihn richtete, antwortete er verlegen und ungeschickt.

»Madame Sorel geht im Frühjahr nach Petersburg,« sagte Iwan Michailowitsch; »sie hat einen Vertrag unterzeichnet, der sie für drei Monate an das Kaiserliche Theater verpflichtet.«

Christian gab Befriedigung zu erkennen. »Bleiben Sie lange hier?« erkundigte er sich höflich.

»Ich weiß es nicht,« war die Antwort, »ich warte auf eine Nachricht und fahre dann zu meinen Freunden in die Schweiz.«

»Mein letztes Gespräch mit Madame Sorel drehte sich ausschließlich um Sie,« fuhr er fort und sah Christian aus seinen tiefliegenden Augen aufmerksam an.

»Um mich? Ah . . .« machte Christian mit konventionellem Lächeln.

»Sie bestand darauf, daß ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen solle. Sie sagte, es läge ihr daran. Einen Grund nannte sie nicht. Sie nennt ja niemals Gründe. Sie verlangte auch, daß ich ihr Bericht erstatte. Dabei habe ich nicht einmal einen Auftrag für Sie. Sie sagte nur immer: Es hängt etwas für mich davon ab und für ihn vielleicht sehr viel. Sie sehen, ich bin ein willenloses Werkzeug. Ich hoffe, daß Sie mir wegen der Belästigung nicht zürnen.«

»Durchaus nicht,« erwiderte Christian beengt. »Ich kann mir freilich nicht denken, was ihr vorschwebt.« Verwundert fügte er hinzu: »Sie ist sehr eigenartig.«

»Ja, sehr!« Iwan Becker lächelte, wobei die Feuchtigkeit seiner dicken Lippen unangenehm bemerkbar wurde. »Sie ist ein enthusiastischer Mensch. Eine Frau von bedeutender Anlage. Sie hat große Macht über andre Menschen, und sie ist entschlossen, sich dieser Macht zu bedienen.«

Eine Pause entstand.

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« fragte Christian konventionell.

Becker sah ihn an. »Nein,« antwortete er kalt, »ich wüßte nicht.« Er wandte den Blick gegen das Fenster, vor dem man Fabrikschlöte sah, Rauch und trübe Luft, welche Schnee verkündete. Über seine Knie war eine Decke gebreitet, da der Raum nicht geheizt war; unter der Decke war seine verkrüppelte rechte Hand versteckt. Eine Bewegung des Beins verschob die Decke, und die Hand kam zum Vorschein. Christian wußte, was es damit für eine Bewandtnis hatte: Crammon hatte ihm von seiner Begegnung und dem Gespräch mit Becker erzählt, damals in Paris schon. Er hatte es mit Gleichgültigkeit vernommen und, wo er konnte, es vermieden, sein Augenmerk auf diese Hand zu richten.

Er betrachtete sie jetzt; er stand auf, und mit einer Gebärde von Freiheit und Versicherung, die selbst Becker, der ihn doch nur oberflächlich kannte, an ihm in Erstaunen setzte, reichte er seine Hand dar. Iwan Michailowitsch gab ihm die Linke; Christian hielt sie und drückte sie stark und lange. Dann ging er, ohne ein Wort zu sprechen.

18

Aber am andern Tag kam er wieder.

Iwan Michailowitsch erzählte ihm die Geschichte seines Lebens. Er bot ihm in einfacher Weise Gastfreundschaft, kochte Tee, und sogar die Stube war geheizt. Er erzählte abgerissen, mit halbgeschlossenen Augen und krankhaftem, kränklichem Lächeln, ohne rechten Zusammenhang, bald aus seiner Jugend, bald aus den Spätjahren. Es war immer dasselbe: Unterdrückung, Not, Verfolgung, Leiden; Leiden ohne Zahl. Zermalmte Herzen, wohin man ging und sah, vernichtetes Glück, zerstörte Schicksale. Die Eltern in Armut umgekommen, die Geschwister verschollen, die Freunde im Krieg gefallen oder in der Verbannung gestorben; ein Leben ohne Halt, ohne Licht, ohne Ruhe, ohne Aufblick; eine Welt voll Haß und Bosheit, Grausamkeit und Finsternis.

Christian saß und lauschte bis in die späte Nacht.

Sie trafen sich im Kaffeehaus, in einem häßlichen Lokal, das zu betreten Christian vordem nicht vermocht hätte, und saßen bis in die späte Nacht. Oft schweigend, in einem Schweigen, das Christian quälte und bis zu einem kaum erträglichen Grad spannte. Aber seine Miene war sanft.

Sie gingen miteinander am Fluß, durch Straßen und Anlagen, im Schnee. Iwan Michailowitsch sprach von Puschkin, von Belinski, von Bakunin und Herzen, vom Zaren Alexander dem Ersten und der Legende seiner Entrückung, von den Bauern, dem dumpfen, armen Volke. Er sprach von den ungezählten Märtyrern verwehten Namens, Männern und Frauen, deren Tun und Leiden ans Herz der Menschheit pochte und deren Blut, so drückte er sich aus, wie die Röte den Aufgang der Sonne, den Anbruch neuer Zeit verkündete.

Christian verschwand vom Hause, und niemand wußte, wohin er ging.

Einmal sagte Iwan Michailowitsch: »Man hat mir berichtet, daß ein Arbeiter einen Mordanfall auf Ihren Vater gemacht hat. Der Mann ist gestern zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt worden.«

»Ja, es ist wahr,« antwortete Christian; »wie war nur sein Name? Ich habe den Namen vergessen.«

Es erwies sich, daß der Mann weder Schmidt noch Müller hieß, sondern Roderich Kroll. Iwan Michailowitsch wußte den Namen. »Eine Frau und fünf kleine Kinder sind da, leben im größten Elend,« sagte er. »Haben Sie einmal eine Viertelminute lang versucht, sich vorzustellen, was es bedeutet: im Elend leben? Haben Sie Phantasie genug, sich nur eine Viertelminute eines solchen Daseins auszumalen? Haben Sie einmal das Gesicht eines Menschen, der hungert, angesehen? Da ist ein Weib, fünf Kinder hat sie geboren; liebt ihre Kinder genau so, wie Ihre Mutter Sie und Ihre Geschwister liebt. Schön; die Schubladen sind leer; der Herd ist kalt; die Betten sind ins Pfandhaus gewandert; die Kleider und Schuhe sind zerrissen. Die Kinder, jedes ist ein Mensch wie Sie und ich, jedes hat genau dieselbe Anwartschaft auf Zufriedenheit, auf Brot, auf ruhigen Schlaf und auf gesunde Luft wie Sie und Herr von Crammon und zahllose andre, die gar nie darüber nachdenken, daß sie im Besitz all dieser Dinge sind. Schön; nicht nur, daß man sich anstellt, als sehe und wisse man nichts davon; nicht nur, daß man es unbequem findet, wenn man daran erinnert wird; sondern man verlangt auch von diesen Wesen, daß sie still sein sollen, daß sie ihren Hunger, ihre Notdurft, die Kälte, die Krankheit, den Raub an ihrem Besitz und die freche Ungerechtigkeit als etwas Selbstverständliches und Unvermeidliches hinnehmen und ertragen sollen. Haben Sie das schon einmal überlegt?«

»Ich habe es, scheint mir, noch nie überlegt,« erwiderte Christian leise.

»Dieser Mann,« fuhr Iwan Michailowitsch fort, »dieser Roderich Kroll, wurde, soviel ich erfahren habe, planmäßig zum Äußersten getrieben. Er war gläubiger Anhänger der sozialistischen Theorien und sogar den Leuten seiner eignen Partei wegen seiner extremen Anschauungen und der heftigen Propaganda dafür ein wenig zur Last. Man hat ihm den Boden unter den Füßen abgegraben. Man hat ihn durch die kleinlichsten Ränke erbittert und zum Äußersten gedrängt. Man wollte ihn unschädlich machen und zum Schweigen bringen. Aber sagen Sie mir: gibt es ein Extrem auf dieser Seite, das so unbillig, so herausfordernd, so verwerflich sein könnte, wie es das Extrem auf der andern Seite, der Übermut, der Luxus, die Schwelgerei, die Fühllosigkeit und sinnlose Verschwendung an jedem Tag und zu jeder Stunde wirklich ist? Nicht einmal den Namen des Menschen haben Sie gewußt!«

Christian blieb stehen. Der Wind blies ihm den Schnee ins Gesicht und näßte Stirn und Wangen. »Was soll ich tun, Iwan Michailowitsch?« fragte er langsam.

Auch Iwan Michailowitsch blieb stehen. »Was soll ich tun!« rief er. »So fragen alle. So fragte auch Fürst Jakowlew Grusin, einer unsrer Großherren, Adelsmarschall im Nowgoroder Kreis. Nachdem er seine Bauern ausgesogen, seine Pächter geplündert, seine Beamten nach Sibirien gebracht, nachdem er Mädchen geschändet, Frauen verführt, seine eignen Söhne zur Verzweiflung getrieben, sein Leben lang gefressen, gesoffen, gehurt und Verbrechen auf Verbrechen gehäuft hatte, ging er in seinem vierundsiebzigsten Jahr ins Kloster und schrie Tag und Tag aus seiner Zelle: Was soll ich tun? Herrgott und du, mein Heiland, was soll ich tun? Da konnte ihm natürlich niemand antworten. Und so hörte ich auch einen andern vor sich hin fragen, dessen Seele aber rein und weiß war. Er schritt zum Tode, ein Siebzehnjähriger; neun Mann, Gewehr bei Fuß, standen im Festungsgraben; er taumelte heran, und seine unschuldige Seele fragte laut: Was soll ich tun, Vater im Himmel, was soll ich tun?«

Iwan Michailowitsch ging weiter; Christian folgte ihm. »Wir Armen, wir entsetzlich Armen,« sagte Iwan Becker, »was sollen wir tun?«

19

Judiths Hochzeit sollte mit großem Pomp gefeiert werden.

Schon zum Polterabend waren mehr als zweihundert auswärtige Gäste geladen; die Auffahrt der Wagen und Automobile nahm kein Ende.

Es kamen die Kohlen- und Eisenbarone der ganzen Provinz; hohe Militärs und Verwaltungsbeamte mit ihren Damen; die Spitzen des Frankfurter Patriziats und der Finanz; Mitglieder des Darmstädter und Karlsruher Hofs und weither gereiste Fremde. Ein Tenor aus Berlin, eine berühmte Liedersängerin, ein Wiener Komiker, ein Zauberkünstler und ein Taschenspieler waren engagiert worden, um für die Unterhaltung zu sorgen.

Die im Speisesaal hufeisenförmig aufgestellte, von Gold, Silber und geschliffenem Glas strahlende Tafel hatte dreihundertdreißig Gedecke.

In der marmornen Wandelhalle und ihren Nebenräumen wogte die festliche Menge. Bei den Toiletten der Damen herrschte Gelb und Rosa vor, die jungen Mädchen waren zumeist in Weiß. Nackte Schultern leuchteten hinter Perlen- und Diamantengefunkel; das strenge Schwarz und Weiß an Männern dämmte energisch das Schwimmende des Farbenbildes.

Christian ging mit Randolph von Stettner auf und ab, einem jungen Offizier, der bei den Bonner Husaren stand. Sie waren Freunde aus der Knabenzeit her, hatten sich ein paar Jahre nicht gesehen und tauschten Erinnerungen aus. Randolph von Stettner sagte, daß er in seinem Beruf nicht sonderlich glücklich sei; er hätte lieber studiert; seine große Neigung war die Chemie, als Soldat fühlte er sich nicht an seinem Platze. »Aber es nützt nichts, wider den Stachel zu löken,« schloß er seufzend, »man muß in die Kette beißen und still sein.«

Christians Blick fiel auf Lätizia, die inmitten eines dicht gedrängten Kreises von Herren stand. Auf ihrer Stirn war Vergessen; sie wußte nichts vom vorigen Tag und nichts vom morgigen. So in der Stunde gelöst, gab es keine außer ihr.

Ein Diener trat zu Christian und reichte ihm eine Karte. Die Stirn des Dieners hatte bedenkliche Falten; die Karte war nicht ganz sauber. Christian las die geschriebenen Worte auf der Karte: »I. M. Becker muß Sie sogleich sprechen.« Er entschuldigte sich hastig bei Stettner und ging hinaus.

Iwan Michailowitsch stand unbeweglich in der Vorhalle. Neuangekommene Gäste, denen Diener Mäntel und Hüte abnahmen, schritten achtlos an ihm vorüber, die Männer tänzelnd und sprungbereit, die Frauen mit erregten Blicken den Spiegel zu einer letzten Musterung suchend.

Iwan Michailowitsch trug einen langen, grauen, nassen Mantel, der abgeschabt war; das Gesicht mit dem pechschwarzen Rahmenbart war totenbleich. Christian zog ihn in einen leeren Teil des Raumes, wo sie ungestört waren.

»Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Ihnen die Festesfreude trübe,« begann Iwan Michailowitsch, »aber ich hatte keine Wahl. Heute nachmittag erhielt ich einen polizeilichen Ausweisungsbefehl. Ich muß binnen zwölf Stunden Stadt und Land verlassen haben. Ich wollte Sie um die Gefälligkeit ersuchen, dieses Heftchen in Obhut zu nehmen und es zu bewahren, bis es Ihnen von mir selbst oder einem zweifellos beglaubigten Freund wieder abgefordert wird.« Er schaute sich um, zog schnell ein dünnes blaues Heft aus der Tasche und gab es Christian, der es ebenso schnell, mechanisch, in der Brusttasche des Fracks verschwinden ließ.

»Es enthält Aufzeichnungen in russischer Sprache,« fuhr Iwan Michailowitsch fort; »sie haben Wert nur für mich allein, aber man darf sie nicht bei mir finden. Da man mich aus dem Lande weist, muß ich auch darauf gefaßt sein, daß man sich an meiner Person und meinem Eigentum vergreift.«

»Wollen Sie nicht in meinem Zimmer ruhen?« fragte Christian schüchtern; »wollen Sie nicht etwas essen oder trinken?«

Iwan Michailowitsch schüttelte den Kopf. Im Saal drinnen spielten die Streichinstrumente eine einschmeichelnde Melodie von Puccini.

»Wollen Sie nicht wenigstens Ihren Mantel trocknen?« fragte Christian wieder. Die einschmeichelnde Musik, der von ihm gewußte Prunk im Saale, die Heiterkeit, das Lachen, die Fülle der Schönheit und des Glückes, alles das bildete einen so schneidenden Gegensatz zur Erscheinung des Menschen im nassen Mantel, mit dem totenbleichen Gesicht und den krankhaft flammenden Augen, daß er den Gedanken nicht mehr ertragen konnte, dazwischen zu stehen, fühllos und die vollkommene, fürchterliche Fremdheit beider Welten kennend.

»Sie haben viel für meinen Mantel übrig,« entgegnete Iwan Michailowitsch lächelnd; »was nützt es ihm? Er wird ja doch wieder naß.«

»Ich hätte Lust, mit Ihnen, so wie Sie hier sind, in den Saal zu gehen,« sagte Christian und lächelte ebenfalls.

Iwan Michailowitsch zuckte die Achseln, und seine Miene verfinsterte sich.

»Ich weiß nicht, warum mich die Lust ankommt,« murmelte Christian, »ich weiß nicht, was mich daran reizt. Ich stehe da vor Ihnen und habe unrecht. Wenn ich schweige, wenn ich rede, mit meinem bloßen Atem schon habe ich unrecht. Wir sollten nicht hinter der Wand und im Domestikenwinkel miteinander sprechen. Sie fordern etwas von mir, Iwan Michailowitsch, ist es nicht so? Sie fordern etwas; nennen Sie Ihre Forderung.«

Diese Worte verrieten eine bis in den Grund gehende Verwirrung des Gefühls. Sie bebten vor Sehnsucht nach einem Anderssein und Anderswerden. Iwan Becker begriff es inspirativ. Wenn er anfangs geargwöhnt hatte, daß eine Herrenlaune oder, im besseren Fall, der törichte und gedankenlose Trotz eines flüchtig erglühten Proselyten den schönen, reichen, stolzen Menschen zu solcher Äußerung getrieben, so erkannte er jetzt seinen Irrtum. Er begriff vor allem, daß er um Hilfe gerufen wurde, und zwar in einem der entscheidenden Augenblicke, deren es in jedem Leben nur wenige gibt.

»Was sollte ich denn von Ihnen fordern, Christian Wahnschaffe?« fragte er ernst, »doch nicht, daß Sie mich zu den Ihren schleppen, und daß ich das als eine Tat von Ihnen zu betrachten hätte, als eine Überwindung?«

»Nicht als eine Tat, sondern ganz einfach, daß ich mich zu Ihnen bekenne,« erwiderte Christian mit gesenkten Augen.

»Überlegen Sie doch, welche Figur ich dabei abgeben würde, ich mit meinem Kittel, widerwillig und demonstrativ im Reich der Sphären, wie wir uns in Rußland ausdrücken. Ihnen würde man verzeihen; man würde Sie der Extravaganz beschuldigen, man würde Sie auslachen, und man würde darüber hinwegsehen. Aber was geschähe mir? Wenn Sie mich auch vor Beleidigungen schützen könnten, das Demütigende der Situation wäre kaum zu überbieten. Und welchen Zweck sollte eine so prahlerische Handlung haben? Was versprechen Sie sich Gutes davon, Gutes für mich, für Sie, für die andern? Ich könnte keinem etwas anhaben, keinen überreden, keinen überzeugen. Und nicht einmal Sie selbst wären überzeugt.«

Er schwieg einige Sekunden und sah Christian mit einem gütigen und starken Blick an. Dann fuhr er fort: »Wär ich im Gesellschaftsanzug hierhergekommen, so wäre dieses Gespräch wesenlos. Und damit ist es auch erledigt. Sein Gegenstand ist zu klein. Warum, Christian Wahnschaffe, warum soll ich meinen Kittel und meinen nassen Mantel hinein zu Euren Fräcken tragen? Gehen Sie doch einmal dorthin mit mir, wo Ihr Frack ein Frevel und ein Makel ist und mein grober nasser Mantel noch ein Prunkgewand und Vorzug. Ich kenne ein solches Haus; gehen Sie mit mir.«

Christian, ohne ein Wort zu erwidern, rief einen der Diener herbei, ließ sich seinen Pelz reichen und folgte Iwan Michailowitsch ins Freie. Derselbe Diener stürzte ihm voraus, in die Garage hinüber; sie hatten nur wenige Minuten zu warten, und als der Wagen anfuhr, ließ Christian Iwan Michailowitsch den Vortritt, befragte ihn um das Ziel, nahm an seiner Seite Platz, und der Wagen setzte sich in Bewegung.

20

Iwan Michailowitsch Becker hatte die Familie des mit Zuchthaus bestraften Arbeiters Roderich Kroll schon zweimal besucht. Sein Interesse an den Leuten war nur ein mittelbares, durch jenes hervorgerufen, das er für Christian Wahnschaffe gefaßt hatte. Es war in Christian Wahnschaffe etwas, das ihn bewegte; gleich nach dem ersten Gespräch, das sie miteinander gehabt, hatte er lange über ihn nachgedacht, über seine Person und seine bestrickenden Eigenschaften sowohl wie über seine Lebensumstände und das soziale Erdreich, aus dem er hervorgewachsen war. Da der Name des Großindustriellen Wahnschaffe so eng mit dem Roderich Krolls und seinem Prozeß verknüpft war, der ziemlich viel Lärm gemacht hatte, war seine Aufmerksamkeit auf natürlichem Weg dorthin gewendet worden. Er hatte möglicherweise schon vorher den Schritt erwogen, der jetzt zur Ausführung kam. Denn für ihn stand es unerschütterlich fest, daß viele Menschen besser wären und gerechter handeln würden, wenn sie nur sehen könnten oder wenn man ihnen die Gelegenheit verschaffen würde, zu sehen.

Frau Kroll hatte mit ihren fünf Kindern in dem Mansardenloch einer von vielen Hunderten von Menschen bewohnten Mietskaserne am äußersten Rande der Stadt Zuflucht gefunden. Sie hatte vordem eine der zahlreichen Arbeiterwohnungen innegehabt, die Albrecht Wahnschaffe bei seinen Fabriken hatte bauen lassen; aus diesem Heim war sie vertrieben worden, und sie war in die Stadt gezogen.

Die Mansarde beherbergte außer ihr und ihren Kindern, von denen das älteste zwölf Jahre zählte, noch drei Bettgeher: einen Lumpensammler, einen Orgeldreher und einen beständig betrunkenen Vagabunden. Es war ein Raum von zwanzig Quadratmeter Fläche; die Bettgeher lagen auf schmutzigen Strohsäcken, die fünf Kinder auf zwei eng aneinandergeschobenen zerrissenen Matratzen, Frau Kroll im Winkel zwischen Dach und Fußboden auf einem Wollhaartuch und einem Bündel alter Kleider.

An diesem Tag war der Hausverwalter dreimal erschienen, um die Miete einzufordern. Beim drittenmal hatte er, da sie nicht zahlen konnte, gedroht, sie am Abend auf die Straße zu setzen. Eine Viertelstunde vor Christians und Iwan Beckers Ankunft war er in Begleitung des Pförtners und eines andern Untergebenen in den halbfinstern, übelriechenden Raum getreten und hatte sogleich Anstalten getroffen, seine Drohung auszuführen. Sein Gesicht machte eher den Eindruck der Gutmütigkeit als den der Härte; er tat sich etwas zugute auf den Humor, mit dem er seine amtlichen Verrichtungen würzte; das Schreien und Jammern beirrte ihn nicht im geringsten. Er sagte: »Hurtig, Kinder, hurtig;« oder: »Marsch, an die Gewehre, keine Lamentos, keine Zärtlichkeiten, keine Kniefälle; Zeit ist Geld, Geschwindigkeit ist halbe Arbeit.«

Wie immer bei solchem Anlaß gerieten alle nahe wohnenden Parteien in Bewegung und drängten sich auf dem Flur. Ein Weib mit gelben Haaren, im Hemde; ein andres im scharlachroten Schlafrock; ein Krüppel ohne Beine; ein Greis mit langem Bart; Kinder, die sich rauften; ein geschminktes Frauenzimmer mit einem Hut so groß wie ein Wagenrad, ein andres, das eine brennende Kerze trug, während ein Mann, der von der Straße mit ihr gekommen war, sich erschrocken ins Dunkel zu drücken bemüht war.

Dazwischen schallte das Weinen der Krollschen Kinder, das tonlose Bitten der Frau, die mit verstörten Blicken zuschaute, wie die Gehilfen des Exekutors ihre Habseligkeiten auf einen Haufen warfen. Der Vagabund fluchte, der Orgeldreher schleppte seinen Strohsack zur Tür, der Hausverwalter knipste mit den Fingern und sagte: »Hurtig, Kinder, mein Abendessen wird kalt, keine Lamentos, keine Zärtlichkeiten, hurtig, hurtig.«

21

Da traten Christian und Iwan Becker ein. Sie zwängten sich durch Gaffende, Christian im kostbaren Pelz. Der Verwalter blieb mit offenem Munde stehen. Seine Kreaturen rissen mechanisch die Kappen herunter. Iwan Michailowitsch wollte die Tür schließen, aber das Frauenzimmer mit dem großen Hut stand auf der Schwelle und wich nicht. »Die Tür sollte man zumachen,« sagte er zum Verwalter, und dieser ging hin und machte die Tür zu, wobei er die geschminkte Person einfach zurückstieß. Iwan Michailowitsch fragte, ob die Frau mit ihren Kindern delogiert werden solle. Der Verwalter antwortete, sie könne die Miete nicht zahlen, man habe bis heute, weit über die Frist, Nachsicht gehabt, länger gehe es nicht an, ohne daß die Ordnung litte und schlechtes Beispiel gegeben würde. Iwan Michailowitsch sagte, er verstehe; zu Christian gewandt, wiederholte er, als ob er Worte einer fremden Sprache übersetze: »Sie kann den Zins nicht bezahlen.« Draußen ertönte ein Pfiff, und ein Frauenzimmer kreischte. Der Verwalter öffnete die Tür, schrie etwas hinaus und warf sie wieder ins Schloß, worauf Ruhe eintrat.

Frau Kroll kauerte zwischen ihren Kindern, die Ellbogen in den Schoß gewühlt. Sie hatte eine robuste Figur und ein knochiges Gesicht, fahl wie Brotteig und mit zentimetertiefen Gramfalten. Es sah totenkopfähnlich aus. Die Kinder starrten sie angstvoll an; zwei waren völlig unbekleidet, und der eine der nackten Körper war von Krätze bedeckt. Ob er etwas für die Leute tun wolle, erkundigte sich der Verwalter in biederem Ton bei Iwan Becker; Christian wagte er nicht einmal anzureden. »Ich denke, wir werden etwas für sie tun können,« versetzte Becker und kehrte sich Christian zu.

Christian hörte; Christian sah. Er nickte ein paarmal, was wie furchtsamer Übereifer wirkte.

Sein Blick fiel auf einen Waschkrug mit abgebrochenem Henkel; der Krug zeigte ein grünes Muster, eine banale Arabeske, die sich ihm einprägte. Dann wurde er von dem schief aufgestellten Fenster im Dach beunruhigt und dem Schneerand in der Rille. Dann gewahrte er einen einzelnen Stiefel mit einer dicken Kotkruste an der Sohle. Dann fesselte ein Strick seine Beachtung, der von einem Balken herabhing; dann die kleine Petroleumlampe, mit geschwärztem Zylinder. Nur Dinge, an denen sich sein Auge festsaugte. Aber die Dinge gingen in ihn über, und er verwandelte sich in sie. Er war selbst der Krug mit abgebrochenem Henkel und der grünen Bemalung, selbst das Fenster mit dem Schneerand darunter, selbst der Stiefel mit der Kotkruste, selbst der Strick, der vom Balken hing, selbst das Lämpchen mit dem berußten Zylinder. Er wurde in einem Schmelzfeuer umgeformt, Gestalt wechselte mit Gestalt, und obwohl er auch die Vorgänge spürte, die Menschen, diese Bettler, dieses Weib, die Kinder, Iwan Michailowitsch, den Verwalter und diejenigen, die draußen vor der Tür standen, war es sein innigstes Bemühen, sie noch von sich abzuhalten, eine kleine Weile noch, ehe sie mit ihrer Qual, ihrer Verzweiflung, ihrer Besessenheit, ihrer Grausamkeit über ihn stürzten: wilde Hunde über ein Stück Fleisch.

Ein Seufzer entrang sich ihm, ein verstörtes, wieder zurückfliehendes Lächeln trat auf seine Lippen. Eines der Kinder, ein vierjähriger Knabe mit einem unkenntlichen Fetzen angetan, schritt zu ihm, schaute an ihm empor wie an einem Turm. Zugleich waren die Augen aller andern auf ihn geheftet; er glaubte es wenigstens. Seine Brust wurde ein feuergefülltes Becken, getragen und in die Höhe gehoben von den mageren Armen des Knaben. Im Nu hatte er die Hand voller Goldstücke, machte eine Geste, die das Kind ermutigte, die offenen Hände ihm entgegenzustrecken, legte die Goldstücke hinein, von denen die kleinen Hände nur wenige fassen konnten, so daß sie, zum starren Erstaunen der Zuschauer, auf den Boden rollten.

Danach riß er die Brieftasche heraus, leerte sie mit nervösen Fingern bis auf den letzten Schein, sah sich um, trat auf das Weib zu, empfand eine gewisse Verachtung gegen sein hohes Dastehen, indes jene unten kauerte, kniete nieder, kniete nieder und ließ alle Geldscheine in ihren Schoß fallen. Er wußte nicht, wieviel Geld es war; später stellte es sich heraus, daß es viertausendsechshundert Mark waren. Er erhob sich wieder, ergriff Iwan Becker am Arm, und sein Blick wurde von diesem verstanden.

Es herrschte atemlose Stille, als sie gingen. Der Verwalter und seine Leute, die drei Bettgeher, die fünf Kinder, alle waren wie versteinert. Das Weib schaute mit stieren Augen den Reichtum in ihrem Schoße an. Sie stieß einen Schrei aus und verlor das Bewußtsein. Der Knabe spielte mit den Goldstücken, die leise klirrten, so wie nur Gold klirrt, melodisch und ohne Härte.

Auf der Straße unten sagte Iwan Michailowitsch zu Christian: »Daß Sie vor ihr niedergekniet sind, das war es, das ganz allein. Das andre, darin liegt etwas wie Verhängnis und Bitterkeit für mich. Aber daß Sie hingekniet sind – das, ja das!« Mit jäher Bewegung ergriff er Christians Kopf, stellte sich auf die Zehen und küßte ihn, mit einem Hauch nur, auf die Stirn. Danach murmelte er ein Abschiedswort und eilte die Straße hinunter, ohne des wartenden Automobils zu achten.

Christian gab seinem Chauffeur die Weisung, ihn nach Christiansruh hinauszufahren. Zwei Stunden später war er dort; in tiefer Ruhe, denn Ruhe war ihm not. Die Seinen ließ er telephonisch benachrichtigen, daß unvorhergesehene Ereignisse ihn verhindert hätten, bis zum Schluß des Abends zu bleiben, daß er aber bei Judiths Trauung bestimmt anwesend sein würde. Er begab sich in das entlegenste Zimmer des Hauses und blieb die Nacht über wach.

22

Sechs Wochen nach Judith heiratete Lätizia. Die Hochzeit fand aber, Stephan Gunderams Wunsch entsprechend, in der Stille statt. Bei dem einfachen Mahl in einem Heidelberger Hotel waren als Gäste Frau von Febronius, die Gräfin, die beiden Neffen Ottomar und Reinhold und ein argentinischer Freund Stephans anwesend, ein grober Riese, der für ein Jahr nach Deutschland geschickt worden war, um sich Schliff anzueignen.

Ottomar trug ein selbstverfertigtes Gedicht zum Preis seiner schönen Cousine vor. Reinhold sprach einen Toast im Stil der Tischreden Martin Luthers. Stephan Gunderam zeigte wenig Verständnis für die literarische Geistigkeit seiner neuen Verwandten.

Frau von Febronius war still, auch beim Abschied. Die Gräfin weinte sich die Augen aus dem Kopf. Sie versah Lätizia mit allerlei Regeln und Ratschlägen, aber das Schwierigste hatte sie sich, aus Feigheit, bis zuletzt aufgehoben. Sie zog Lätizia in ihr Zimmer und, bleich und rot in einem, war sie bestrebt, der Sorglosen einen Begriff von der Physiologie des ehelichen Lebens zu geben. Aber auch jetzt versagte ihr der Mut, und sobald sie auf den Kern des Gegenstandes dringen wollte, begann sie zu stottern und sich zu verwirren.

Lätizia amüsierte sich.

Stephan Gunderam hatte Eile fortzukommen, wie jemand, der einen Raub in Sicherheit bringen will.

Frau von Febronius sagte zu ihrer Schwester: »Es ahnt mir nichts Gutes von dieser Heirat, obwohl das Kind den Eindruck einer Glücklichen macht. Ihre Natur ist es, die sie gegen das Unglück wappnet; das ist die wunderbare Mitgift, die sie hat.« Da sagte die Gräfin mit gefalteten Händen und tränenverhängten Augen: »Wenn ich gesündigt habe, lieber Gott, so vergib es mir.«

Lätizia überstand die Seereise vortrefflich. Sie hielt sich mit ihrem Gatten einige Tage in Buenos Aires auf und lernte dort viele Leute kennen. Bekannte Stephans betrachteten sie mit teilnahmsvoller Neugier. Alles war anziehend und merkwürdig, Menschen, Häuser, Tiere, Pflanzen, Erde und Himmel. Am anziehendsten und merkwürdigsten aber war ihr noch immer die eifersüchtige Tyrannei des Mannes, dem sie vermählt war, obwohl sich bisweilen ein Tropfen Furcht in ihr Gefühl mischte. Aber sie scherzte die Anfechtung vor sich selbst hinweg.

Eines frühen Morgens stand eine feste, schwere Kutsche mit zwei kleinen, flinken Pferden bereit, um sie auf das dreißig Meilen entfernte Gut zu bringen. Mit Proviant reichlich versehen, verließen sie in schneller Fahrt die Stadt. Nach ein paar Stunden hörte die gebahnte Chaussee auf, etwa wie ein Bach versiegt, und die Ebene der Pampas dehnte sich bis an die Grenzen des Horizonts ohne Weg noch Weiser.

Oder doch; die Straße, welcher die Pferde zu folgen hatten, war links und rechts durch mannshohe Pfähle bezeichnet, die in Abständen von ungefähr zwanzig Metern in den Grasboden geschlagen waren. In dieser Zeile liefen die Tiere ruhig hin; der Neger auf dem Bock brauchte sie nicht anzufeuern; die eintönige und gefahrlose Fahrt erlaubte ihm zu schlafen.

Es gab keine Station; Futterrasten wurden, wenn die Tiere dessen bedurften und Wasser in der Nähe war, unter freiem Himmel gemacht. Kein Haus, kein Baum, kein Mensch zeigte sich von morgens bis abends. Lätizia verspürte Bangigkeit.

Sie hatte längst aufgehört zu sprechen oder Stephan zum Sprechen zu ermuntern. Er schlief wie sein Kutscher.

Als die Sonne hinter weißlichen Wolkenschleiern gesunken war, richtete sie sich auf und blickte suchend über die unendliche Grasfläche. Noch immer ragten die hohen Holzpfähle in ermüdender Regelmäßigkeit zu beiden Seiten der ungebahnten Straße.

Doch siehe, auf einem der Pfähle saß ein graubrauner Vogel, geduckt und unbeweglich, mit riesigen, runden Glühkohlenaugen.

»Was ist das für ein Vogel?« fragte sie.

Stephan Gunderam schreckte empor. »Eine Eule ist es,« antwortete er; »kennst du Eulen nicht? Bald wirst du mehr von ihnen sehen. Jeden Abend, wenn es dunkel wird, hocken sie auf den Pfählen. Schau hin, es fängt schon an, auf jedem Pfahl sitzt eine.«

Lätizia schaute hin, und wirklich, auf jedem Pfahl, hüben wie drüben, so weit der Blick reichte, auf jedem Pfahl saß mit riesigen, kreisrunden Glühkohlenaugen feierlich träg und schwer eine Eule.


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