Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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Inquisition

1

Edgar Lorm war daran gewöhnt, ohne Judith zu essen; so fand er es auch heute nicht auffallend, daß sie noch nicht heimgekommen war, und setzte sich allein zu Tisch.

Es wurde aufgetragen: ein Hummer, Kalbsbrust mit Salat und dreierlei Gemüsen, Fasan mit Kompott, ein gefüllter Pfannkuchen, Käse und Ananas. Hierzu trank er zwei Gläser roten Bordeaux und eine Flasche Sekt.

Täglich verzehrte er diese überreiche Mahlzeit mit dem Appetit eines Riesen und dem philosophischen Entzücken des Feinschmeckers.

Als er zum Mokka die schwere Havannazigarre anzündete, hörte er Judiths Stimme. Gleich darauf stürzte sie verstört herein.

»Was ist geschehen, Kind?« fragte er.

»Fürchterlich,« stieß sie hervor und sank auf einen Stuhl.

Lorm erhob sich. »Was ist geschehen, Kind?«

Sie keuchte: »Seit ein paar Tagen fühle ich mich nicht wohl. Der Arzt hat mich untersucht und für schwanger erklärt.«

In Lorms Augen leuchtete es auf. »Ich kann nicht finden, daß es ein solches Unglück wäre,« sagte er, bemüht, seine freudige Überraschung zu verbergen; »im Gegenteil, mir erschiene es als ein Segen. Ich hätte es kaum zu hoffen gewagt. Wahrhaftig, Frau, ich wüßte nicht, was ich dafür zu tun imstande wäre!«

Mit funkelnden Blicken antwortete Judith: »Es wird nie und nimmer sein, nie und nimmer! Unsre Abmachung will ich dir nicht ins Gedächtnis rufen; ich will dir auch nicht die Schuld zuschieben, wenn das Schreckliche bereits eingetreten ist; ich kann es ja noch nicht glauben; ich käme mir wie verhext vor; aber wenn du auf Nachgiebigkeit von meiner Seite rechnest, oder auf weibliche Schwäche, auf das Erwachen gewisser sogenannter Instinkte, so täuschst du dich; es wird nie und nimmer sein. Mein Körper bleibt, was er ist; mein Körper bleibt mir. Ich habe keine Lust, ihn zerstücken zu lassen. Er ist das einzige, was ich noch besitze. Ich will ihn nicht teilen. Ich will nicht, daß ein fremdes Tier aus ihm kriecht. Ich will nicht in neun Monaten um neun Jahre älter werden. Ich will nicht mich oder dich affenhaft wiederholt sehen. Es wird nie und nimmer sein. Mir graust davor. Gib acht, daß mir nicht auch vor dir graust, wenn dir gerade das eine Wonne ist, was ich verabscheue.«

Lorm reckte sich ein wenig, sah sie erstaunt an und schwieg.

Sie ging in ihr Schlafzimmer und sperrte sich ein. Lorm erteilte Weisung, daß man niemand vorlasse, begab sich in die Bibliothek und las bis gegen acht Uhr in einer Schrift über die Bewegungen der Fixsterne. Oft hob sich der Blick aus dem Buch, nicht beschäftigt mit den astralen Geheimnissen, sondern mit sehr irdischen und vielleicht sehr traurigen Dingen. Er stand auf, um an die Tür von Judiths Zimmer zu gehen. Er lauschte und pochte. Judith antwortete nicht. Er kehrte um, aber nach einer halben Stunde kam er wieder, pochte wieder. Sie kannte seine bescheidene Art, um Einlaß zu bitten. Sie antwortete nicht. Die Tür blieb versperrt.

Immer nach Verlauf einer halben Stunde, während welcher er über die Bewegungen der Fixsterne las, kam er wieder und pochte. Er rief ihren Namen. Er sagte, sie möge Vertrauen zu ihm haben und ihn anhören. Um nicht die Aufmerksamkeit der Dienstleute zu erregen, redete er mit gedämpfter Stimme. Er sagte, sie möge ihm seine voreilige Freude nicht verübeln; er sehe seinen Irrtum ein und beklage ihn, nur solle sie ihn hören. Er versprach ihr Geschenke: einen antiken Leuchter, ein Service aus der Königlichen Manufaktur, ein Kleid von Worth; umsonst. Sie antwortete nicht.

Drei Tage verflossen. Eine drückende Stimmung lag auf dem Hauswesen. Lorm schlich durch die Räume wie ein schüchterner Gast. Er demütigte sich so weit, daß er der Hausdame, die allein Zutritt bei seiner Frau hatte und ihr die Speisen brachte, einen Brief für Judith in die Hand drückte. Sie kehrte achselzuckend zurück. Und des Nachts: wieder und wieder rief er sie an, näherte seinen Mund dem Holz der Tür und flehte; keine zornige Regung war in ihm, keine Versuchung, die Faust zu ballen und die Tür zu sprengen. Judith wußte dies. Sie schlug den Fisch.

Sie wußte, was sie wagen durfte. Und sie schlug den Fisch.

Dieser Mann, das Ziel der Bewunderung eines ganzen Volkes, verwöhnt durch Ruhm, durch die Freundschaft der Besten, durch Schicksalsgunst und alle Annehmlichkeiten des Daseins, mit gefürchteter Laune, einem Zucken seiner Brauen selbst über Widerwillige herrschend, er ertrug es nicht bloß, von einer Frau mißhandelt zu werden, die er nach langer Einsamkeit und langem Zaudern zu seiner Lebensgefährtin erwählt hatte, er nahm die Erniedrigung und Beleidigung wie eine Schuldenlast auf sich; ja, er schien danach zu verlangen, müde von Ruhm, Anerkennung, Freundschaft, Gelingen und Herrschen, Ausgleich und Kasteiung suchend, Wollust des Schmerzes und der Umkehrung.

Am dritten Abend wurde er, ziemlich spät noch, von Wolfgang Wahnschaffe telephonisch angerufen. Das Zerwürfnis zwischen Judith und Wolfgang, das seit seinem ersten Besuch bestand, erlaubte Wolfgang nicht, das Haus der Schwester zu betreten.

Er ersuchte Lorm um eine Unterredung an einem neutralen Ort. Der Anlaß, sagte er, sei zwingend. Lorm wollte Genaueres wissen; die in erregtem und bitterem Ton gegebene Antwort war, es handle sich um Christian, es handle sich um gemeinsames Vorgehen, um Beschlußfassung, um Verständigung, um Schutzmaßregeln; Gefahr sei von der Familie abzuwenden, haarsträubender Affront sei geschehen.

Hier unterbrach Lorm: »Ich vermute, daß meine Frau in den Angelegenheiten ihres Bruders Christian unzugänglich ist; und ich? Was sollte ich dabei tun? Ich bin durchaus Fremdling.« Auf erneutes Drängen versprach er, sich zur Mittagsstunde des andern Tages in einem Restaurant an der Potsdamer Straße einzufinden.

Kaum hatte er das Höhrrohr niedergelegt, so trat Judith ein, in dunkelgrünem Sammetschlafrock mit Pelzbesatz und langer Schleppe, sorgfältig frisiert, ein heiteres Lächeln auf den Lippen, Lorm beide Hände entgegenstreckend.

Er nahm beide Hände und küßte beide, beglückt.

Sie schlang ihm die Arme um den Hals und sagte, den Mund an seinem Ohr: »Es ist alles wieder gut. Der Doktor ist ein Esel; ich habe dir unrecht getan. Es ist alles wieder gut, sei du auch wieder gut.«

»Wenn du nur gut bist,« erwiderte Lorm, »das übrige ist nicht von Belang.«

Sie schmiegte sich dichter an ihn und schmeichelte mit Augen, Mund und Hand: »Und was ists mit dem antiken Leuchter? Bekomme ich den? Und das Kleid von Worth? Wirst du mirs kaufen? Und das Porzellanservice, bekomme ich es?«

Lorm lachte. »Dafür, daß du mir unrecht getan hast, wie du zugibst, ist der Versöhnungspreis ein wenig hoch,« spottete er, »aber sorge dich nicht, du sollst alles haben.«

Er hauchte einen Kuß auf ihre Stirn; in dieser unsinnlichen Zärtlichkeit lag endgültiges Erlahmen gegen sie, gegen die Menschen, gegen die Welt. Es wurde immer stärker, von Tag zu Tag merklicher und hatte Züge einer Krankheit des Herzens.

2

Ein Bericht, gleichlautend in allen Zeitungen, hatte die erste Kunde von dem Mord gegeben:

Gestern um die sechste Abendstunde entdeckten ein Werkführer und ein Arbeiter der Brennerschen Fabrik in einem Schuppen an der Bornholmer Straße eine Mädchenleiche ohne Kopf. Der mit Stricken verschnürte und unnatürlich zusammengebogene Körper war zwischen Balken, Brettern, Leitern, Karren und Gerümpel dermaßen eingezwängt, daß die sofort herbeigerufenen behördlichen Funktionäre Mühe hatten, den grausigen Fund ins Freie zu befördern. Die Nachricht hatte sich unterdessen in den angrenzenden Straßen verbreitet, und ein mit wachsender Bestimmtheit auftretendes Gerücht bezeichnete die in der Stolpischen Straße wohnende sechzehnjährige Ruth Hofmann als die Ermordete. Sie war seit einigen Tagen abgängig und bei der Polizei als vermißt gemeldet worden. Die Vermutung, daß sie dem mit beispielloser Bestialität ausgeführten Verbrechen zum Opfer gefallen ist, wurde wenige Stunden später zur Gewißheit erhoben, denn ein Maurerweib fand in der Mörtelgrube einer Baustelle der Bellermannstraße einen abgeschnittenen Kopf, der, wie sich ergab, zu der Leiche gehörte und von verschiedenen Bewohnern des Hauses Stolpische Straße als der Kopf der Ruth Hofmann agnosziert wurde. Der Körper war nur noch mit Halbstiefeln und Strümpfen bekleidet, sonst vollständig nackt, und wies Verstümmlungen auf, die mit Sicherheit auf einen Lustmord schließen lassen. Von dem Täter fehlt vorläufig jede Spur, aber die Nachforschungen werden mit Umsicht und Energie betrieben, und es ist lebhaft zu wünschen, daß der entmenschte Unhold alsbald der Gerechtigkeit überantwortet werde.

3

Nun schlief er, in der Kammer hinten, seit vierzehn Stunden. Die Witwe Engelschall beschloß, hinüberzugehen.

Sie schritt durch einen halbfinstern Gang, in welchem Vorräte aufgestapelt waren. Von der Decke hingen Schinkenkeulen und geräucherte Würste; auf der Erde standen Fässer mit Sardinen, Heringen und Gurken; auf Regalen Gläser mit eingemachten Früchten. Es roch wie in einem Kramladen.

Sie blieb stehen, fischte eine kleine Gurke aus einem offenen Fäßchen und schlang sie hinunter, ohne zu kauen.

Im Vordertrakt läutete es. Eine verschlampte Person, mit dem Besen in der Hand, wurde am Ende des Ganges sichtbar und rief der Witwe Engelschall zu, die Isolde Schirmacher aus der Stolpischen Straße sei da und habe was auszurichten. »Soll warten,« brummte die Witwe Engelschall. Sie trat leise in die Kammer, in der Niels Heinrich schlief.

Er lag auf einer Matratze, mit einem blaugemusterten Flanelltuch über sich. Die behaarte Brust war nackt, unten sahen die nackten Füße hervor. Die Kammer war nicht so geräumig, daß ein Schrank darin hätte Platz finden können. Wäschehaufen türmten sich in den Ecken, übelduftend. Handwerkszeug war auf dem Boden verstreut, ein Hobel, ein Hammer, eine Säge; alte Zeitungen lagen herum; an Nägeln hingen schmutzige Gewänder, Schlipse, ein paar Mäntel. Die Mauern zeigten Blutspritzer, die von getöteten Wanzen herrührten. Auf dem Tisch stand ein Leuchter mit einer herabgebrannten Kerze, eine leere Bierflasche und eine halbleere Schnapsflasche.

Er lag auf dem Rücken. Die Muskeln im Gesicht waren verbogen, zerspannt. Zwischen den rötlichen Brauen vibrierten drei tiefgegrabene Falten. Die Haut war käsig. Auf der Stirn und am Hals glänzten feuchte Schweißflecken. Die Lider sahen wie schwarze Löcher aus. Das schmale rote Bärtchen am Kinn bewegte sich mit dem Atem; es war etwas Lebendiges für sich, ein haariges Insekt, das aufpaßt.

Er schnarchte laut; eine Speichelblase stieg bisweilen aus den ekel voneinander weichenden Lippen, hinter denen die kariösen Zähne starrten

Die Witwe Engelschall wagte nicht zu unternehmen, was ihr draußen als leicht ausführbar geschienen hatte. Schon gestern abend war sie so dagestanden, aber als er im Schlaf angefangen hatte, zu murmeln, war sie erschrocken hinausgerannt.

Es wollte ihr nicht aus dem Kopf, wo er die zweitausend Mark hingebracht, die er im Baubureau beiseite geschafft hatte. Seiner Behauptung, daß er alles an die Kassiererin vom Metropolkino gehängt, mißtraute sie. Um den Schaden zum Teil zu ersetzen und die Anzeige zu verhüten, hatte sie ihre sämtliche Leinenwäsche, zwei Kommoden und die Einrichtung des Sprechzimmers ins Leihhaus transportieren und eine Lebensversicherungspolice verpfänden müssen. Der Brief an den Geheimrat Wahnschaffe war nicht einmal beantwortet worden.

Sie glaubte es nicht, daß er all das schöne Geld für ein lausiges Weibsbild verquast hatte. Sicherlich hatte er noch etwelche blaue Lappen auf die hohe Kante gelegt. Der Gedanke ließ ihr keine Ruhe. Ihn den Argwohn merken zu lassen, war gefährlich; aber in die Kammer schleichen, den klotzhaften Schlaf benutzen und die Kleider durchwühlen, die Hand unters Kopfkissen schieben, das konnte man riskieren.

Doch blieb sie unbeweglich stehen. In seiner Nähe war sie auf Unerwartetes vorbereitet. Man zitterte inwendig, sobald er den Mund auftat. Es wurde einem schon kalt, wenn Leute kamen, um von ihm zu erzählen. So war es stets gewesen; man mußte sich nur erinnern.

Als der Lehrer im Dorf den Zehnjährigen erwischt, wie er mit einer achtjährigen Göre Schweinereien getrieben, hatte er geunkt: der wird am Galgen enden. Als er, Lehrling noch, bei einem Streit wegen des Lohns seinem Brotherrn die Faust unter die Nase gehalten, hatte jener geäußert: der wird am Galgen enden. Als er der Pastorin in Friesoyte das silberne Kettchen aus dem Sekretär stibitzt und die Witwe Engelschall das entwendete Gut zurückgebracht, hatte es geheißen: der wird am Galgen enden.

Man mußte sich nur erinnern. Seine erste Geliebte, die dicke Lola aus der Köpenicker Straße, hatte er zuschanden geprügelt, weil sie bei der Quadrille in Halensee einem Postgehilfen zugewinkt; als sie sich wimmernd auf der Erde gewunden und in ihrer Verzweiflung geschrien hatte: »Solchen Teufel gibts auf der weiten Welt nicht mehr,« hatte die Witwe Engelschall dem Wüterich ins Gewissen geredet und zu ihm gesagt: »Mensch, werde doch 'n bißchen gemütlich.« Aber er wurde nicht gemütlich. Gleich bei seiner zweiten Flamme passierte es, als sie in Umständen war, daß er sie zwang, sich von einem schlechten Weib behandeln zu lassen, mit dem er in gewissen Beziehungen stand, und daß das Mädchen daran starb. Nachher höhnte er noch über die Dummheit der Frauenzimmer, die keine Sache anständig besorgen könnten, das Kinderkriegen nicht und das Kinderabmurksen nicht. Glücklicherweise hatte niemand als die Witwe Engelschall die Worte gehört, und wieder hatte sie ihn beschworen: »Mensch, so werde doch 'n bißchen gemütlich.«

Im Grund bewunderte die Witwe Engelschall diese Eigenschaften. Mit dem war nicht gut Kirschen essen; der stellte seinen Mann; der führte sie alle an der Nase herum. Wenn er nur nicht immer eine so kindische Wut gegen unschuldiges Material bezeigt hätte; was das bloß kostete! Wollte das Feuer nicht brennen, riß er die Ofentür aus den Angeln; ging die Uhr mal falsch, schmiß er sie auf den Boden, daß sie zerschellte; war das Fleisch nicht gar gekocht, hieb er mit dem Messer in der Faust den Teller in Stücke; saß der Schlips beim Maschenknüpfen nicht aufs erste, riß er ihn in Fetzen und das Vorhemd oft dazu. Dann meckerte er wieder, und man mußte ein Gesicht machen, als freue es einen. Schlimm wurde es erst, wenn er merkte, daß es einen verdroß; da schonte er nichts; was ihm unter die Finger geriet, wurde hin.

Wovon er nur in normalen Zeiten lebte, wenn ihm kein außergewöhnlicher Fang gelungen war; ein Rätsel. Beständig in Saus und Braus, beständig die Taschen voll Zaster und die Spendierhose an. Er arbeitete ja, manchmal vier Tage in der Woche, manchmal fünf; sein Handwerk hatte er inne, sie nahmen ihn überall gern, und er brachte in einem Tag fertig, was andre in dreien nicht schafften. Aber meistens machte er vom Montag bis zum Sonnabend blau und trieb sich an gottverbotenen Orten herum, mit Lumpen und Menschern.

Vieles wußte die Witwe Engelschall von ihm; vieles wußte sie aber nicht. Seine Wege waren heimlich. Befragte man ihn und er gab Bescheid, so war man um nichts klüger. Er braute immer was, er plante immer was. All dies nötigte der Witwe Engelschall tiefen Respekt ab. Es war Blut von ihrem Blut und Geist von ihrem Geist. Die Sorge freilich war groß. In letzter Zeit weissagten die Karten mit Beharrlichkeit Übles.

Da zauderte sie nun voller Furcht. Der fahle gelbe Schädel auf dem zerdrückten Kissen von grobem Barchent wirkte lähmend. Die kugelige Fleischmasse ihres Halses schlotterte, als sie sich endlich bückte und nach Rock und Weste griff, die unter einem Stuhl lagen. Sie kehrte sich ein wenig ab, um ihre Hantierung zu verbergen; plötzlich fühlte sie sich an der Schulter gepackt und stieß einen Schrei aus.

Niels Heinrich hatte sich lautlos erhoben. Im Hemd stand er da, bohrte den gelblodernden Blick in ihr Gesicht. »Alte Kanallje, was treibst du?« fragte er mit ruhigem Ingrimm. Sie ließ die Kleidungsstücke fallen und wich bebend zurück. »Hinaus!« rief er und streckte den Arm gegen die Tür.

Er sah schreckenerregend aus. Das Wort erstarb der Witwe Engelschall auf der Zunge. Mit wankenden Knien entfernte sie sich.

Im Vorplatz wartete Isolde Schirmacher noch. Sie fing an zu weinen, als sie sich ihres Auftrags entledigte, die Witwe Engelschall möge sofort in die Stolpische Straße kommen. Karen gehe es schlecht, sie liege im Sterben.

Die Witwe Engelschall zeigte sich ungläubig. »Im Sterben? Nanu, so geschwind stirbt man nicht. Schönen Gruß, und ich komme. In ner Stunde bin ich dort.«

4

Ein weiterer Bericht in den Zeitungen lautete:

Das Dunkel, welches über dem an der jugendlichen Ruth Hofmann verübten Mord schwebte, beginnt sich zu erhellen. Das Publikum wird die Kunde mit Genugtuung begrüßen, daß die Anstrengungen der Polizei zur Verhaftung des mutmaßlichen Mörders geführt haben. Es ist dies der zwanzigjährige Joachim Heinzen, wohnhaft Czernikauer Straße, ein übelbeleumundetes und dem Anschein nach geistig nicht ganz zurechnungsfähiges Individuum. Schon vor der Entdeckung der Untat hatte er durch sein Benehmen die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt; in den letzten Tagen haben sich die Verdachtsgründe derart verdichtet, daß man zu seiner Festnahme schreiten konnte. Als ihm der Polizeibeamte das Verbrechen auf den Kopf zusagte, brach er zusammen, gebärdete sich aber dann so renitent, daß man Mühe hatte, seiner Herr zu werden. In Gewahrsam verbracht, legte er ein umfassendes Geständnis ab, doch als er das Protokoll unterzeichnen sollte, nahm er alles wieder zurück und leugnete mit Verbissenheit. In seinem Wesen wechselt vertierter Stumpfsinn mit Zerknirschung und Angst. Ein Zweifel darüber, daß man es mit dem Schuldigen wirklich zu tun hat, kann wohl kaum bestehen. Das erste Verhör vor dem mit dem Kriminalfall betrauten Untersuchungsrichter wird im Laufe des heutigen Tages stattfinden. Die Bewohner des Hauses Stolpische Straße sind sämtlich vernommen worden, darunter eine Persönlichkeit, deren Existenz dortselbst ein interessantes Streiflicht auf eine vielbesprochene Affäre wirft, die eine der angesehensten Familien unsrer Großindustrie betrifft.

5

Die Andeutung in dem letzten Satz der Zeitungsmeldung wirbelte Staub auf. Der rücksichtsvoll verschwiegene Name kam in der Leute Mund, man wußte nicht recht wie. Das Gerede gelangte zu Wolfgang Wahnschaffe. Kollegen fragten ihn befremdet, was sein Bruder mit dem Mord an dem Judenmädchen zu schaffen habe. Sogar sein Kanzleichef im Auswärtigen Amt stellte ihn und hatte dabei eine Miene, die ihn vor Scham erbleichen machte.

Er schrieb an den Vater. »Ich komme mir vor wie ein friedlicher Spaziergänger, der den hinterlistigen Anfällen eines Wahnsinnigen ausgesetzt ist. Du weißt sehr wohl, lieber Vater, daß bei der Laufbahn, die ich eingeschlagen habe, makelloser Ruf Bedingung ist; wenn dieser Ruf jederzeit von einem entgleisten und seine Herkunft verleugnenden Menschen, der unglücklicherweise den Namen der Familie trägt, befleckt, dieser Name dem öffentlichen Unwillen preisgegeben werden kann, so ist meiner Ansicht nach kein Mittel zu schroff, mit dem man sich dagegen schützt. Wir hatten Geduld; ich war viel zu lange das bescheidene Flämmchen neben dem strahlenden, und wie sich jetzt erweist, trügerischen Feuerwerk Christian; wo mein Lebensglück auf dem Spiel steht, meine und meines Hauses Ehre sogar, wäre es unverzeihliche Schwäche von mir, wollte ich allem, was da geschieht und in Zukunft noch zu befürchten ist, mit verschränkten Armen zusehen. Das ist auch die Meinung meiner Freunde und jedes vernünftig Denkenden. Ein energischer Schritt ist notwendig, sonst kann ich mich auf dem Platz, den ich mir erobert habe, nicht behaupten, von den Unannehmlichkeiten, die uns außerdem noch bevorstehen, ganz zu schweigen. Bis ich deinen Bescheid erhalte, werde ich versuchen, mich mit Judith in Verbindung zu setzen und mich mit ihr zu beraten; obgleich sie in der schnödesten Form den Verkehr mit mir abgebrochen hat, ich kenne heute noch nicht den Grund, wird sie sich der Dringlichkeit der Sachlage beugen.«

Der Geheimrat empfing den Brief nach einer Verhandlung mit einer Deputation streikender Arbeiter. Es dauerte eine Weile, ehe die Bestürzung, die er automatisch in ihm erregte, völlig in sein Bewußtsein trat. Unter andern Umständen hätte ihn der unkindliche, ja unverschämte Ton erzürnt; jetzt ging er darüber hinweg. Mit hastiger Hand schrieb er eine chiffrierte Depesche an Girke & Graurock.

Der Antwortbrief, mit Eilpost gesandt, erreichte ihn am nächsten Abend in seinem Würzburger Haus. Willibald Girke schrieb:

»Hochzuverehrender Herr Geheimrat! Trotzdem unsre Firma seit geraumer Zeit des Vergnügens beraubt war, in direktem Auftrag, wie vordem, für Ew. Hochwohlgeboren zu wirken, waren wir doch in der Zuversicht erneuerter Beziehung weitblickend genug, unsre Nachforschungen fortzusetzen und uns über alle Ihren Herrn Sohn angehenden Ereignisse eventuell auf eigne Kosten und Gefahr auf dem laufenden zu halten. Dank dieser geschäftlichen Großzügigkeit, die bei uns Maxime ist, sind wir in der glücklichen Lage, Ihre telegraphische Erkundigung mit der Präzision und Schnelligkeit zu erledigen, die der Moment erheischt.

Um sofort zum Kern unsres Rapports zu gelangen, der Ermordung des jüdischen Mädchens, so können wir Ew. Hochwohlgeboren insofern beruhigen, als ein andrer Zusammenhang mit der Greueltat nicht besteht, als durch die lebhafte und in der ganzen Nachbarschaft vielbemerkte Freundschaft, die Ihren Herrn Sohn mit der Ermordeten verknüpft hatte. Es handelt sich lediglich um die Zeugenaussage, die ja später auch vor Gericht wird wiederholt werden müssen; das Peinliche daran ist leider unabwendbar. Wer Pech angreift, besudelt sich; sein Umgang mit niederem Volk mußte ihn in böse Geschichten, vielleicht in mancherlei Mitwissenschaft bringen. Nachgewiesen und zugestanden ist ein Besuch in der Wohnung des verhafteten Mörders Heinzen. Er war damals in Begleitung der Ruth Hofmann, und es soll sich bei dieser Gelegenheit ein skandalöser Auftritt abgespielt haben, in den der Bruder der Karen, Niels Heinrich, verwickelt war. Niels Heinrich Engelschall war ein Busenfreund des Joachim Heinzen; das Gericht hat ein scharfes Auge auf ihn, er ist bereits vernommen worden, und seine Aussage soll sehr belastend für den Mörder gewesen sein. Die Beziehung zu diesem Engelschall, obwohl nur locker und unverschuldet, ist es, die man Ihrem Herrn Sohn zum Vorwurf machen kann, und was sich daraus noch für Widrigkeiten ergeben mögen, ist vorläufig nicht abzusehen. Er hat von dem Menschen Arges zu gewärtigen.

Die Ruth Hofmann sah man fast täglich in Gesellschaft Ihres Herrn Sohnes. Die Hofmannsche Wohnung befand sich auf demselben Gang wie die der Karen Engelschall, wodurch die Häufigkeit des Beisammenseins erleichtert wurde. Es sitzt bereits eine neue Partei in dem Trakt, ein gewisser Stübbe mit Frau und drei kleinen Kindern, ein entsetzlich verwahrloster Trunkenbold, der jeden Abend Lärm macht und die Seinen dermaßen mißhandelt, daß Ihr Herr Sohn einige Male Gelegenheit nahm, dagegen einzuschreiten. Wir berühren dies nur, weil es deutlich zeigt, wie rasch in solchen Wand an Wand stoßenden Quartieren sowohl Kameradschaften wie Mißhelligkeiten entstehen. Der frühere Insasse, der Agent David Hofmann, war allerdings ein friedlicher Mieter. Er muß in schlimmen Bedrängnissen gewesen sein, da er wenige Tage vor dem Mord nach Amerika gereist ist. Trotzdem ihm sogleich Telegramme nachgeschickt wurden, hat er bis jetzt kein Lebenszeichen von sich gegeben, und man vermutet, daß er aus irgendeinem Grund unter falschem Namen gefahren ist, denn die Passagierlisten der Schiffe, die in den letzten zwei Wochen ausgelaufen sind, enthalten seinen Namen nicht. Vielleicht ist er auch nach einem holländischen oder englischen Hafen gereist; die Behörde sucht dies zu ermitteln. Der Knabe, der Bruder der Ruth, war ebenfalls sechs Tage hindurch spurlos verschwunden; er tauchte erst an dem Abend, an welchem der Mord entdeckt wurde, wieder auf, und zwar in der Stube Ihres Herrn Sohnes, unten bei Gisevius. Dort ist er bis zur Stunde geblieben, und zwar in einer ungewöhnlichen Verfassung; durch kein Drängen, weder durch Bitte noch Befehl, war ihm die geringste Andeutung darüber zu entlocken, wo er die kritische Zeit vom Sonntag bis zum Donnerstag zugebracht hat. Je länger er schweigt, je rätselhafter wird sein Schweigen und je mehr ist man bestrebt, es zu brechen, da man glaubt, es hänge mit dem Mord zusammen und verberge wichtige Spuren. Es fällt auf, daß Ihr Herr Sohn die Versuche, ihn zu vernehmen, nicht nur nicht unterstützt, sondern sie auch hintertreibt, wo er kann. Da er die meiste Zeit des Tages aus seiner Wohnung im Quergebäude abwesend ist, hatte ein gewisses Fräulein Schöntag die Aufsicht bei dem Knaben übernommen; die Überwachung scheint sich neuerdings nicht als unerläßlich zu erweisen, da man ihn jetzt stundenlang allein läßt und, wenn das besagte Fräulein nicht zugegen ist, nur die Frau des Gisevius hin und wieder Nachschau hält, ob er sich nicht aus dem Staub gemacht hat. Immerhin patrouilliert ein behördliches Organ ständig und unauffällig vor dem Haus. Die Erwägung liegt nahe, daß sich Ihr Herr Sohn durch die Obsorge für den offenbar krankhaft veranlagten Knaben eine neue Last aufgebürdet hat, an welcher er, betrachtet man seine übrigen Verpflichtungen und daneben die geringen pekuniären Mittel, schwer zu tragen haben wird. Es sei uns diese Anmerkung verstattet; der Begriff vom eigentlichen Wesen und wohin es zielt, fehlt uns ja nach wie vor und allen, die damit zu schaffen haben.

Wir sind am Schluß. Indem wir uns in der angenehmen Hoffnung wiegen, daß unsre Ausführlichkeit und Sachtreue den Wünschen und Erwartungen von Ew. Hochwohlgeboren entspricht, bitten wir um weitere Verhaltungsmaßregeln und empfehlen uns für jeden Fall Ihrer geneigten Berücksichtigung. In tiefster Ergebenheit Girke & Graurock, gez. W. Girke.«

Der Geheimrat ging durch die Zimmer des alten Hauses. Lautlos folgte ihm die Hündin Freia.

Um das Niederbeugende nicht denken zu müssen, rief er sich das Gesicht des Arbeiters in die Erscheinung zurück, des Sprechers der Deputation, mit der er gestern verhandelt hatte. Mit Genauigkeit wurden ihm die brutalen Züge gegenwärtig, das vorspringende Kinn, die dünnen Lippen, der aufgebürstete schwarze Schnurrbart, der kalte, scharfe Blick, der entschlossene Ausdruck. Es war nicht mehr das Gesicht des einen, zufällig beauftragten, so oder so heißenden Menschen, sondern es war eine Welt, die er darin erkannte, eine heimlich und gesetzmäßig entstandene furchtbare Welt voll Drohung, Kälte und Entschlossenheit.

Die Energie und Überlegung, die er im Gespräch mit dem Abgesandten bewiesen, erschien ihm sonderbar zwecklos, denn keine Kraft eines einzelnen konnte genügen, im Kampf wider diese Welt zu bestehen.

Um nicht denken zu müssen, nicht an den Brief des Privatdetektivbureaus Girke & Graurock, nicht an diese schaurigen Ermittlungen, die trüblastenden Ausschnitte eines unheimlichen fernen Lebens, des Lebens seines Sohnes, den er geliebt hatte, den er liebte, an die unzähligen niedrigen, häßlichen, schaurigen Begebenheiten, die als gespensterhaftes Panorama vor seinem Geist vorüberwirbelten, an die Stuben, die Höfe, die Häuser voll ächzender, elender Leiber, um daran nicht denken zu müssen, blätterte er in einem Buch, wühlte er in einer Lade mit Briefen, ging er von Raum zu Raum, unermüdlich, gefolgt von der Hündin Freia.

Auf der Flucht von den gefürchteten Bildern tauchte wieder das Revier seiner Arbeit auf, wo die Lebenshoffnungen wurzelten und gereift waren, das Triebwerk der Existenz in Schwung gesetzt wurde. Er sah die Maschinensäle verödet, die Öfen erloschen, die Dampfhämmer stillstehen und aus allen Fenstern, allen Türen Tausende von gebieterisch fordernden Armen ihm entgegengestreckt, ihm, dem Gebieter. Da war ihm zumute wie vor dem Tag des Untergangs. Es war nicht das erstemal, daß ein Streik den gegliederten Organismus lähmte, aber zum erstenmal geschah es, daß das Gefühl davon ausging, als sei die Kraft versiegt und das Ende gekommen.

Da drängte sich die Frage auf seine Lippen: Warum hast du mir das angetan? Mit dieser Frage wandte er sich an Christian, wie wenn Christian schuldig wäre an den Forderungen derer, die einst willige Sklaven gewesen, an den leeren Sälen, den erloschenen Öfen, den schweigenden Hämmern; schuldig durch sein Dortsein in den Stuben, bei Dirnen und Mördern, Irren und Kranken, in den Nestern, wo das menschliche Ungeziefer haust. Zorn schauderte in ihm empor, eine der seltenen Anfälle, die ihn besinnungslos machten; seine Augen füllten sich mit Blut, er suchte ein Opfer, eine Ableitung; er gewahrte, daß die Hündin mit ihren Zähnen am Teppich nagte, griff nach einem Bambusrohr und schlug das Tier, daß es jämmerlich winselte, minutenlang, bis ihm vor Erschöpfung die Arme sanken.

Als er wieder ruhig geworden war, verspürte er Reue und Scham, aber ein Rest des Zornes wich nicht aus seinem Innersten, und er trug ihn mit sich herum wie einen Giftstoff. Das Nagen und Brennen hörte nicht auf, und er wußte, daß es nicht aufhören konnte, ehe er nicht mit Christian abgerechnet haben würde, ehe Christian ihm nicht Rede gestanden war, als Mensch dem Menschen, als Mann dem Mann, als Sohn dem Vater, als Schuldiger dem Richter.

Der Zorn fraß. Doch wo war ein Ausweg? Wie konnte man zu Christian gelangen? Wie ihn zur Rechenschaft ziehen? Jeder Schritt vergab etwas. Warten, immerfort warten? Wochen und Monate warten? Der stumme Zorn fraß das Leben.

6

Amadeus Voß, beunruhigt durch Johannas Ausbleiben, hatte auf Schleichwegen erfahren, daß sie das Haus ihrer Verwandten plötzlich verlassen hatte. Am Tag, nachdem sie zuletzt bei ihm in Zehlendorf gewesen, war sie heimgekehrt, still und bekümmert. Man war schon in Unruhe um sie; überall dachte man jetzt gleich an Mord und geheimnisvolles Verschwinden. Die Fragen, wo sie die Nacht zugebracht, hatte sie unbeantwortet gelassen und statt dessen einfach erklärt, sie bleibe überhaupt nicht mehr. Allem Bestürmen und Erkundigen hatte sie Schweigen entgegengesetzt, hatte in Eile ihre Sachen gepackt, dann war ein bestelltes Auto erschienen, und mit einigen förmlichen Dankesworten hatte sie Abschied genommen. Ihrer Cousine, die auf einem vertrauteren Fuß als die übrigen mit ihr stand, hatte sie gesagt, sie brauche eine Zeitlang Sammlung und Einsamkeit und ziehe darum in ein möbliertes Zimmer; man möge ihr aber nicht nachforschen, das habe keinen Zweck und werde sie nur noch weiter scheuchen, ja, sie hatte sogar mit Schlimmerem gedroht, falls man sie nicht in Frieden lasse. Trotzdem hatten die geängsteten Leute ihre Spur verfolgt, und es war ihnen mitgeteilt worden, daß sie sich in der Kommandantenstraße eingemietet hatte. Da es eine anständige Frau war, bei der sie Wohnung genommen, und sich auch sonst nichts Aufregendes mit ihr ereignete, achtete man ihren Willen und zerbrach sich nur über das Unbegreifliche den Kopf.

Das alles war Voß von einem bei der Familie bediensteten Mädchen verraten worden, der er dafür ein Fünfmarkstück schenkte. Mit verkrampftem Gesicht und entzündetem Herzen ging er heim, um zu überlegen, was er zu tun habe. Er fand einen Brief von Johanna vor. Sie schrieb: »Ich weiß nicht, wie es zwischen uns künftig sein wird. Ich kann momentan keine Entschlüsse fassen. Ich interessiere mich augenblicklich zu wenig für mich und mein Schicksal; ich habe einen triftigen Grund dafür. Suche mich nicht auf. Ich bin fast den ganzen Tag in der Stolpischen Straße, aber suche mich nicht auf, wenn dir noch etwas an mir liegt und wenn du wünschst, daß mir an dir noch etwas liegen soll. Ich will dich jetzt nicht sehen, ich mag dich jetzt nicht hören. Das Erlebnis war zu schrecklich, zu unerwartet. Du würdest mich verändert finden in einer Weise, die dir unliebsam wäre. Johanna.«

Bleich vor Wut fuhr er sofort nach Berlin zurück und bis zum Bahnhof Schönhauser Allee. Als er in der Stolpischen Straße ankam, war es neun Uhr abends. Frau Gisevius sagte ihm, das Fräulein sei vor einer halben Stunde weggegangen. Er warf einen Blick in Christians Stube und sah einen ihm unbekannten Knaben am Tisch sitzen. Er zog die Frau beiseite und fragte, wer das sei. Ob er denn von nichts wisse? war die erstaunte Gegenfrage der Frau; es sei der Bruder des ermordeten Mädchens. Wahnschaffe sei nicht wiederzuerkennen, seitdem diese Geschichte passiert sei; er gehe verloren herum, und wenn man ihn anrede, antworte er entweder gar nicht oder verkehrtes Zeug. Das Frühstück, das sie ihm am Morgen bringe, berühre er nicht. Oft stehe er eine halbe Stunde lang mit gesenktem Kopf auf einem Fleck, so daß man für seinen Verstand fürchten müsse; vor zwei Tagen sei sie ihm drüben in der Rhinower Straße begegnet, da habe er, am hellichten Tag und unter Menschen, laut vor sich hin geredet. Die Leute hätten gelacht. Gestern sei er ohne Hut fortgegangen, und ihre Jüngste habe ihm den Hut nachgetragen, aber er habe sie eine ganze Weile verständnislos angeblickt. Kurz darauf sei er mit einigen seiner Freunde zurückgekommen, und da habe sie ihn plötzlich schreien gehört und sei ins Zimmer gestürzt; da sei er vor den andern auf den Knien gelegen und habe erst wie ein kleines Kind geschluchzt, dann um sich geschlagen und habe gerufen, das könne nicht sein, das dürfe nicht sein, das ertrage er nicht, das sei ja alles nicht menschenmöglich. Das Fräulein Schöntag sei auch dabei gewesen, aber die hätte geschwiegen dazu, und alle hätten geschwiegen und ausgesehen wie die Schlottergestalten. Die Veranlassung zu dem Anfall sei gewesen, daß ihm einer von den jungen Leuten voreiligerweise gesagt, heute finde die gerichtliche Obduktion der Leiche statt. Da habe er gleich hingehen gewollt; sie hätten ihn mit Mühe halten können und hätten ihm in ihrer Not schließlich gesagt, es sei schon zu spät, es sei schon vorüber. Dann sei er die Nacht über im Zimmer auf und ab marschiert, während der Michael auf dem Ledersofa gelegen; sie hätten aber nicht ein Wort miteinander geredet; sie sei öfters auf den Flur geschlichen und habe gelauscht; nicht eine Silbe hätten sie miteinander geredet. Um fünf Uhr früh sei schon das Fräulein gekommen; um sieben Uhr der Lamprecht und noch ein Student; die hätten ihn überredet, er solle mit ihnen nach Treptow fahren; sie wollten den Tag mit ihm verbringen; er habe weder zugestimmt noch widersprochen; sie hätten ihn bloß so mitgeschleppt. Dann seien Bekannte von der Ruth Hofmann dagewesen, bis Mittag, eine Frau und ein junger Mensch; die kämen auch manchmal am Abend, nachdem das Fräulein gegangen, damit der Michael nicht allein sei. Was mit dem werden solle, das wisse niemand; mit dem habe sich noch nicht das mindeste verändert; seit er gekommen, habe er die Kleider noch nicht vom Leib getan, und hätte ihn das Fräulein nicht so geschickt rumgekriegt, er hätte sich nicht mal den Kot abbürsten und Gesicht und Hände waschen lassen. Zuweilen besuche ihn ein rothaariger Herr, auch einer von Wahnschaffes Freunden, sie höre, es sei ein Baron; der habe vorgestern ein Schachspiel mitgebracht, da ihm irgendwer gesagt, der Junge verstehe das Schach und habe oft mit seiner Schwester gespielt. Aber als er die Figuren aufgestellt, habe Michael nur so geschaudert und mit keinem Finger hingerührt. Das Brett mit den Figuren stehe noch auf dem Tisch, Herr Voß könne sich überzeugen.

Die Frau hätte noch lange fortgeschwatzt, aber Voß verabschiedete sich mit einem stummen Gruß. Er war nachdenklich geworden. Was er über Christian vernommen, hatte ihn nachdenklich gemacht. Unschlüssig, wohin er sich wenden solle, ging er gegen den Exerzierplatz zu. Er grübelte; er zweifelte. Sich Christian vorzustellen, wie ihn das Weib geschildert, weigerte sich seine Einbildungskraft. Es war das Widersinnige schlechthin, alle Erfahrung Höhnende. Schmerz, solcher Schmerz und Christian? Verzweiflung, solche Verzweiflung und Christian? Das trieb die Dinge aus ihrer Bahn. Dahinter lag ein Rätsel. Elemente verändern schließlich unter Anwendung höchstgesteigerter Mittel ihren Aggregatzustand, aber daß Marmor zu Lazerte wird, ist schwer zu denken, und daß ein Herz entsteht, wo keines war, gar nicht.

Wie zurückgezwungen kehrte er um und ging wieder in die Stolpische Straße. Da sah er Johanna dicht vor sich. Er rief sie an. Sie blieb stehen und nickte ihm zu, ohne Überraschung zu zeigen. Auf seine hastigen, halblauten Fragen schwieg sie. Ihr Gesicht war von transparenter Blässe. Im Torweg des Hauses besann sie sich, dann ging sie in den Hof, an das Fenster von Christians Stube; sie wollte hineinschauen, es war verhängt. Sie eilte in den Flur, läutete bei Gisevius, und nach einem kurzen Gespräch mit der Frau kam sie zurück. »Ich muß nach oben,« sagte sie, »ich muß sehen, wie es Karen geht.« Sie bedeutete Voß nicht, zu warten; um so entschlossener wartete er. Er hörte aus den Wohnungen Musik, Gelächter, Kindergeplärr, das Sticheln einer Nähmaschine; Leute gingen vorüber, treppauf, treppab; endlich kam Johanna zurück und schritt an seiner Seite auf die Straße. Sie sagte in ratlosem Ton: »Die Arme wird die Nacht kaum überleben, und Christian ist nicht da; was soll man tun?«

Er schwieg.

»Du mußt verstehen, was jetzt mit mir geschieht,« sagte Johanna leise und eindringlich.

»Ich verstehe nichts,« erwiderte Voß gedrückt, »nichts, außer daß ich leide, unsinnig leide.«

Johanna sagte hart: »Du kommst nicht in Betracht.«

Sie waren beim Humboldthain. Es war kalt, trotzdem setzte sich Johanna auf eine Bank. Sie schien ermüdet. Ihrem zarten Körper waren Anstrengungen wie Wunden. Scheu nahm Voß ihre Hand und forschte: »Was ist es denn?«

»Laß,« hauchte sie und entzog ihm ihre Hand. Sie schwieg lange. Endlich fing sie an: »Man hat ihn immer für unempfindlich gehalten. Einige haben sogar behauptet, das sei der Grund seines Erfolges bei allen, die mit ihm zu tun haben. Eine hübsche Theorie; ich für meinen Teil habe nie daran geglaubt. Da die meisten Theorien falsch sind, weshalb sollte die gerade richtig sein? Es wird so viel über Menschen geschwätzt. Es ist so mühsam; alles ist so mühsam. Jasagen ist mühsam, Neinsagen ist mühsam. Ich gebe zu, eine Gemütserbauung war seine Gesellschaft nicht. Man nahm sich instinktiv in acht vor ihm, wenn man von irgend etwas ergriffen war; man genierte sich dann. Und nun das. Du kannst es dir ja nicht vorstellen; und wie soll mans beschreiben? Die ganze Zeit, während er sich um Michael zu schaffen machte, an jenem ersten Abend, wußte er noch nichts. Um neun oder halb zehn ging er zu Karen hinauf und wollte nach einer Stunde wiederkommen. Er kam aber früher. Im Hof standen noch Leute; von denen erfuhr ers. Dann kam er in die Stube. Ganz leise. Er kam herein, und . . .« Sie zog ihr Taschentuch hervor, drückte es an die Augen und weinte still.

Voß ließ sie eine Weile weinen, dann fragte er gespannt: »Er kam herein und –? Und was?«

Die Augen bedeckt haltend, sprach Johanna weiter: »Man hatte das Gefühl: Schluß. Schluß mit dem Sichfreuen, Schluß mit Lächeln und mit Lachen; Schluß. Sein Gesicht war in einer Viertelstunde um zwanzig Jahre älter geworden. Ich habe es angeschaut, aber nur mit einem Blick, dann hatte ich keinen Mut mehr dazu. Du denkst vielleicht, ich phantasiere, wenn ich sage: der ganze Raum war Schmerz, die Luft war Schmerz, das Licht war Schmerz. Aber es ist die Wahrheit. Alles tat weh. Alles was man dachte und sah, tat weh. Dabei war er vollständig stumm, und seine Miene war ungefähr so, als strenge er sich an, eine undeutliche Schrift zu lesen. Das war das Schmerzlichste.«

Sie schwieg, und Voß störte ihr Schweigen nicht. Man müßte sich überzeugen, ob Marmor zu Lazerte werden kann, dachte er böse und eifersüchtig, müßte sehen, hören, prüfen. Er blieb willentlich verstockt. Die Erklärungen, die er sich zurechtlegte, waren von niedriger Beschaffenheit, aber um Johanna nicht zu reizen, heuchelte er Glauben. Und doch erschütterte ihn etwas an der Erzählung und machte ihn feig.

Johanna war des Halts bedürftig. Sie fror in ihrer neuen Freiheit; sie mißtraute ihrer Kraft, Freiheit zu ertragen; sie wunderte sich bang, daß niemand sie mit Gewalt ins Wohlige zurückschleppte, in das umhegte Leben, zu den Sorglosen und Gesicherten.

Es war ihr recht, daß Amadeus an ihrer Seite ging. Ach, man war inkonsequent, man war charakterlos, man hielt sich selbst nicht Wort, aber es war ein solches Grauen: allein sein. Trotzdem schien ihre Abschiedsgebärde unwidersprechlich, als sie vor dem Haus in der Kommandantenstraße anlangten, wo sie wohnte. Amadeus Voß, ihre Schwäche witternd, ihre Melancholie spürend, begleitete sie bis zur finsteren Stiege, und dort riß er sie an sich, mit einer Heftigkeit, als wolle er sie zerfleischen. Sie seufzte bloß.

Da erwachte der unwiderstehliche Wunsch in ihr, Mutter zu werden. Gleichviel durch wen, gleichviel, ob der Kuß Wonne oder Ekel einflößte; gleichviel; sie wünschte, Mutter zu werden. Nur etwas zeigen, etwas bilden, nicht so leer sein, so kalt sein, so allein sein; sich an etwas hängen, sich wertvoller dünken und für ein Wesen wichtig werden. Hatte dieser nicht, der sie wie ein Raubtier umkrallte, das Wort gesprochen von der Sehnsucht des Schattens nach seinem Körper? Sie glaubte es auf einmal zu verstehen.

Dunkel forschend, mit ihrem starken Blick, schaute sie ihn an, als sie wieder auf die Straße traten; schaute ihn an und ging mit ihm.

7

Karen lebte noch am Morgen. Der Tod hatte einen schweren Kampf mit ihr zu bestehen. In später Nacht hatte sie sich noch einmal verzweifelt aus seiner Umklammerung gerissen. Jetzt lag sie in keuchender Erschöpfung da.

Arme, Hände und Brust waren von eiternden Geschwüren bedeckt, die zum Teil aufgebrochen waren.

Drei Weiber huschten durch die Stube: Isolde Schirmacher, die Witwe Spindler und die Frau des Buchbinders vom hinteren Flur. Sie raunten, trugen dies und das herbei, warteten auf den Arzt, warteten auf das Ende.

Karen vernahm Tritte und Tuscheln mit Haß. Sie konnte nicht sprechen, kaum sich verständlich machen; hassen konnte sie noch. Sie vernahm Gekreisch und Gepolter aus der ehemals Hofmannschen, jetzt Stübbeschen Wohnung; das Aufstehen des Trunkenbolds in der Frühe war so unheilvoll für Weib und Kinder wie seine Heimkunft des Nachts. Der ganze Jammer, den er verbreitete, drang durch die Wand, und Karen wurde an ähnlich Greuelhaftes erinnert, aus verdämmerten Jahren.

Doch es gab nur noch eine einzige Beschwer und Qual: die, daß Christian nicht kam. Seit Tagen war er immer nur für kurze Zeit dagewesen, den letzten Tag und die letzte Nacht gar nicht. Dumpf wußte sie von dem Mord an der Jüdin; dumpf hatte sie gespürt, daß Christian ein andrer war seitdem; aber sie fühlte sich so schauerlich verlassen ohne ihn, daß sie genauer nicht hindenken wollte. Seine Abwesenheit war wie ein Feuer, an dem sie lebendigen Leibes verkohlte. Es schrie in ihr. Mitten im Röcheln der Agonie wieder mahnte sie sich zur Geduld, hob den Kopf und spähte, ließ ihn aufs Kissen fallen und würgte vor Gram die Zunge in den Gaumen.

Die Tür ging auf; sie erschrak. Es war der Doktor Voltolini; ihr Gesicht verzerrte sich.

Der Arzt konnte nicht mehr viel tun. Die Komplikation, die hinzugetreten war und die Lunge in Mitleidenschaft gezogen hatte, vernichtete jede Hoffnung. Für Erleichterungen sorgen, die Morphiumdosen vergrößern, andres blieb nicht übrig. Wozu auch ein solches Leben retten, mochte Doktor Voltolini denken, als er auf das schrecklich aussehende, mit dem Tod erbittert ringende Weib niedersah, ein so fertiges Leben, ein so überflüssiges und unreines?

Zum drittenmal traf er Christian nicht. Er empfand das Bedürfnis, mit ihm vertraulich zu sprechen. Er war ein verschlossener Mann; einen Fremden in sein Schicksal einzuweihen, war eine Versuchung, die er bisher nicht gekannt; Christian gegenüber und im Gedanken an ihn war sie so heftig, daß er darunter litt. Besonders seit einer an sich bedeutungslosen Szene, deren Zeuge er geworden war.

Isolde Schirmacher hatte von einem Gesellen ihres Vaters, an den sie sich gehängt, einen Ring mit einem Rubin bekommen. In ihrer Freude hatte sie Christian den Ring gezeigt; unter der Küchentür war es. Doktor Voltolini trat eben aus der Stube. Sie streifte den Ring vom Finger, ließ den Stein, der ohne Wert war, im Lichte funkeln und fragte, ob das nicht ein prachtvolles Geschenk sei. Da hatte Christian in seiner eigentümlichen Weise gelächelt und hatte gesagt: »Ja, es ist sehr schön.« Die Witwe Spindler, die in der Küche stand, hatte laut aufgelacht, aber im Gesicht des Mädchens malte sich solche Dankbarkeit, daß es dadurch einen Augenblick lang selber schön wurde.

Auf der Stiege begegnete der Doktor Voltolini der Witwe Engelschall. Sie hielt ihn an und fragte um seine Meinung über Karen. Achselzuckend antwortete er, es sei keine Hoffnung, es handle sich nur noch um Stunden.

Die Witwe Engelschall hegte schon lange Verdacht gegen Karen. Sooft sie in die Stube trat, wurde Karen unruhig, hielt den Blick nicht aus, zog das Deckbett bis ans Kinn. Die Witwe Engelschall wußte, was schlechtes Gewissen war. Sie witterte ein Geheimnis und nahm sich vor, es zu ergründen. Eile tat not; zögerte man, so war es vielleicht zu spät, und man hatte sich ewige Vorwürfe zu machen. Die Sache war ohne Zweifel die, daß ihr Wahnschaffe Geld gegeben hatte, das nach alter Gewohnheit an ihrem Leibe verborgen war, im Strumpf, im Hemd, oder auch eingenäht in der Matratze. Das viele Geld, das der Mensch gehabt, konnte nicht spurlos verschwunden sein; gewiß hatte er noch ein oder zwei Dutzend braune Lappen oder ein paar Obligationen beiseite gebracht, und wer anders sollte die haben als Karen? Reimte man die Umstände richtig zusammen, seine Tollheit und nun ihr Benehmen, so gewann das Ding ein Gesicht, und man mußte zusehen, daß kein Unfug geschah, denn war man nicht gerade dabei, um ihr die Augen zuzudrücken, so kamen dann allerhand Leute, der Schatz verschwand in Gott weiß welche Tasche, und vom Gesicht ablesen konnte mans keinem mehr. Auf dem Weg in die Stolpische Straße war der Witwe Engelschall alles dies erst völlig klar geworden.

Karen ahnte es.

Mit dem Fortschreiten der Krankheit war die Angst um die Perlen gestiegen. An ihrem Körper schienen sie ihr nicht sicher genug verwahrt; wenn sie das Bewußtsein verlor, und man hantierte an ihr herum, konnten sie entdeckt werden. Diese Furcht beeinflußte die Festigkeit des Schlafs; oft schreckte sie empor und starrte wild, mit unterdrücktem Aufschrei in der Kehle. Sie hatte sich angewöhnt, die Hände unter der Decke zu halten, und mechanisch wurde der Griff um die Perlenschnur krampfhafter, wenn die Sinne in Schlummer oder Ohnmacht versanken. Ein gräßlicher Alpdruck, den sie hatte, zeigte alle Möglichkeiten der Gefahr; es kamen Menschen; wer immer Lust hatte, spazierte in die Stube; sie konnte sich ihrer nicht erwehren; sie konnte nicht aufstehen und den Riegel vorschieben; am meisten war sie vor dem Doktor auf der Hut; sie zitterte vor seinem Auge, und von unter her saugte sie sich förmlich mit allen Poren an die Bettdecke, damit er sie nicht unversehens zurückschlagen konnte.

Die Perlen wanderten in ihrem Lager bald dahin, bald dorthin; bald unter das Kopfkissen, bald unter das Linnen; bald in den Überzug, den sie vorher aufknöpfte, bald an ihre nackte Brust, wo sie die eiternden Wunden berührten. Dessen innewerdend, rief sie sich dann mit grausam finsterem Schmerzenshohn zu: »Was bist du denn noch! Bist nur noch ein aussätziges Aas, du! Was bist du denn noch? Ein verhunztes Aas, vor dem dir selber ekelt.«

Allmählich war ihr an den Perlen der Begriff des Wertes gleichgültig geworden; auch als ihr Christian in einer schlaflosen Nacht nach unablässigem Fragen eine Vorstellung davon gegeben, die diejenige, die sie bisher gehabt, um ein Vielfaches übertraf. Es waren Zahlen; sie schauderte ein wenig, staunte zweifelnd, schüttelte den Kopf und fand sich endlich ab. Es waren Zahlen. Eine ganz andre Wirkung ging von dem Gehänge aus, und die wurde stärker in dem Maß, wie jene ihr Wunderbares einbüßte. Anfangs war es Vorhalt, Klage um ein Schicksal; die Perlen schimmerten von einem jenseitigen Ufer herüber als Sinnbild eines Lebens, von dem man nie auch nur einen Hauch genossen, von dem einem keine Kunde geworden war. Es entfachte nicht Neid und Zorn, wie es früher der Fall gewesen wäre, bloß Kummer über das, was verspielt und vertan war. Darum verspielt und vertan, weil man nichts gewußt hatte von der Schönheit, von der Lieblichkeit, von der Freude, vom Schmuck, ja, man konnte sagen, von der Erde und vom Himmel nichts gewußt. Von vorn beginnen konnte man das zuschanden gelebte Leben nicht; es gab kein andres, und mit diesem wars nun aus.

Dann, im Liegen und Sinnen und Vergehen im Fleische, war es so, daß die verlorene Erde und der verlorene Himmel einem neugeschenkt waren, in jeder einzelnen Perle drin und in der ganzen Kette drin. Die Kinder, die gestorbenen, in Haß empfangen, in Haß hingeschwunden, die armseligen kaum zu einem Teil je erfüllten Träume, das Bangen, irgend einmal, nach irgendeinem Menschen, die spärliche Liebe, das kärgliche Licht, die kleinen Hoffnungen, die wenige Lust, alles war in den Perlen drinnen. Es versammelte sich und wurde zu einer Seele. Alles Versäumte, Verspielte, Weggeworfene, Nieerreichte, durch Not und Leid Verfinsterte und Verscheuchte wurde zu einer Seele, und dieser Seele war sie unermeßlich hingegeben im Liegen und Sinnen und Vergehen im Fleische, denn es war Christians Seele. Im Perlengehänge war Christians Seele. Die faßte sie, die ließ sie nimmer los, die gehörte ihr, im Grabe noch.

Und ihre blauen Augen unter dem Haarhelm und der niedrigen Stirn hatten eine fetischistische Glut.

8

Die Witwe Engelschall war zunächst bestrebt, die Weiber aus der Stube zu entfernen. Es gelang nicht ohne grobe Deutlichkeit. »Na du mit deiner Himmelfahrtsneese, wirste bald raus machen?« fauchte sie die Schirmacher an. Isolde ging, aber es dünkte ihr, die Alte habe Böses vor.

An die Bettstatt tretend, sah die Witwe Engelschall, daß sie gerade noch Zeit hatte, den verlöschenden Lebensfunken zu nutzen. Und wenn es dafür zu spät war, entstand auch kein Schaden weiter, so war sie eben die erste, die an die Tote herankam. Bloß langes Besinnen gabs nicht.

Sie fing an zu sprechen; sie setzte sich auf den Stuhl, beugte sich nahe zu Karen und sagte mit erhobener Stimme, damit der Sterbenden kein Wort verlorengehe, sie habe Napoleonschnitten bringen gewollt, aber in der Konditorei habe es noch keine gegeben; zum Abend werde sie ein Huhn mit Reis kochen, oder ne steirische Poularde mit Apfelmus, das erfrische den Magen und mache eine schöne Verdauung. Ein Krankes brauche kräftige Kost, da dürfe man nicht den Pfennig besehen; überhaupt, sie sei ja nicht so; niemand könne ihr Schlimmes nachreden; für ihre Kinder habe sie immer das Herz auf dem rechten Flecke gehabt; sie habe sich redlich abrabatzen müssen, und auf Erkenntlichkeiten habe sie nie gerechnet; sie wisse ja, Undank sei der Welt Lohn, und in dem Punkte sei es beim eigenen Fleisch und Blut nicht besser bestellt als bei Krethi und Plethi.

Vom Tode eng umkreist, vernahm Karen nur den Ton der scheinheiligen Reue; sie bewegte die Arme. Sie spürte, daß die Mutter etwas wollte; eine letzte Überlegung sagte ihr, was sie wollte; ein letzter Instinkt warnte sie, sich zu verraten; sie zwang sich, stillzuliegen und zuckte nicht mit der Wimper. Doch die Witwe Engelschall wußte sich auf der richtigen Bahn. Sie habe nie nach Reichtümern gestrebt, fuhr sie fort, und wenn einmal Überfluß gewesen sei, habe sie andre daran teilnehmen lassen. Ins Grab könne man ja nichts mitnehmen, und halte mans wie Eisen, das helfe nicht, da sei es viel gescheiter und nobler, man gebe es gleich her, daß man noch was mitgenießen könne von dem Glück, das die Leute darüber empfänden, und man hören könne, wie sie einen lobten. Ob sie sich noch erinnere, wie die alte Kranichen gestorben sei, die geizige Vettel, wie man da siebenundachtzig Goldstücke im Strohsack gefunden habe, und was da, nebst aller Freude, für ein Geschimpfe über das dreckige Luder gewesen sei. Ob sich Karen erinnere? Kein Mensch habe ihr eine Träne nachgeweint; in die Hölle gewünscht habe man sie.

Dann streckte die Witwe Engelschall ihre Hände aus und befühlte anscheinend achtlos das Kopfkissen. Unter dem Kopfkissen lag die Perlenschnur. Sie war noch nicht bis zu der Stelle gelangt, wo sie lag; Karen jedoch glaubte, sie hätte sie bereits ergriffen, hastete mit ihren Händen hin und wehrte den Händen der Mutter. Mit röchelnder Brust richtete sie sich ein wenig auf, um sich höher über das Kissen zu werfen. Die Witwe Engelschall murmelte zwischen den Zähnen: »Nachtijall, ick hör dir loofen;« sie war nun ihrer Sache sicher, wühlte blitzschnell die Hand unters Kissen und zog ein Stück des Gehänges heraus. Sie gab einen dumpfen Schrei von sich; der Anblick übergoß ihr fettes Gesicht mit Schweiß und violetter Röte, denn sie hatte erkannt, was da an fabelhaftem Wert ihrer wartete. Ihre Augen quollen aus den Höhlen, aus dem Mund sickerte Speichel, wieder und wieder packte sie zu, Karen drückte mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers auf das Kissen, streckte die Arme drüber hinaus, krallte ihre Fingernägel in die Handgelenke der Räuberin, wimmerte in langgezogenen Lauten, aber in dem ungleichen Ringen mußte sie unterliegen, trotz der gespenstischen Kraft, die sie entwickelte; schon hatte die Witwe mit leisem Geheul die Perlenschnur aus dem Versteck gerissen und machte Miene, den Bereich der vor Wut um sich schlagenden, rasend aufstöhnenden, mit klappernden Zähnen unverständlich kreischenden Karen zu verlassen, da öffnete sich die Tür und Christian trat ein.

Die Frauenzimmer draußen hatten gemerkt, in Karens Stube geschehe Unheimliches; der Kampf zwischen Mutter und Tochter hatte nicht so lange gedauert, daß sie ihre Unschlüssigkeit und die Angst vor der Alten hatten überwinden können; sie empfingen Christian mit ängstlichen Gesichtern und deuteten gegen die Tür; sie wollten ihm in die Stube folgen, aber da er ihrer nicht achtete und die Tür hinter sich zuschlug, verharrten sie auf ihrem Platze und lauschten. Es blieb aber still drinnen.

Christian trat still an Karens Lager; er hatte begriffen, was vorging. Still nahm er der Witwe Engelschall die Perlenkette wieder ab. So erregt und von ihrer Gier entflammt sie auch war, wagte sie nicht eine Gebärde des Widerstands; sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, der ihren kochenden Grimm über seine Einmischung niederschlug. Es war ein sonderbarer Ausdruck: gebieterische Trauer, stolze Versunkenheit, ein Lächeln, das geistesabwesend war, ein grabender, fremder, abprallender Blick. Er legte die Kette auf Karens Brust, dann faßte er Karens beide Hände; sie schaute zu ihm empor, erleichtert, erlöst; ihr Leib warf sich unter Zuckungen, doch sie milderten sich, als er ihre Hände hielt; frierend, grauenvoll frierend drängte sie sich näher zu ihm, lallte, stammelte, bebte an allen Gliedern, hatte heiße Nässe in den Augen. Und er wich nicht zurück; er verspürte keinen Ekel vor dem riechenden Körper mit den aufgebrochenen Eiterschwären; er umfing sie mit dem grabenden Lächeln und gewährte ihr noch ein wenig Wärme an seiner Brust, als sei es gar kein Mensch, sondern ein kleiner Vogel, der ihm vom Sturm zugeweht worden. Zuletzt lag sie ruhig, ohne Laut und ohne Regung.

Und so starb sie in seinen Armen.


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