Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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11

»Hatten Sie Furcht?« fragte Christian auf der Straße.

»Ein wenig,« antwortete Ruth. Sie lächelte, aber sie zitterte noch.

Sie schlugen nicht den Heimweg ein. Sie gingen, in entgegengesetzter Richtung, durch viele Straßen. Christian ging schnell, und Ruth hatte Mühe, an seiner Seite zu bleiben. Es wehte scharfer Wind; sie trug nur ein ärmliches Mäntelchen, das sich blähte.

»Ist Ihnen kalt?« fragte Christian. Sie verneinte. Eine Wolke gelber Blätter wirbelte vor ihnen auf. Christian ging und ging.

»Die Sterne scheinen ja,« sagte er, einen flüchtigen Blick zum Himmel werfend.

Sie gelangten in eine öde breite Straße, durch deren Mitte sich eine Schnur von Bogenlampen bis in die Unendlichkeit zog. Die Häuser sahen unbewohnt aus.

Sie gingen und gingen.

»Sagen Sie etwas,« bat Ruth, »erzählen Sie mir etwas von sich. Nur einmal, nur heute.«

»Von mir ist nichts Gutes zu erzählen,« antwortete er in den Wind hinein.

»Gut oder nicht gut, ich werd es dann wenigstens wissen.«

»Aber was denn?«

»Irgend etwas.«

»Ich muß suchen; ich habe kein Gedächtnis für das, was ich erlebt habe.« Aber da erinnerte er sich schon einer Nacht, die er versunken geglaubt. Das damals Geschehene wurde hell in Drohung. Es hing auf geheimnisvolle Art mit Ruth zusammen. Bedürfnis zu bekennen überfiel ihn wie Hunger.

»Nicht suchen,« sagte Ruth, »das, was Ihnen entgegenkommt.«

Er mäßigte seinen Schritt. Arm an Worten, stellte er das Faktum vorläufig nüchtern in sich fest.

Lächelnd drängte Ruth: »Fangen Sie nur an. Das erste Wort ist das schwerste.«

»Ja, das erste Wort ist das schwerste,« stimmte er zu.

»Ist es lange her, das, woran Sie denken?«

»Es ist wahr, ich denke an etwas Bestimmtes. Sie sahen gut.« Er wunderte sich schwerfällig. »Es ist vier Jahre her. Ich machte mit zwei Freunden eine Autotour nach Süditalien.« Er stotterte; die Worte waren lahm. Ruths unfaßbar süßzwingender Blick jagte sie aus Verstecken heraus. Allmählich flossen sie williger.

Er und die Freunde waren also an einem schönen Maiabend nach Aquapendente gekommen, einer Stadt tief in den Abruzzen. Eigentlich hatten sie bis Viterbo gelangen wollen, aber das Felsennest gefiel den Begleitern Christians, und sie bestimmten ihn, zu bleiben. Er zögerte lange; »ich wollte ja nur immer rasen und rasen,« sagte er. Als sie vor dem Albergo hielten und die Freunde auf ihn einredeten, war ihm der Gedanke unangenehm, in dem schmutzigen Haus übernachten zu sollen. Da schritt von der hohen Kirchentreppe gegenüber ein junges Mädchen herunter, so lieblich, so majestätisch, wie er wenige vorher gesehen hatte; nun mochte er selbst nicht weiter. Der Wirt, gefragt, wer das Mädchen sei, nannte mit Achtung in der Stimme, den Namen. Es war die Tochter eines Steinmetzen namens Pratti. Christian sagte, er müsse sie bringen; er solle ein Souper bereiten und Angiolina Pratti dazu bitten. Das lehnte der Wirt ab. Christian forderte ihn auf, den Vater herzubringen. Er antwortete, er wolle ihn bringen. Die Freunde suchten Christian sein Vorhaben auszureden und sagten, die Frauen dieses Landes seien scheu und stolz und sie zu gewinnen sei unter Umständen nicht leicht; man müsse es jedenfalls zarter anfassen als er im Begriff sei, es zu tun. Christian lachte sie aus, sie stritten hin und her, schließlich wurde er trotzig und sagte, er wolle etwas zustande bringen, was sie für vollkommen unmöglich halten würden, und dazu brauche es weder Kunst noch Geschicklichkeit noch Mühe, sondern einfach die Kenntnis des Charakters dieser Leute. Der Vater des Mädchens machte seine Aufwartung; es war ein weißhaariger, weißbärtiger Mann von noblen Manieren. Christian geht ihm entgegen und redet ihn an. Es würde ihm und seinen Freunden Vergnügen bereiten, in Gesellschaft von Signorina Pratti zu soupieren, sagt er. Pratti runzelt die Stirn und antwortet, das Anliegen befremde ihn; er habe nicht die Ehre, die Herren zu kennen. Christian faßt ihn scharf ins Auge und fragt: Um welchen Preis würden Sie Ihre Tochter Angiolina heute abend um acht Uhr nackt zu uns ins Zimmer und an unsern Tisch führen? Pratti zuckt zurück; er keucht; er schaut ihn mit rollenden Augen an; die Freunde horchen erschrocken auf; Christian sagt zu dem Alten: wir sind anständige junge Leute; Sie können sich auf unsere Verschwiegenheit verlassen; wir wollen nichts weiter als Angiolinas Schönheit bewundern. Pratti geht mit aufgehobenen Armen wild auf ihn los. Er war darauf vorbereitet. Er sagt: Um welchen Preis also? Fünftausend? Der Italiener stutzt. Er sagt: Zehntausend? und nimmt aus der Brieftasche zehn Scheine. Pratti wird bleich und schwankt. Christian sagt: Zwölftausend? Er merkt an des andern Miene, es ist ein unermeßlicher Schatz für ihn; er hat ein Leben lang gearbeitet und nie so viel beisammen gehabt. Das macht Christian noch toller, und er bietet fünfzehntausend. Pratti öffnet die Lippen und seufzt: O Signor! Es klang so, daß es Christian hätte nah gehen sollen; »aber mir ging nichts nahe damals,« sagte er. Er wußte nur, daß er seinen Willen durchgesetzt hatte. Der Mann nahm das Geld und taumelte hinaus Am Abend setzten sich die jungen Leute mit einiger Spannung an die hübsch hergerichtete Tafel des Wirts. Altes Silbergeschirr und geschliffene Gläser waren aufgetragen, Rosen standen in kupfernen Gefäßen, dicke Wachskerzen waren angezündet, der Raum hatte Ähnlichkeit mit dem Saal in einem Schloß. Es wurde acht; es wurde viertel neun; die Unterhaltung stockte; alle blickten nach der Tür; Christian befiehlt dem Patron, daß er erst wieder eintreten solle, wenn er gerufen würde, denn er wollte ja kein öffentliches Spektakel geben; endlich um halb neun erscheint der alte Pratti und hält auf seinen Armen die Tochter. Sie ist in einen Mantel gehüllt. Er bedeutet den jungen Leuten durch einen Blick, die Türen zu schließen. Sie tun es. Er streift den Mantel ab, und sie sehen die wunderbare Angiolina nackt. Ihre Hände und ihre Füße sind mit Stricken zusammengebunden. Er setzt sie auf den Sessel, der leer neben Christian steht. Ihre Augen sind geschlossen. Sie schläft. Aber es ist kein natürlicher Schlaf; sie ist betäubt worden, wahrscheinlich mit Mohnsaft. Pratti macht eine tiefe Verbeugung und geht. Die drei Freunde schauen den gefesselten herrlichen Körper an, das leicht geneigte Haupt, das rosige Gesicht, die frei hängenden Haare; mit Triumph und Übermut wars vorbei. Einer geht ins Schlafzimmer und bringt einen bunten Schal, den schlägt er um das Mädchen, und Christian weiß es ihm Dank. In aller Hast verzehrten sie etwas von den kalten Schüsseln, der Wein blieb unberührt. Dann gingen sie hinunter, bezahlten den Wirt, riefen den Chauffeur und fuhren noch in der Nacht die Straße nach Rom weiter. Keiner redete während der Fahrt. Auch später sprach keiner mehr von Angiolina Pratti. Es war für Christian schwer, das Bild loszuwerden: in dem Saal das Mädchen allein unter Rosen und brennenden Kerzen, gefesselt und betäubt. Allmählich gelang es doch; es kamen ja viele neue. »Vorhin, als wir das Haus verließen, ist es so frisch gewesen wie am Tag von Aquapendente,« sagte er; »ich mußte immer daran denken, ich weiß nicht, warum.«

»Wie seltsam,« flüsterte Ruth.

Sie gingen und gingen.

»Wohin gehn wir denn?« fragte Ruth.

Christian sah sie an. »Was ist seltsam? Daß ich es Ihnen erzählt habe? Eigentlich war mir, als sei es überflüssig, als wüßten Sie es ohnehin.«

»Ja,« gestand sie schüchtern, »oft steh ich in Ihnen drin, fast wie in einer Flamme.«

»Sie haben Mut, daß Sie so etwas sagen.« Er liebte nicht solch hohe Worte, aber dieses bewegte ihn.

»Sie sollen sich nicht schämen,« flüsterte sie.

Er antwortete: »Könnt ich sprechen wie ein richtiger Mensch, mir bliebe vieles erspart.«

»Erspart? Was denn erspart? Möchten Sie sich sparen? Dann wären Sie es nicht. Nicht ums Sparen handelt sichs. Verschwenden ist notwendig, alles hinverschwenden, maßlos.«

»Wie haben Sie urteilen gelernt, Ruth? Sehen und fühlen und wissen, und den Mut, woher haben Sie den?«

»Ich möchte Ihnen auch etwas erzählen,« sagte Ruth.

»Ja, erzählen Sie mir etwas von sich.«

»Von mir? Ich glaube nicht, daß ich es kann. Ich will Ihnen von jemand erzählen, der mir sehr nahe steht. Von einer Schwester. Keiner leiblichen Schwester, ich habe ja keine. Ich sagte vorhin ›seltsam‹, weil mir diese Angiolina Pratti auch wie eine Schwester ist. Es sind auf einmal drei Schwestern da, Angiolina, ich und die, von der ich Ihnen erzählen will. Es ist eine ziemlich traurige Geschichte. Das heißt am Anfang, das Ende ist nicht mehr ganz so traurig. Ach, das Leben ist so wunderbar, so erschütternd wunderbar, so reich und so gewaltig!«

»Ruth, kleine Ruth,« sagte Christian.

Sie erzählte. »Ein Mädchen, ein Kind war es. Lebte mit ihren Eltern in Slonsk, weit im Osten. Es ist jetzt fünf Jahre her, daß die Sache passierte. Der Vater, sehr arm, war als zweiter Buchhalter in einer Spinnerei angestellt, aber er wurde so gering entlohnt, daß er kaum die Miete für die elende Wohnung aufbringen konnte. Die Mutter hatte schon lang gekränkelt; Kummer über all das Mißlingen zehrte ihre letzten Kräfte auf, und im Winter starb sie. Die Leute waren die einzigen Juden in Slonsk, und um die Leiche zu bestatten, mußte sie nach Inowrazlaw geführt werden, wo der nächste jüdische Friedhof war. Eisenbahn fährt da keine, also blieb nur ein Fuhrwerk. Morgens um sieben Uhr, Ende Dezember wars, kam ein Leiterwagen, und der Sarg mit der Leiche der Mutter wurde daraufgelegt. Der Vater, der Bruder und das Mädchen folgten dem Wagen zu Fuß. Das Mädchen war damals elf Jahre alt, der Bruder achteinhalb. Es schneite in dicken Flocken, die Landstraße war unterm Schnee verschwunden, man kannte den Weg nur an den Bäumen rechts und links. Als sie aufbrachen, war es noch finster, und als es Tag wurde, gab es nur zwittriges Licht. Das Mädchen war unbeschreiblich traurig, und die Traurigkeit wurde mit jedem Schritt größer. Wie es nun vollends Tag geworden war, so ein scheinhafter Nebeltag, flogen von allen Seiten Krähen herbei. Vermutlich wurden sie durch den Leichnam im Sarg angelockt; das Mädchen hatte nie so viele gesehen; es schien, wie wenn sie aus dem Himmel stürzten; mit großen schwarzen Flügeln flogen sie voran und wieder zurück und krächzten unheimlich in die dicke, kalte Stille. Da wurde die Traurigkeit so arg, daß das Mädchen zu sterben wünschte. Sie blieb ein wenig zurück; Vater und Bruder merkten es nicht im Schneegestöber; der Fuhrmann schritt vorn bei den Pferden. Sie ging über einen Acker auf ein Gehölz zu, und dort setzte sie sich hin und beschloß zu sterben. Die Sinne dämmerten bald ein; da kam ein alter Bauer, der Holz aufgelesen hatte, aus dem Wald, und wie er sie gewahrte, schon regungslos und halb schlafend, stand er zuerst eine Weile, dann machte er sich daran, ihr alles, was sie anhatte, vom Leibe zu ziehn, den Mantel, die Schuhe, das Kleid, die Strümpfe und schließlich auch das Hemd. Die Bauern sind dort sehr arm. Sie konnte sich nicht wehren, sie spürte, was ihr geschah, nur wie im tiefen Traum, und als er aus den Sachen ein Bündel gemacht hatte, ließ er sie für tot im Schnee liegen und humpelte gegen die Straße. Er marschierte eine Weile und traf den Leiterwagen mit dem Sarg und den zwei Männern und dem Knaben. Der Wagen war stehengeblieben, denn sie hatten das Mädchen vermißt. Am Chausseerand ragte ein Christuskreuz empor, und das war das erste, was den Bauern stutzig machte. Es erschien ihm nicht als ein Zufall, daß da ein Christus stand, neben dem Wagen mit dem Sarg. Er hat es später bekannt. Er sah die Hunderte von Krähen, die wild und hungrig krächzten, da erschrak er. Er sah, wie der Vater verzweifelt war und sich anschickte umzukehren und nach allen Himmelsrichtungen auslugte und in den Nebel hineinschrie; da schlug ihm das Gewissen. Er fiel vor dem Kreuz auf die Knie und betete. Der Vater fragte ihn, ob er nicht ein Kind gesehen hätte; da deutete er und wollte sich davonmachen und lief über die Felder, aber es trieb gerade dorthin, wo er das Mädchen beraubt und verlassen hatte. Er hob den Körper auf seine Arme, wickelte ihn in seinen Mantel und drückte ihn an seine Brust. Der Vater war ihm gefolgt und nahm ihm das Mädchen ab, fragte nicht, warum es so nackt und bloß sei, und sie rieben die Haut so lange mit Schnee, bis die Erstarrte wieder die Augen aufschlug. Da küßte der Bauer das Mädchen auf die Stirn und machte ein Kreuz über ihr, einer Jüdin. Der Vater zankte deswegen mit ihm, aber der Bauer sagte: Verzeih mir, Bruder, und küßte ihm die Hand. Von der Zeit an ist eine Traurigkeit solcher Art nie mehr über das Mädchen gekommen. An den Moment, wo sie der alte Bauer in seinen Mantel wickelte und sie an seine Brust drückte, hat sie nur eine ferne Erinnerung behalten, aber ich glaube, da ist sie zum zweitenmal geboren worden, besser und stärker als das erstemal.«

»Ruth, kleine Ruth,« sagte Christian.

»Vielleicht ist auch jene Angiolina, meine andre Schwester, aus dem vorübergehenden Tod zu einem froheren Leben aufgewacht.«

Christian antwortete nicht. Wie sie so neben ihm ging, fühlte er, es ging ein Licht an seiner Seite.

An einer Ecke der öden Straße flammte ein Auslagenfenster. Sie traten hin, mit gleicher Wendung und wie auf Beschluß. Der Laden innen war leer und schon versperrt, im Fenster lag ein kostbarer Prunkpelz aus Zobel, verlockend ausgebreitet, ein Sinnbild des Reichtums, der Wärme und des Schmuckes. Christian schaute Ruth an, und er sah ihr ärmliches Mäntelchen, in dem sie fröstelte. Und er sah, daß sie arm war. Und es wurde ihm bewußt, daß auch er arm war; genau wie sie, unabänderlich. Da lächelte er; es dünkte ihm sinnvoll, und er verspürte eine Freude, die etwas Listiges und Entzücktes hatte.

12

Der erste Besuch Johanna Schöntags bei Voß verlief banal. Indem sie die junge Dame vergessen zu machen suchte, war sie es erst recht. Um ihre Beklommenheit zu verbergen, gab sie sich halb kapriziös, halb kritisch. Sie war erheitert darüber, daß ein Schaukelstuhl im Zimmer stand; »wie bei Großmama,« sagte sie; »man wird gleich anachronistisch angeheimelt;« dann setzte sie sich hinein, schaukelte sich, zog kandierte Früchte aus ihrem Perltäschchen und ließ sie auf der Zunge zergehn, was ihr einen komisch schmollenden Ausdruck verlieh.

Auf dem gedeckten Tisch standen die Teekanne, zwei Tassen und mehrere Teller mit Bäckereien. In Vossens Wesen war Aufzeigen, daß man auch mit geringen Mitteln Zufriedenstellendes bieten könne. Johanna ergötzte sich. Sie dachte: wenn er mir jetzt ein Photographiealbum mit Bildern aus seiner Kinderzeit bringt, platze ich heraus. Dabei klopfte ihr das Herz in ganz andern Befürchtungen.

Voß sprach von seiner Einsamkeit. Er deutete auf gewisse Erfahrungen hin, die ihn menschenscheu gemacht hätten. Es gäbe Leute, denen es vom Schicksal bestimmt zu sein scheine, in allem Schiffbruch zu leiden, woran sie mit dem Herzen beteiligt seien. Die müßten für Umkrustung sorgen. Nun, er umkruste sich. Einen Freund habe er niemals besessen; die Illusion von Freundschaft wohl. Die Haltlosigkeit einer Sehnsucht einsehen zu müssen, sei bitterer als die Unzulänglichkeit eines Menschen.

Johannas heimliche Furcht wuchs, als sie ihn sentimental werden hörte. Sie sagte: »Dieser Schaukelstuhl ist das Erfreulichste, was mir seit langem vorgekommen ist. Er erzeugt so eine angenehme Seekrankheit in mir. Wird die Partei, die unter Ihnen wohnt, nicht glauben, Sie sind Vater geworden und wiegen Ihr Neugeborenes?« Sie lachte, verließ den Stuhl, trank Tee, knabberte Backwerk, dann nahm sie jäh Abschied.

Voß knirschte. Die Hand war ihm leer geblieben. Allein am Tisch, formte er aus einem Stück weichen Kuchens eine Mädchenfigur und durchstach sie mit der Schlipsnadel, die ihm Christian geschenkt. Im Zimmer war noch das Aroma von einem Frauenkörper, von Frauenkleidern, Frauenhaar. Er schnupperte. Er setzte den leeren Schaukelstuhl in Bewegung und redete mit einer unsichtbaren Person, die drinnen lehnte und sich seinen Blicken kokett entzog. Eine Zeitlang arbeitete er, hierauf verlor er die Lust, und seine Gedanken beschäftigten sich mit Schlingenknüpfung.

Daß er wirklich einsam war, erwies alles, was er tat und sann. Seine Seele strömte giftige Dämpfe aus.

Er öffnete ein Schubfach seines Schreibtischs, holte die Briefe der unbekannten F. hervor, die er sich einst in Christiansruh angeeignet, durchlas sie, griff zu Papier und Feder und begann, sie abzuschreiben. Er kopierte sie wortgetreu vom ersten bis zum letzten; an Stelle des Namens Christian setzte er Punkte, so oft er vorkam; es waren dreiundzwanzig Briefe, und als er fertig war, dämmerte der Morgen. Nun schlief er ein paar Stunden, und nachdem er sich erhoben hatte, schrieb er an Johanna: »Eine Scharade: wer ist F. und wer der Dieb und Räuber, der sich mit einem solchen Schatz an Überschwang und Hingabe aus dem Staub gemacht hat? Vielleicht ist es nur ein Gedichtetes von mir, Abfall meiner kranken Einbildung? Raten Sie einmal. Will hier ein Phantasiebild Ersatz bieten für die kraftlose Wirklichkeit, oder ist das unerhört Seltene doch Ereignis gewesen? Nach meinem Dafürhalten lassen Farbe und Ton, ein gewisses unsagbares Etwas, auf das letztere schließen. Wo wäre der Mann, der solchen Schmerz und solchen Jubel erfinden könnte? Wer wäre kühn genug, die Schamlosigkeit der Sinne mit einer vegetabilischen Unschuld zu verquicken? Ihm gegenüber wären eure bestauntesten Poeten nur Flickschneider. Ich habe nie was übrig gehabt für die Dichter. Sie verfälschen den Augenschein und sind letzten Endes doch Rationalisten, unter deren Händen die Träume platt und durchsichtig werden. Es gibt eine Wahrheit des Wortes, die penetrant ist wie blühend Fleisch. Hier ist sie. Anzubetendes Wunder; Neid aller Darbenden. Leben ist es, und da es Leben ist, wo sind die Lebendigen, die es erzeugt haben? Eine ist verloren, sie hat sich wahrscheinlich in ihrer eigenen Glut verbrannt, die wunderbare Schreiberin; noch ihr Schatten trägt das Stigma des Untergangs. Aber der ekstatische Griffel zeichnet das Gesicht dessen, an den sie sich gewandt; ich kenne ihn, wir kennen ihn. Er steht am Armesünderpförtchen und bietet eine Schuldenzahlung an, zu deren Empfang sich niemand melden will. So zu lieben, wie jene geliebt hat, ist Gottesdienst; so geliebt werden und es nicht würdigen, es vergessen, es zu Makulatur und zu Staub einer Bibliothek werden lassen, ist Sünde, nicht auszutilgen. Wenn einer, den der Herr verwöhnte, die Engelsspeise aus seinem Munde speit, bleiben für die Stiefkinder des Schicksals nur aasige Brocken. Aber man weiß doch: es ist ein Unbedingtes, nicht ganz aussichtslos ist der Schrei in der Not des Blutes. Kommen Sie bald. Ich habe viel zu sagen und zu fragen. Ich war vermauert gestern. Das Glück Ihrer Gegenwart machte mich stumpfsinnig. Ich warte auf Sie. Ich werde jeden Tag um fünf Uhr zu Hause sein und drei Stunden lang auf Sie warten. Das zwingt Sie, muß Sie zwingen. Wann wollen Sie Wahnschaffe sehen? Ich werde es ihm ausrichten und ihn bestellen.«

Die nämliche Bestürzung wie vor Monaten, als ihr Voß an Christians Statt geschrieben, befiel Johanna auch diesmal. Sie glaubte zuerst an Mystifikation. Als sie die Briefe las, wurde sie von ihrer Echtheit überzeugt und ergriffen. Vossens Andeutungen ließen ihr über die Herkunft keinen Zweifel Er hatte sich also abermals eines fremden Geheimnisses bemächtigt, um es auszubeuten; die Beweggründe? unerklärlich. Ihn um keinen Preis mehr sehen! sagte sie sich. Sie fror beim Gedanken an ihn. Der krankhaft erhitzte Haß gegen Christian, der in all seinen Kundgebungen lag, machte sie wieder schwankend. Es gab Augenblicke, wo ihr die Vorstellung schmeichelte, sie könne Christian vor einer drohenden Gefahr beschützen. Aber stärker und stärker lockte dieser Mensch selbst. Da war ein Wille. Unheimlicher Kitzel, einen Willen über sich zu spüren, wohin konnte einen das treiben!

O Rumpelstilzchen, sprach sie zu sich, als sie gegen Entschluß und Instinkt das Haus in der Ansbacher Straße wieder betrat, mir scheint, du rennst in dein Verderben. Aber immerhin, verdirb nur; dann ist wenigstens etwas geschehen.

Sie brachte ihm die Briefe zurück. Sie fragte kalt, was er mit ihnen beabsichtigt habe. Seine Antwort, das habe er ihr ja geschrieben, überhörte sie. Platz zu nehmen, weigerte sie sich. Voß bemühte sich um ein Thema. Er ging wie eine Schildwache vor ihr auf und ab. Sie machte im stillen ihre kaustischen Glossen über ihn, bemerkte Nachlässigkeiten seines Anzugs, fand die Art lächerlich, wie er sich mit einem kleinen Schwung umdrehte oder wie er sich plötzlich die Hände rieb. Alles erschien ihr albern und komisch an ihm; ein Schulmeister, war ihr spöttisches Urteil, ein Schulmeister, der ein bißchen übergeschnappt ist.

Er sagte, er habe sich entschlossen, nach Zehlendorf zu ziehen; er habe da draußen ein ruhiges Giebelzimmer in einer Villa gefunden. Es verlange ihn nach Baum und Feld, wenigstens nach dem Geruch davon. Man fahre morgens zu den Vorlesungen, am Nachmittag zurück, und lasse es sich auf die Dauer nicht ganz so durchführen, so habe man doch das Bewußtsein eines Asyls außerhalb dieses steinernen Pandämoniums, das nach mißbrauchtem Geist und nach Tinte schmecke. In vierzehn Tagen werde er übersiedeln.

»Um so besser,« entschlüpfte es Johanna

»Wie meinen Sie das, um so besser?« fragte er mit einem Katzenblick. Dann lachte er; es klang wie Scherbenklirren. »Ach so,« sagte er und blieb stehen; »denken Sie denn wirklich, daß die Entfernung etwas ändert? Sie werden kommen, ich versichere Ihnen, Sie werden kommen, und nicht bloß, wenn ich nach Ihnen rufe; aus eignem Antrieb werden Sie kommen. Klammern Sie sich also nicht an eine trügerische Hoffnung, mein Fräulein.«

Johanna schwieg verdutzt. Diese Unverschämtheit brachte sie aus der Fassung. Voß lachte wieder und nahm von dem Eindruck seiner Worte keine Notiz. Er fing an, von seinem Studienweg zu sprechen. Er habe jetzt zwei Semester hinter sich und sei so weit wie andre mit sechs. Die Professoren hätten ihm ein famoses Prognostikon gestellt. Was an der Medizin erlernbar sei, müßte man überhaupt als Kinderspiel bezeichnen; ein normal geratener Kopf könne es bei einigem Fleiß in anderthalb Jahren bewältigen. Hernach freilich scheide sich die Straße; da heiße es: hie Handwerker, Dilettanten, Professionisten, Scharlatane, hie Hirne, Geister, Pioniere, Illustrissimi. Anfangs habe ihn die Chirurgie interessiert, aber der Reiz habe sich verflüchtigt; es sei die reine Metzgerei. Er verschmähe es, all sein Sach auf Messer und Säge zu stellen und sich, wo das Abenteuer der Praxis beginne, dem Diktum irgendeines zünftigen Diagnostikers zu unterwerfen, so daß das ganze Problem darauf hinauslaufe, ob der Schlächter zum Henker werde oder nicht. Was ihn jedoch über die Maßen anziehe, das sei die höhere Psychiatrie. Da balle sich Mysterium auf Mysterium; unerforschte, ja unentdeckte Kontinente dehnten sich aus; Massenepidemien der Seelen; heute kaum betretenes Revier; Krankheiten der Geschlechter, der Völker von der Wurzel auf; eine wahre Gespensterjagd zwischen Himmel und Hölle; Nachweis von Zusammenhängen über die Jahrtausende hinweg wie auch von Individuum zu Individuum, die das ganze Gebäude der Wissenschaft ins Wanken bringen müßten.

Weiter kann man die Ruhmredigkeit unmöglich treiben, dachte Johanna angewidert. Seine Stimme, die beständig vom Diskant bis zum Baß lief und dann umbrach wie ein unflügger Vogel, der sich zwischen zwei Mauern stößt, tat ihr körperlich weh. Sie sagte etwas höflich Beipflichtendes und reichte ihm die Hand, auch das mit Unlust.

»Bleiben Sie!« herrschte er sie an.

Sie warf den Kopf zurück und schaute ihn erstaunt an.

»Bleiben Sie,« bat er nun. »Jedesmal gehen Sie so fort, daß man sich, wenn Sie draußen sind, vor Verzweiflung am Fensterkreuz aufhängen möchte.«

Johanna verfärbte sich, und auf ihrer niederen Stirn entstanden kindliche Falten. »So sagen Sie mir doch: was wollen Sie von mir?« flehte sie.

»Eine Frage von hervorragender . . . na, nennen wir es Treuherzigkeit, verehrtes Fräulein. Was ich will, liegt klar am Tage. Oder haben Sie sich über Mangel an Deutlichkeit zu beklagen? Bin ich ein so leisetreterischer Werber? Ich dachte eher, Sie machten mir mein Ungestüm zum Vorwurf. Das hätte Berechtigung. Ich kann aber nicht spielen. Ich verstehe mich nicht aufs Einfädeln. Ich zupfe nicht Margeritenblätter, die orakeln. Ich habe nicht gelernt, Wortfallen zu legen und Blickangeln zu werfen und Süßigkeiten zu schwatzen und auf den Busch zu klopfen. Könnt ichs, würde es mich vielleicht sicherer ans Ziel bringen. Aber ich habe keine Zeit dazu. Ich habe keine Zeit mehr, Fräulein Johanna; ich stehe auf dem katastrophalen Punkt, wo es heißt: entweder – oder.«

»Ihre Offenheit läßt nichts zu wünschen übrig,« erwiderte Johanna und blickte kühl und fest in die Gläser seiner Brille. So verharrte sie mehrere Sekunden, dann fragte sie gezwungen lächelnd, mit verhehlter Bangigkeit und verhehlter Neugier: »Und warum soll gerade ich Ihr Entweder – Oder entscheiden? Welche meiner Eigenschaften sind es denn, die Ihre Aufmerksamkeit auf mich gelenkt haben? Welcher Tugend oder welchem Laster hab ich die Ehre zu danken?« Sie schloß wartend die Augen bis auf einen dunklen Spalt, was ihren Zügen eine schmelzende Anmut verlieh. Gefährliche Koketterie, die sie trieb, am Abgrund; sie wußte es.

Aber für Amadeus Voß war sie, wie sie sich gab, und er starrte ihr berückt ins Gesicht. »Darf ich aufrichtig sein?« fragte er.

»Sie erschrecken mich. Gibt es noch eine Steigerung?«

»Es ist die Rasse, sehen Sie. Wohlgemerkt, dieselbe Rasse, die . . . na, ich drücke mich noch mild aus, wenn ich sage, daß ich die Juden immer gehaßt habe. Einen Juden nur riechen, das hieß bei mir: eine Ladung Sprengstoff in die Nerven. Da steht uraltes Verbrechen auf, zweitausendjährige Schuld. Der Gekreuzigte seufzt über Länder und Zeiten hinweg an mein Ohr; noch gegen die Edelsten eures Stammes wehrt sich mein Blut. Mag sein, daß ich das Werkzeug fortgeerbter Lüge bin; mag sein, daß man zum Pfaffen wird, wenn zum Priester die Liebe fehlt; daß Brüder aufwachen in Feinden, ohne daß mans merkt; daß Kain und Abel sich am Jüngsten Tag die Hände reichen. Aber es ist mir nun einmal in Hirn und Herz gebrannt, daß ich hassen muß, wenn meine Wurzeln in der Erde, dort, wo ich nicht hinreichen kann, durch das freche Wachsen fremder Sämlinge verkümmert werden. Und wenn einer, indem er sich als Hausgenoß und Nachbar aufdrängt, mich mit dem ganzen Vorbehalt der inneren Fremde anredet, soll ich das nicht spüren und ihm nicht mit gleicher Münze zahlen? So wars bis jetzt. Ich kannte keine jüdische Frau. Ich behaupte nicht, daß mein Gefühl sich im wesentlichen geändert hat. Wär es so, ich würde weniger leiden. O, Sie haben recht, mich wegen dieses Wortes zu verachten. Ich bin auf viel Verachtung von Ihnen gefaßt. Das alles gehört zu meinem Leiden. Als ich Sie das erstemal sah, mußte ich an die Tochter des Jephtha decken. Sie entsinnen sich vielleicht, sie wurde von ihrem Vater geopfert, weil sie zufällig die erste war, die ihn willkommen hieß, als er heimkehrte. Er hatte ein Gelöbnis abgelegt. Da kam seine Tochter ihm entgegen mit Pauken und mit Reigentanz, sagt die Schrift. Die erste, die einem das Willkommen bietet, zu opfern, darin liegt ein tiefer Gedanke. Sie muß sehr zierlich gewesen sein, die Tochter des Jephtha. Erfahren in allerlei Träumen. Waghalsig sogar, was Träume betrifft. Verwöhnt, zu keiner Tat mehr fähig, alle Begeisterung und alle Initiative in einer süßen, lüsternen Sehnsucht untergetaucht. Langer Reichtum, von Vorahnen aufgehäuft, hat sie entherzt. Sie liebt die Musik, liebt alles, was den Sinnen schmeichelt, zarte Seide, zartes Wort; auch aufregende Dinge liebt sie, nur verpflichten dürfen sie nicht, binden nicht; Grauen und Angst; ein kleiner Rausch; Sichversuchenlassen, das Schicksal herausfordern, dem Tiger im Zwinger die Hand durchs Gitter strecken. Phantasiespiele. Aber alles an ihr ist so fein, so im Übergang, unklar, ob zur Blüte, ob zum Moder; sie ist so empfindlich, so widerstandslos, so müde, sie weiß so viel, sie wünscht so viel, der eine Wunsch macht immer den andern kraftlos; Geschlechterinzucht hat ihr Blut zum Gerinnen gebracht, und wenn sie lacht, hat ihr Gesicht einen schmerzlichen Zug. Und eines Tages kehrt der Richter Jephtha heim und muß sie opfern. Ich stelle mir vor, daß er danach wahnsinnig geworden ist.«

Johannas Gesicht zeigte eine schreckliche Blässe. »Das war, scheint mir, eine Lektion in der höheren Psychiatrie,« sagte sie mit mühseligem Spott.

Voß schwieg.

»Nun, leben Sie wohl, gelehrter Mann.« Sie schritt zur Tür.

Voß folgte ihr. »Wann kommen Sie wieder?« fragte er leise.

Sie schüttelte den Kopf.

»Wann kommen Sie wieder?«

»Quälen Sie mich nicht.«

»Übermorgen wird Wahnschaffe hier sein. Werde Sie kommen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Johanna! Werden Sie kommen?« E stand mit aufgehobenen Händen vor ihr; Schläfen und Wangenmuskeln bebten.

»Ich weiß es nicht.« Sie ging.

Er aber wußte, daß sie kommen würde.

13

In einer Pause während der Generalprobe wandelten Lorm und Emanuel Herbst im Foyer auf und ab. Sie sprachen über Lorms Rolle. »Etwas weniger Zurückhaltung, mein Lieber,« näselte Emanuel Herbst; »bei der Entdeckung des Betrugs im zweiten Akt und der Szene mit dem Bruder hatte ich stärkere Akzente erwartet. Sonst ist nichts zu erinnern.«

»Gut, ich werde noch Kulissenschmalz auflegen,« sagte Lorm trocken.

Viele der geladenen Gäste ergingen sich gleichfalls in dem gebogenen Längsraum. Bewundernde Blicke folgten Lorm. Ein junges Mädchen näherte sich mit einer Entschlossenheit, in der noch Kampf mit dem Entschluß lag. Sie überreichte Lorm einen Nelkenstrauß. Stumm zog sie sich wieder zurück, erschreckt von der eignen Kühnheit.

»Schönen Dank!« rief ihr Lorm freundlich zu und steckte die Nase in die Blumen.

»Na, du glücklicher Prasser, wie schmecken die gebrochenen Herzen?« erkundigte sich Emanuel Herbst spottend; »zu jedem Frühstück eines, wie? Oder mehr? Da kommt einen alten Knaben wie mich die Wehmut an.«

»Es ist des Guten zuviel,« sagte Lorm; »die armen Dinger übernehmen sich. Schon des Morgens früh stehen welche an der Haustür und unterhandeln mit dem Pförtner; wenn der Chauffeur kommt, umflattern sie den. Manche wissen Bescheid, wie ich den Tag verbringe, und tauchen immer dort auf, wo man sie nicht vermuten sollte, zum Beispiel vorm Laden des Althändlers oder auf der Treppe beim Photographen. Von einer hat man mir erzählt, daß sie nächtelang vor dem Haus promeniert hat. Eine andre reiste mir auf meinen Gastspielreisen in jede Stadt nach. Dann die unseligen Briefe. Was da an Gefühl verschwendet, was da gebeichtet wird, in was für verwickelte Lebensverhältnisse man eingreifen soll; diese naiven Voraussetzungen! Man könnte sich den Teufel drum scheren, aber die Sache hat ja auch ihre sehr ernste Seite. Denn sieh mal, alle diese jungen Geschöpfe stecken Kapital in ein verlorenes Unternehmen, wenn ich mich so jobberhaft ausdrücken darf. Das muß sich rächen. Kluge Leute sagen, es ist gleichgültig, wofür die Jugend erglüht, wenn sie nur überhaupt erglüht. Stimmt aber nicht. Für einen Schauspieler soll eine anständige Jugend nicht erglühen. Versteh mich recht, ich will damit unsern Stand nicht verkleinern; er hat seine Meriten, ohne Frage; ich will mich auch selber nicht einen krummen Hund heißen. Ich bin, was ich bin. Ich weiß Bescheid. Jene wissen es nicht. Sie wollen, daß ich sei, was ich vorstelle, und das ist der Gipfel der Absurdität. Nein, eine anständige Jugend vergöttert nicht den Schauspieler, dieses Zerrbild des Helden.«

»Na, na, na,« machte Emanuel Herbst ironisch begütigend; »du bist zu streng, du siehst zu schwarz. Ich kenne ein paar immerhin recht erhebliche Personen, die dir einen Ehrenplatz unter den Sterblichen einräumen, von den Unsterblichen will ich mit Rücksicht auf deine üble Laune nicht reden. In deinen luziden Augenblicken bist du auch stolz darauf; was ich billige und in Ordnung finde. Wie verhält sich denn deine Frau zu solchen Hypochondrien? Wäscht sie dir nicht manchmal gehörig den Kopf?«

»Mich dünkt,« erwiderte Lorm mit unbewegtem Gesicht, »mich dünkt, Judith hat ihre Enttäuschung schon hinter sich. Sie würde sich in dem Prozeß nicht zu deinem Anwalt hergeben. Ich glaube, da sind meine Lehren und Überzeugungen auf fruchtbaren Boden gefallen.«

Emanuel Herbst wiegte den Kopf und schob bedenklich die Lippen vor. Lorms Ton erregte seine Besorgnis. »Was macht sie eigentlich?« forschte er; »ich habe sie lange nicht gesehen. Ich hörte, sie sei krank gewesen?«

»Was sie macht, ist schwer zu sagen,« versetzte Lorm. »Krank? Nein. Krank war sie nicht, obschon sie viel zu Bett war. Sie hat da so ein paar kleine Bürgersfrauen, die ihr den Hof machen, ihr all ihre Zeit widmen und die sie fabelhaft dressiert hat. Sie behauptet, ihre Schlankheit geht verloren, und so hat sie sich von einem Modedoktor eine Hungerkur verschreiben lassen, die sie gläubig befolgt. Im übrigen ist mein Haus in bestem Zustand; tiptop; warum nicht? Wird ja zweimal wöchentlich bis in die letzten Winkel gescheuert. Bißchen mühsam, das. Die Küche ist vorzüglich; im Keller hab ich wieder einen prachtvollen Tropfen: Grand Puy Lacoste. Mußt mal mithalten. Prima Ware.«

»Schön, mein Lieber, schön, werde mithalten,« sagte Emanuel Herbst. Die Sorge war mit jedem Worte Lorms drückender geworden. Er kannte diese Kälte an ihm, hinter welcher die scheueste Verletzlichkeit wohnte; diese prinzliche Glätte, unter der schmerzhafte Wunden lange bluteten, dies Zwiegeschlechtliche, Unbestimmte, das zwischen Seelenkrankheit und Askese war. Er hatte Angst vor Zerstörung, Angst vor dem Wurm in der edlen Frucht.

Der Spielleiter gab das Zeichen zum Wiederbeginn, und alsbald schmetterte von der Bühne die Stimme aus Stahl über gebannte Menschen.

14

Johanna kam.

Sie hatte mit Bedacht die Stunde weit hinausgeschoben, um nicht mit Voß auf Christian warten zu müssen, den sie heute endlich treffen sollte. Als sie Voß allein fand, stutzte sie verächtlich. Verstimmung machte ihr Gesicht alt und spitz.

Draußen war es naßkalt. Sie setzte sich an den Ofen und legte die Hände an die Kacheln; des Mantels entledigte sie sich nicht; es war ein Tuchmantel mit Pelzbesatz und großen Knöpfen, in dem sie kindlich mager und verkrochen aussah. Auch den Schleier schlug sie nicht auf, der von dem breitrandigen Hut straff ans Kinn gezogen war und die Farblosigkeit des Gesichts verstärkte.

»Sie haben mich belogen,« sagte sie hart; »es war ein Köder. Sie wußten im voraus, daß er nicht da sein würde.«

Voß antwortete: »Damit erklären Sie mir also rundweg, daß ich mich nur als Mittel zum Zweck zu betrachten habe. Was versprechen Sie sich eigentlich von einer Begegnung mit ihm? Wozu soll das dienen? Erinnerungen auffrischen? Eine Aussprache herbeiführen? Nein, ich weiß schon, Sie sind nicht für Aussprache; Sie wünschen sich eine spannende Situation, aber mit der Möglichkeit, sich im Notfall gleich wieder losschrauben zu können. Sehr schlau. Ich soll die Wand sein; ich soll die Gelegenheit geben. Sehr schlau. Warum gehen Sie denn nicht einfach zu ihm hin? Natürlich, ein solcher Schritt wäre zu verpflichtend; es könnte aussehen, als ob; man wüßte schließlich doch nicht, wie so etwas aufgefaßt würde. Ergötzliche Feigheit. Wo's genehm ist, lyrische Mimose, wo's anders genehm ist, Nackendruck auf einen Wehrlosen.«

»Das ist unerträglich,« rief Johanna und stand auf. »Glauben Sie, daß mich mein Hiersein nicht viel mehr kompromittiert, besonders in meinen eigenen Augen, als alles, was ich sonst tun könnte?«

»Beruhigen Sie sich,« sagte Voß erschrocken und faßte nach ihrem Arm. Sie wich zurück; in der Furcht vor seiner Berührung sank sie wieder auf den Stuhl. »Beruhigen Sie sich,« wiederholte Voß, »er hat mir fest zugesagt, zu kommen. Er hat eine Menge Geschäfte jetzt, hat mit allerlei Leuten zu schaffen und ist fortwährend unterwegs.«

Johanna vollzog an sich Gedankenfoltern. Darin besaß sie Fertigkeit und Erfahrung. Sie freute sich, wenn es ihr übel erging; sie freute sich, wenn ihre Hoffnungen fehlschlugen; sie freute sich, wenn sie beleidigt und mißkannt wurde. Sie freute sich, wenn der seidene Strumpf zerriß, in den sie des Morgens beim Aufstehen schlüpfte; wenn sie beim Schreiben einen Tintenklecks aufs Papier machte; wenn sie auf der Reise den Zug versäumte; wenn eine Sache, die sie für teures Geld gekauft hatte, sich als wertlos erwies. Es war eine hämische, eine gassenjungenhafte Freude, wie sie jemand empfindet, der das Fiasko eines gehaßten Nebenbuhlers mitansieht.

Deshalb lächelte sie auch jetzt vor sich hin. »Ich bin ein reizendes Wesen; nein?« sagte sie bizarr und blickte empor.

Voß war verblüfft.

»Erzählen Sie mir von ihm,« sagte sie, halb trotzig, halb resigniert und drückte wieder die Hände an die Kacheln.

Amadeus' Blick fiel auf ihre Hände, die blau vor Kälte waren. »Sie frieren,« murmelte er, »Sie frieren immer.«

»Ja, ich friere viel. Es fehlt mir Sonne.«

»Von Findelkindern heißt es, sie könnten sich nie recht erwärmen. Aber Sie sind doch keins. Im Gegenteil, ich stelle mir vor, daß Ihre Kindheit eine Brutstätte der Betreuung war. Gewiß hat man die Zimmer überheizt und nachts die Wärmflasche ins Bett getan und Sanatogen und Arsenik verschrieben. Doch Ihre Seele fror immer ärger, je mehr man ihr von der Materie aus beizukommen suchte. Dem Leibe nach sind Sie kein Findelkind, da liegt eine unanzweifelbare bürgerliche Deszendenz vor; nur Ihre Seele, die ist wahrscheinlich eine Findelseele. Solche gibt es. Es flattern sehnsüchtig Seelen im Weltraum, beständig zwischen Paradies und Hölle auf und ab, und die Frage ist, ob ihnen ein Engel oder ein Dämon ihr irdisches Asyl anweist. Die meisten geraten in den falschen Körper; aus lauter Ungeduld nach einer sterblichen Hülle fallen sie einem Dämon in die Klauen und bleiben ihm zeitlebens tributpflichtig. Das sind die Findelseelen.«

»Sie schwatzen Unsinn,« sagte Johanna; »erzählen Sie mir lieber von ihm.«

»Von ihm? Ich sagte ja schon: er ist vielseitig verstrickt. Das Weib, die Karen, ist krank; der wird schwerlich wieder aufzuhelfen sein. Vergeltung, Vergeltung. Lasterschuld wird eingefordert. Taumeln sollen sie und irre werden von dem Schwerte, das ich unter sie senden will, heißt es. Nun, er pflegt sie. Er wacht in den Nächten und pflegt sie. Eine andre wohnt im Hause, ein jüdisches Mädchen, mit der zieht er herum, besucht allerlei Leute, spielt den Vorstadtheiligen, bloß daß er nicht predigt. Predigen ist ja seine Sache nicht, er ist stumm, und das ist ein Segen. Noch nie war ich einer Frau so nah gesessen,« fuhr er im selben Tonfall fort, wie um zu verhindern, daß sie ihn unterbrach, »noch nie einer, bei der man fühlt: es ist gut, daß sie existiert. Man hat ein so verdammtes Bedürfnis nach Reinheit, so ein gräßliches Verlangen nach einem Menschenauge. Zu wissen: so schaut dich keine andre an wie die –, Herrgott, Herrgott! Daß einmal der Fluch deiner Verlassenheit zunichte wird – Mensch! Mensch! Was ists denn gar so viel? Was will man denn? Nur nicht in der Wut hinsiechen und am Durst krepieren. Einmal den Kopf in einen Weiberschoß graben und nichts mehr spüren als die geliebte Nacht, und wenn oben Schweigen ist, ein paar Hände im Haar und ein Wort, einen Hauch, und erlöst sein – Herrgott!« Seine Stimme war leise geworden, zuletzt verlor sie sich in ein Geflüster.

»Nicht . . . nicht . . . nicht,« flehte Johanna, fast ebenso leise; »erzählen Sie weiter von ihm,« bat sie hastig; »er lebt also wirklich in vollkommener Armut? Man spricht so viel darüber. Vorige Woche war ich irgendwo eingeladen, und es war von nichts anderm die Rede. Frech und dumm, wie sie ja alle sind, diese seit vergangenem Montag Arrivierten, übertrafen sie sich in schlechten Witzen oder bedauerten die Familie oder sprachen gar von Betrug. Mir ekelte. Eines frag ich Sie: warum habe ich von Ihnen noch kein herzliches Wort über ihn gehört? Warum nichts als Geifer und Entstellung? Sie müssen ihn kennen. Es ist unmöglich, daß Sie die Meinung von ihm haben, mit der Sie sich vor mir, und jedenfalls auch vor andern, wichtig zu machen belieben. An Freundschaft zwischen uns beiden ist ja nicht im entferntesten zu denken, wenn Sie in diesem Punkt nicht wahrhaftig gegen mich sind. Also?«

Voß schwieg lange. Erst wischte er mit dem Taschentuch seine feuchte Stirn ab, dann stützte er, weit vorgebeugt sitzend, das Kinn auf die verschränkten Hände und starrte hinter den abgeblendeten Brillengläsern lauschend in die Höhe. »Freundschaft,« murmelte er sarkastisch, »Freundschaft. Das nenn ich Wasser in den Wein schütten, eh er gekeltert ist.« Nach einer Weile fing er wieder an: »Ich bin nicht zum Richter über ihn bestellt. Im Beginn unsres Verkehrs wurde mir die Erlaubnis erteilt, ihn auf dem Piedestal zu bestaunen. Der Lump kniete im Dreck und verdrehte die Augen zum Halbgott. Ich schürte dann mein Feuerchen an, und es gab einigen Qualm. Wollt ichs abstreiten, daß er mir in die innerste Natur gegriffen hat, ich wär ein Lügner. Er ist bisweilen meiner schlechten und gemeinen Instinkte in einer Weise Herr geworden, daß ich mich, war ich dann allein, einfach hinwerfen mußte und flennen. Aber um ihn häufte sich Liebe und um mich Haß. Wo er ging und stand, sproßte Liebe, und wo immer ich mit Fingern hinrührte, wuchs Haß. Um ihn Licht und Schönheit und erschlossene Herzen, um mich Schwärze und Niedrigkeit und verrammelte Wege. Er von allen Genien behütet, ich mit Satan im Kampf und in meiner Finsternis zu Gott schreiend, der mich verwarf. Ja, verwarf, ausstieß und brandmarkte; und immer mehr, immer erbarmungsloser, je größer die Zerknirschung wurde, je bußfertiger ich mich an den Pranger stellte, je heißer ich meine Wurzeln aus der Erde grub. Da geschah es denn, daß er mich als den Bruder erkannte. Es war eine unvergeßliche Nacht, und unvergeßliche Worte haben wir getauscht. Aber um ihn blieb die Liebe, um mich der Haß. Er nahm meine Flamme und trug sie zu Menschen, und um ihn war Liebe, um mich Haß. Er machte sich zum Bettler und beschenkte mich mit Hunderttausenden; um ihn war Liebe, um mich Haß. Halten Sie mich für so borniert, daß ich nicht ermessen kann, was er getan hat und wie schwer es wiegt? Schleicht doch das Bewußtsein davon in meinen Schlaf und macht ihn so fürchterlich, so wundoffen, daß ich wie in brennendem Unkraut liege, ächzend, ohne Himmel und Aufklang. Wer könnte denn so ein geschlagener Selbstverräter sein und die Wahrheit nicht sehen und hören wollen, wenn sie lodert und braust? Aber der Bruder, mein Fräulein, der Bruder! Als er noch schwelgte, war es leicht. Nun geht er hin und leistet Verzicht und lebt in Entbehrung und Gestank und pflegt eine luetische Dirne und läßt sich zum Abschaum herab, und was ist die Folge? Liebe häuft sich wie ein Berg. Das muß man erfahren haben, das muß man gesehen haben, wenn er in einen Raum tritt und sich die Blicke an ihn hängen und ihn zärtlich betasten und jeder sich schöner und besser glaubt, nur weil er da ist. Ist das Zauberei? Mich zermalmt der Berg von Liebe in meiner Klamm.«

Er trocknete sich abermals die Stirn. Johanna, ihr dämmerten erst jetzt Erkenntnisse über ihn, sah ihn aufmerksam an.

»Die die Bestimmung haben, tun bloß den letzten Schritt,« fuhr Amadeus Voß fort; »unsereins bleibt beim vorletzten stehen, und das ist unser Fegefeuer. Vielleicht hätte Judas Ischariot dasselbe vermocht wie der Meister, aber der Meister war ihm zuvorgekommen; das machte ihn zum Verbrecher. Er war allein; des Rätsels Lösung ist, daß er allein war. Vorhin las ich in einem Buch, ehe Sie kamen: die Hochzeit des heiligen Franziskus mit der Frau Armut. Kennen Sie es? Weh dem, der allein ist, heißt es dort; wenn er fällt, hat er nicht den, der ihm hülfe aufzustehen.«

Das Buch lag auf dem Tisch. Er nahm es und sagte: »Der heilige Franziskus ist aus der Stadt gegangen und trifft zwei arme Greise; die fragt er, ob sie ihm sagen könnten, wo die Frau Armut wohnt. Ich will Ihnen vorlesen, was die beiden Greise antworten.«

Er las: »Wir sind hier seit langer Zeit, und oft haben wir sie dieses Weges ziehen sehen. Manchmal war sie geleitet von vielen, und oftmals kehrte sie zurück, allein, ohne jegliches Geleite, nackt, ohne jeglichen Schmuck noch Kleid, nur von einem Wölkchen umgeben. Und sie weinte sehr bitterlich und sagte: Die Söhne meiner Mutter haben gekämpft wider mich. Und wir sagten: Hab Geduld, denn die gut sind, lieben dich. Und nun sagen wir dir: Steig auf den großen Berg, den der Herr ihr zur Wohnstätte gegeben hat in den heiligen Bergen, denn Gott liebt ihn mehr als alle Wohnstätten Jakobs. Die Riesen konnten nicht nahen seinen Pfaden, und die Adler konnten seinen Gipfel nicht erfliegen. Willst du zu ihr gehen, so zieh aus die prächtigen Kleider, und leg zur Erde jede Schwere und Gelegenheit zur Sünde; denn bist du nicht von diesen Dingen bloß, so wirst du nicht aufsteigen zu ihr, die in solcher Höhe weilt. Aber da sie gütig ist, sehen sie die mühelos, die sie lieben, und die sie suchen, finden sie mühelos. Bruder, gedenke ihrer, denn diejenigen, die sich ihr hingeben, sind sicher. Nimm treue Gesellen, auf daß, wenn du auf den Berg steigst, du dich mit ihnen beraten könnest und sie deine Helfer seien. Denn wehe dem, der allein ist. Wenn er fällt, hat er nicht den, der ihm hülfe aufzustehen.«

Seine Art zu lesen peinigte Johanna. Es war ein Fanatismus darin, vor welchem ihr nur auf Halbtöne gestimmtes Gemüt zurückschreckte.

»Weh dem, der allein ist,« sagte Voß. Er kniete vor Johanna nieder. Er zitterte an allen Gliedern. »Johanna,« stieß er hervor, »Ihre Hand, bloß Ihre Hand; Mitleid! Ihre Hand!«

Fast willenlos, mehr bestürzt als gehorsam, reichte sie ihm die Hand, auf die er mit furchtbarer Leidenschaftlichkeit seine Lippen drückte. Was er tat, erschien ihr im Zusammenhang mit dem Bisherigen blasphemisch und verzweifelt, aber sie wagte nicht, ihm die Hand zu entziehen.

Wachen Ohrs hörte sie ein Geräusch. »Es kommt jemand,« hauchte sie. Voß stand auf. Es klopfte. Christian trat ein.

Er begrüßte die beiden freundlich. Seine Ruhe stach beinahe tönend von Amadeus' Verstörtheit ab. Es gelang Voß nicht, sich zu sammeln. Während Christian sich an den Tisch setzte, wo von der Lampe der volle Schein auf sein Gesicht fiel, und bald Johanna, bald Amadeus anschaute, ging dieser erregt im Zimmer auf und ab und sagte: »Wir haben vom heiligen Franziskus gesprochen, Fräulein Johanna und ich.«

Christian wunderte sich ablehnend.

»Ich weiß von ihm nichts,« sagte er; »ich erinnere mich nur, in Paris, bei Eva Sorel, habe ich Verse lesen hören, die von ihm handelten. Alle waren damals entzückt, aber ich mochte das Gedicht nicht. Aus welchem Grund, erinnere ich mich nicht mehr, ich weiß nur, daß Eva darüber zornig war.« Er lächelte. »Warum habt ihr denn von Sankt Franziskus gesprochen?«

»Wir haben von seiner Armut gesprochen,« antwortete Voß, »von seiner Hochzeit mit der Frau Armut, wie es in der Legende heißt. Wir sind übereingekommen, so etwas dürfe nicht in die Wirklichkeit umgesetzt werden, sonst würde Lüge und Mißverständnis daraus . . .«

»Wir sind in nichts übereingekommen,« unterbrach ihn Johanna trocken; »ich bin keine Stütze für Meinungen.«

»Gleichviel,« fuhr Voß etwas gedrückt fort, »es ist eine Vision, eine Leidvision von religiös Ergriffenen. Nur auf dem Boden des Christentums läßt sich diese Armut denken, die heilige Armut. Wer sich des unterfängt und in einer verbildeten Welt, in verbildeten Zuständen, wo Armut mit Schmutz, Verworfenheit und Deklassierung identisch ist, den übermächtigen Lebensstrom nach rückwärts lenken will, der stiftet nur Unheil und fordert die Menschheit heraus.«

»Das mag schon stimmen,« sagte Christian, »aber man muß tun, was man für richtig findet.«

»Bequem, sich immer hinter das Persönliche zu verschanzen, wenn vom Allgemeinen die Rede ist,« grollte Voß.

Johanna erhob sich, um sich zu verabschieden, und Christian schickte sich an, mit ihr zu gehen, denn ihretwegen war er gekommen. Voß sagte, er wolle sie bis zum Nollendorfplatz begleiten; dort trennte er sich auch von ihnen.

»Für uns ist es schwer, zu reden,« sagte Christian; »ich glaube, ich habe dir viel abzubitten, Johanna.«

»Bah,« machte Johanna, »was liegt an mir. Es ist schon verwunden. Wenn ich mir trauen darf, ist es sogar verschmerzt.«

»Und wie lebst du?«

»Schlecht und recht.«

»Du hast doch nichts dagegen, daß ich beim Du bleibe? Oder stört es dich? Willst du nicht einmal zu mir kommen? Abends bin ich gewöhnlich zu Hause. Wir sitzen dann beisammen und plaudern.«

»Gut, ich werde kommen,« sagte Johanna, die ihre Befangenheit bei dem freien und einfachen Ton Christians schwinden fühlte.

So lange sie an seiner Seite ging und er seine einfachen Fragen an sie richtete und einfache Dinge sagte, war das Geschehene selbstverständlich und das Gegenwärtige geordnet. Aber als sie wieder allein war, mißfiel sie sich wie vorher; das nächste Ziel war so vernunftlos wie das fernste, und Welt und Dasein atmeten Traurigkeit aus.

Zwei Tage nachher ging sie in Christians Wohnung. Die Frau des Nachtaufsehers Gisevius ließ sie ins Zimmer eintreten. Frierend und von dem Raum beklommen, in dem sie ihn nicht denken konnte, wartete sie über eine Stunde vergeblich auf ihn. Sie hörte das Haus. Es kroch und raunte um sie herum. Es war wie eine schmutzige Schachtel voll Insekten. Sie schrieb ein paar Worte auf einen Zettel und ging wieder. Frau Gisevius riet ihr, sie solle doch oben bei Karen Engelschall nachsehen oder bei Hofmanns. Dazu konnte sie sich nicht entschließen. »Ich komme wieder,« sagte sie.

Als sie auf die Straße trat, erblickte sie Amadeus Voß. Er begrüßte sie stumm, machte ein Gesicht, wie wenn es zwischen ihnen verabredet wäre, daß sie sich hier treffen würden, und ging an ihrer Seite weiter.

»Ich liebe Sie, Johanna,« sagte er.

Sie antwortete nicht, blickte geradeaus, ging rascher, dann langsamer, dann rascher.

»Ich liebe Sie, Johanna,« sagte Amadeus Voß. Seine Zähne schlugen aufeinander.


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