Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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7

Auf den roten Samtsofas des Restaurants lagen Tote und Verwundete. Man hatte sie in Eile hereingeschafft, Leute waren um sie bemüht. Durch offene Türen wehte eisige Luft, untermischt mit Schnee. Auf der Straße krachten noch vereinzelte Schüsse, Reiter galoppierten vorüber, eine Militärpatrouille tauchte auf und verschwand. Gäste standen in Gruppen an den Fenstern; ein deutscher Kellner sagte: »An der Newa hat man Kanonen auffahren lassen.« Ein Herr im Pelz trat hastig ein und rief, Kronstadt stehe in Flammen.

In einem der Säle, die den Veranstaltungen geschlossener Zirkel dienten, befand sich eine glänzende Gesellschaft, vom General Tutschkoff geladen, einem der Freunde des Großfürsten Cyrill. Es waren da: Lord und Lady Elmster, der Earl von Somerset, Graf und Gräfin Finkenrode, Herren von der deutschen und der österreichischen Botschaft, der Marquis du Caille, die Fürsten Tolstoi, Trubetzkoi, Szilaghin mit ihren Damen.

Der Großfürst und Eva Sorel waren spät gekommen. Das Diner war zu Ende, die gemeinsame Unterhaltung hatte aufgehört; es flüsterten nur Paare miteinander, der Großfürst, zwischen Lady Elmster und der Fürstin Trubetzkoi sitzend, schlief. Dies pflegte sich, auch im angeregten Kreise, häufig zu ereignen. Man wußte es und hatte sich daran gewöhnt.

Er schlief, steif und ohne Lässigkeit zurückgelehnt. Die Lider zuckten von Zeit zu Zeit, die Falte auf der Stirn war durch ihre Tiefe schwarz, der farblose Bart sah aus wie Farren an Baumrinde. Der Argwohn lag nahe, er stelle sich schlafend, um ungestört lauschen zu können; dem widersprach eine Entblößung in den Zügen, die von der Willensaufhebung des Schlummers herrührte und dem Gesicht einen lemurischen Ausdruck verlieh.

An seiner überlangen, hagern Hand, die auf dem Tischtuch ruhte und bisweilen zuckte wie die Lider, funkelte ein haselnußgroßer Solitär.

Der Versammelten hatte sich Unruhe bemächtigt. Beim Knattern einer Gewehrsalve erhob sich die junge Gräfin Finkenrode und blickte bestürzt nach der Tür. Szilaghin trat zu ihr; lächelnd beschwichtigte er sie.

Ein Offizier der Garde erschien und flüsterte Tutschkoff eine Meldung zu.

Eva und Wiguniewski saßen abseits vor einem hohen Wandspiegel, der die Gestalten beider und einen Teil des Raums fahl wiederholte.

Wiguniewski sagte: »Leider sind die Nachrichten verbürgt. Niemand konnte darauf gefaßt sein.«

»Es wurde mir mitgeteilt, er halte sich in Petersburg auf,« antwortete Eva. »In einer deutschen Zeitung las ich sogar, er sei in Moskau verhaftet worden. Übrigens, wo sind Ihre Beweise? Einen Iwan Becker auf bloßes Hörensagen zu verdammen, das wäre ebensolche Felonie als die ist, deren Sie ihn bezichtigen.«

Wiguniewiki zog einen Brief aus der Tasche, sah sich vorsichtig um, entfaltete ihn und sagte: »Dies schreibt er aus Nizza an einen Freund, der auch mein Freund ist. Ich glaube, danach ist kein Zweifel mehr erlaubt.« Er übersetzte, während er leise vorlas, die russischen Worte, vielfach stockend, ins Französische: »Ich bin nicht mehr, der ich war. Eure Vermutungen sind nicht unbegründet, die Gerüchte haben nicht gelogen. Verkünde und bestätige du es allen, die ihre Erwartung auf mich gesetzt, ihr Vertrauen zu mir an bestimmte Bedingungen geknüpft haben. Es liegt eine furchtbare Zeit hinter mir. Ich konnte nicht mehr weiter auf dem Weg, auf dem ich ging. Ihr habt euch in mir getäuscht, mich hat ein Wahnbild getäuscht. In einem Fall wie dem meinen erfordert es größere Kraft und größeren Mut, ein aufrichtiges Bekenntnis abzulegen und denen, deren Herz und Glauben man besessen hat, den Schmerz der Absage zuzufügen, als aufs Schafott zu steigen und sein Leben zu opfern. Ich hätte freudig den Tod auf mich genommen für die Ideen, denen ich bisher alle Gedanken und Gefühle gewidmet; ihr wißt es; ich hatte ja schon meine Ruhe, mein Vermögen, meine Jugend und meine Freiheit für sie hingegeben; nun aber, da ich diese Ideen als verderbliche Irrlehren erkannt habe, darf ich nicht eine Stunde länger für sie einstehen. Ich fürchte nicht eure Beschuldigungen und eure Verachtung; ich folge meinem innern Licht und meinem innern Gott. Drei Wahrheiten sind es, die mich bei meiner Ein- und Umkehr geleitet haben: Es ist Sünde, zu widerstreben; es ist Sünde, zum Widerstand zu überreden; es ist Sünde, Menschenblut zu vergießen. Ich weiß, was mir droht. Ich weiß, welche Einsamkeit mich umgeben wird. Ich bin auf alle Verfolgungen vorbereitet. Tut, wie ihr müßt, ich tue, was ich muß.«

Nach einer langen Pause sagte Eva: »Das ist er; das ist seine Stimme; das ist die Glocke, bei deren Ton man aufhorcht. Ich glaube ihm, ich glaube an ihn.« Sie warf einen düstern Blick auf das Gesicht des Schläfers an der hellerleuchteten Tafel.

Wiguniewski knüllte den Brief zusammen. In seinem spitz hervorstechenden Kinn drückte sich Bitterkeit aus, als er entgegnete: »Seine drei Wahrheiten sind so gut wie drei Divisionen Kosaken. Sie genügen, die Kerker diesseits und jenseits des Ural zu füllen, unsre Jugend zu entmannen, unsre Hoffnungen zu begraben. Jede einzelne ist eine Nagaika, die hunderttausend auferstandene Geister zu Boden schmettert. Felonie? Es ist schlimmer. Es ist die Tragödie dieses ganzen Landes. Drei Wahrheiten,« er lachte mit verpreßten Zähnen und einem Tierlaut, »drei Wahrheiten, und ein Blutbad beginnt, gegen das der bethlehemitische Kindermord und die Bartholomäusnacht harmlose Späße waren. Sehen Sie mich nur an, ich weine nicht. Ich lache. Wozu weinen? Ich werde nach Hause gehen und den Popen rufen und ihm diesen Wisch da geben und Amulette daraus verfertigen lassen und sie austeilen an die, die auf Erlösung warten. Vielleicht genügt es ihnen.«

Evas Züge wurden hart. Sie sah noch immer in das Gesicht des Schläfers, zwangvoll gebunden. Um den äußern Rand ihrer Lippen spielte ein morbides Lächeln. Die Haut der Wangen schimmerte opalhaft. »Weshalb sollte er nicht tun, was ihm der Geist befiehlt?« fragte sie und wendete einen Moment lang die diademgekrönte Stirn dem Fürsten zu. »Ist es nicht besser, daß einer zur Erscheinung gelangt, als daß vielen Hunderttausenden in die triste Mittelmäßigkeit gewünschter Lebensformen geholfen wird? Er sagt es ja so schön: ich folge meinem innern Licht und meinem innern Gott. Wer kann das? Wer darf das? Jetzt versteh ich auch ein Wort von ihm,« bohrender schaute sie in das Gesicht des Schläfers, »davor muß man sich beugen. Das also hat er im Sinn gehabt. Über diese eure Erde hier gehen wunderbare Pflüge, Fürst. In ihrem zerrissenen Leib dampft eine Finsternis, in die man sich stürzen möchte, um neu geboren zu werden. Da ist Atem, da ist Chaos, da donnern die Elemente, der schrecklichste Traum ist eine Wirklichkeit, die Wirklichkeit wie ein Epos aus der Vorwelt. Solches Leben ahnt ich früher nur aus dem Marmor heraus, wo namenlose Leiden geronnen und ewig geworden waren. Mir ist, als schaut ich von fünf Jahrhunderten her zurück, von den Sternen herunter und alles wäre Vision.« Sie sagte dies mit bebender Stimme und einer inbrünstigen Schwermut.

Wiguniewski, der beständiger Zeuge der Wandlung gewesen war, die sich in den letzten Monaten mit ihr ereignet hatte, war von ihrer Rede nicht befremdet. Seine Augen waren nun ebenfalls auf den Schläfer gerichtet. Tiefatmend sagte er: »Gestern nacht hat sich ein neunzehnjähriger Student, Semjon Markowitsch, nachdem er von Beckers Abfall erfahren hatte, in seinem Zimmer erschossen. Ich bin hingegangen und habe den Toten gesehen. Wenn Sie, Eva, den Toten gesehen hätten, würden Sie nicht so sprechen. Wenigstens nicht ganz so. Haben Sie einmal einen neunzehnjährigen Jüngling tot im Sarge liegen sehen, mit einer kleinen, schwarzen Schußwunde in der Schläfe, lieblich und unschuldig von Angesicht wie ein Mädchen, und doch mit diesem unbeschreiblichen Schmerz, dieser entschlossenen Verzweiflung über einen Verlust ohne Maß?«

Er schwieg; ein Schauder flog über Evas Schultern, aber sie lächelte wie in einem Fieber, das sie besessen und entherzt erscheinen ließ. Der Fürst fuhr trocken fort: »Dieser Brief, er mag ja viel Verführerisches haben. Warum sollte ein Mann wie Iwan Becker seinen Treubruch nicht mit einigem Aufwand von plausibler Psychologie schmackhaft machen können? Daß er nicht in bewußter Heuchelei und niedriger Zwecksucht handelt, billige ich ihm ohne weiteres zu. Aber er wäre nicht der echte Russe, der er ist, der weiche, trübe, fanatische, sich selbst zerfleischende Mensch, wenn seine Transformation nicht alle verhängnisvollen Folgen eines geplanten und systematisch betriebenen Verrats mit sich brächte. Er meint dem zu dienen, was er seine Erweckung nennt, und aus Schwäche und Blindheit, in verwirrtem Sinn und moralischer Peinigungswut gerät er der Bestie in die Krallen, die an allen Ecken und Enden Europas vernichtungslüstern und erbarmungslos lauert. Wenn ich die Dinge so beurteile, habe ich noch mild geurteilt. So viel wissen wir bereits, daß er zum Synod in Beziehung getreten ist und eifrig mit dem geheimen Kabinett korrespondiert. Hier in Moskau, in Kiew, in Odessa sind rasch hintereinander Verhaftungen vorgenommen worden, die auf ihn zurückgeführt werden müssen. Wie die Dinge liegen, kann nur er das Material geliefert haben; man hätte es sonst nicht gewagt. Das sind unbestreitbare Tatsachen; sie sprechen für sich selbst.«

Eva hatte die rechte Hand mit gespreizten Fingern gegen die Brust gedrückt und starrte fasziniert in die Luft, von einem Bild getroffen, das den grellsten Wechsel der Empfindungen zwischen Grauen und Entzücken verursachte. Die Lippen bewegten sich zu einer Frage, doch sie enthielt sich ihrer.

Sie sah Wiguniewski groß und ernst an und flüsterte: »Ich habe auf einmal eine so brennende Sehnsucht, ja wonach? Auf einen Berg zu steigen, hoch in Eis und Schnee hinein; oder mit einem Schiff in unbekannte Meere zu fahren; oder mit einem Aeroplan zu fliegen; nein, es ist das: ich möchte in einen Wald gehen, zu einer einsamen Kapelle, mich hinwerfen und beten. Wollen Sie eine Wallfahrt mit mir machen, Fürst? Zu einem fernen Kloster in der Steppe?«

Wiguniewski wunderte sich. Es war Leidenschaft und Trauer in den Worten, aber auch herausfordernder Trotz, der ihn verletzte. Ehe er sich zu einer Antwort sammeln konnte, näherten sich der Marquis du Caille und Fürst Szilaghin.

Der Schläfer öffnete die Augen, die träg blickten.

8

In Edgar Lorms Studierzimmer waren der Theaterschneider und der Perückenmacher. Er hielt zu Hause eine Kostümprobe ab für die Rolle des Petrucchio. »Die Zähmung einer Widerspenstigen« sollte demnächst in neuer Fassung und Besetzung gespielt werden; er liebte das Stück und freute sich auf die Darstellung der heiter-impetuosen Figur.

Judith, die in ihrem verzärtelt ausgeschmückten Gemach saß, auf einem niedrigen Schemel, die Hände um die Knie geschlungen, hörte seine schmetternde Stimme durch drei geschlossene Türen. Er zankte mit den Leuten. Lieferanten und Subalterne entfachten stets seinen cholerischen Ärger. Er war schwer zufriedenzustellen; wie von sich selbst, verlangte er auch von allen andern die höchste Anspannung und gewissenhafte Arbeit.

Judith langweilte sich. Sie zog eine Lade, die mit farbigen Seidenbändern gefüllt war, aus einer Biedermeierkommode, wühlte darin, probierte dies und jenes Band auf ihrem Haar, wobei sie sich mit gefurchter Stirn im Spiegel beschaute, dann war sie der Beschäftigung überdrüssig, ließ die Lade, wo sie war, die Bänder auf dem Boden verstreut liegen und erhob sich.

Sie schritt durch die Zimmer, klopfte an Lorms Tür und trat ein. Sie war überrascht von seinem Anblick. In dem spitzenbesetzten Samtwams, den Faltenhosen, den langschaftigen Stiefeln, dem Hut mit breiter Krämpe und geschwungener Feder, unter dem die braunen Haare der Perücke hervorquollen und bis auf die Schultern fielen, sah er wie ein Sieger aus, schön, verwegen, hinreißend; wie er stand und sich bewegte, das war schon Spiel und Übertragung; die ganze Welt war sein Theater.

Der Schneider und der Perückenmacher standen vor ihm, stramm wie Soldaten, und lächelten bewundernd.

Auch Judith lächelte. Das Unerwartete, ihn wieder neu zu finden, verwandelt, stimmte sie dankbar. Sie schmiegte sich an ihn und berührte mit den Fingerspitzen seine Wange; seine Augen, noch durchleuchtet vom Fluidum der erdichteten Gestalt, fragten nach ihrem Begehren. Er war gewohnt, daß sie ein Begehren hatte, wenn sie sich zur Liebkosung herbeiließ. Sie bog mit dem Arm seinen Kopf zu sich und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich möchte, daß du mir was schenkst, Edgar.«

Er lachte, halb verlegen, halb belustigt. Da ihm das gutmütig-zwinkernde Zuschauen der beiden fremden Leute peinlich war, hängte er sich in sie ein und führte sie in die Bibliothek. »Was soll ich dir denn schenken, Kind?« fragte er, und der kühne Ausdruck, der ihm zugleich mit dem Kostüm des Bezähmers Petrucchio andre Natur geworden war, verblaßte.

»Irgend etwas, was du willst,« antwortete Judith, »irgend etwas Merkwürdiges, was mir Freude macht, was du gern hast, irgend etwas.«

Er schmatzte mit den Lippen, sah lustig aus und bereits fügsam, schaute sich im Zimmer um, griff nach einigen Gegenständen, schob das Kinn vor und besann sich, zeigte die Skala der Mimik von komischer Ratlosigkeit zu besorgtem Diensteifer, schlug sich endlich, graziös und spitzbübisch, mit der flachen Hand auf die Stirn und rief: »Ich habs.« Er öffnete ein Schränkchen, langte hinein und reichte Judith mit einer Verbeugung ein Nürnberger Ei, eine Uhr in einem durchbrochenen Gehäuse aus Altgold von kunstvoller Filigranarbeit.

»Ach wie nett,« sagte Judith und wog die Uhr auf der offenen Hand.

Lorm sagte: »Nun sieh dir mal das Ding gut an, ich will indes die Bursche drinnen fortschicken.« Mit flinkem Tänzerschritt verließ er das Zimmer.

Judith setzte sich an den großen Eichentisch, nahm die Uhr aus der Kapsel, betrachtete eine Weile die eingravierten Ornamente, drehte sie um und um, suchte nach dem Scharnier, drückte auf einen Knopf und schaute, nachdem sich die ovalen Schalen aufgetan, neugierig in das alte, leblose Räderwerk. Ich will es auseinandernehmen, beschloß sie, aber nicht jetzt, heut abend will ichs tun; ich will sehen, was drin ist. Und sie freute sich auf den Abend, wenn sie allein sein und die Uhr zerlegen würde.

Aber das Geschenk, so reizend es war, genügte ihr nicht. Als Lorm wieder hereinkam, umgekleidet, Privatmann, Ehemann, glattrasierter Herr, ohne einen Nachschimmer von Petrucchio, hielt sie ihm das Uhrgehäuse entgegen und bat, oder befahl vielmehr, denn nun war er ja wieder der, den sie kannte: »Das mußt du mir mit Goldstücken füllen, Edgar; ich will es voller Goldstücke haben.«

Ich will, ich will haben; immer: ich will haben.

Lorm stutzte: er schämte sich für sie und senkte den Kopf. In einem Schreibtischfach hatte er etwa fünfzig Goldstücke liegen; er füllte die Kapsel und gab sie ihr. »Dein Bruder Wolfgang war heute hier, während du ausgefahren warst,« sagte er. »Er saß eine Stunde lang bei mir. Ein unergiebiger junger Mann. Die Art, wie er nicht mit sich ins reine kam, wofür er mich eigentlich nehmen sollte, war recht amüsant. Jeder Zoll ein Referendar.«

»Was wollte er denn?« fragte Judith.

»Mit dir sprechen; Christians wegen mit dir beraten. Er will zu dem Zweck wiederkommen.«

Judith erhob sich. Sie war fahl im Gesicht, und ihre Augen glitzerten. Ihr Wissen über Christians verändertes Leben stammte aus einem Gespräch mit Crammon während dessen Aufenthalt in Berlin, aus Briefen einer früheren Freundin und aus mittelbarer Kunde von dem, was im Elternhaus vorging. Schon bei der ersten Mitteilung war sie von einem Zorn erfaßt worden, der nachwirkend an ihr fraß, so daß sie bisweilen, wenn sie allein war, die Zähne knirschte und auf den Boden stampfte. Und was sie weiterhin zu hören bekam, schon der Gedanke an seine Person, versetzte sie in dieselbe Erbitterung. Hätte sie nicht die Gabe gehabt, sich zum Vergessen zwingen, das Vergessen sich gebieten zu können, und zwar mit solchem Erfolg, daß das Unangenehme schließlich gar nicht mehr vorhanden war, so hätte sie sich im Kampf dagegen aufgerieben und vergiftet. Jede Erinnerung beschwor die Wut von neuem, und sie grollte dem, der sie erinnerte.

Lorm wußte und fürchtete es. Seine Witterung verriet ihm, daß etwas im Spiel war wie Angst vor dem Zerrbild; denn daß sich Judith als eine Gefallene, von sozialer Höhe freiwillig Herabgestiegene innerlich empfand, verhehlte er sich nicht; er dachte zu bescheiden von sich selbst, um es übelzunehmen. Zu zittern vor der Meinung der Menschen, war ihr eingefleischt; obgleich sie sich nicht mehr von den Elementen getragen sah, die vordem ihr aristokratisches Gefühl genährt hatten, war ihr Wesen noch in ihnen verwurzelt, und im neuen Bezirk erschien sie sich entwürdigt.

Aber das alles konnte die Ausbrüche nicht erklären, welchen sie sich überließ, sobald nur Christians Name genannt wurde.

»Er soll nicht wiederkommen,« fauchte sie in der Haltung einer gereizten Katze, »ich will nichts hören von dem Menschen. Hab ich dirs nicht schon zwanzigmal gesagt, ich will nichts hören? Was bist du denn für ein Schwächling, daß du dich überhaupt einläßt? Hast du ihm nicht sagen können: Sie will nicht, sie kann nichts davon hören? Laß den Wagen kommen und fahr auf der Stelle zu ihm hin; verbiete ihm, mein Haus zu betreten, verbiete ihm, mir zu schreiben. Oder nein, ich schreibe selbst, du bist ja zu feig; ich schreibe ihm: Deine Besuche, mein lieber Wolfgang, sind mir angenehm, obwohl ich nicht weiß, was wir uns auf einmal zu sagen haben sollten; komm, sooft du magst, aber von dem Menschen sprich mir nicht, niemals, unter keiner Bedingung.«

Lorm wagte eine Einrede. »Ich begreife nicht,« sagte er sanft und überlegen, »was macht dich so maßlos? In niemandes Augen ist dein Bruder Christian ein Verbrecher, höchstens ein Narr. Wem schadet er? Was hat er dir zuleid getan? Warst du nicht besonders vertraut mit ihm? Du betontest es immer sehr, wenn du von ihm sprachst: Mein Bruder. Ich begreife nicht.«

Da wurde Judith vollends zur Megäre: »Natürlich,« höhnte sie rüd, »du! Geht dir denn etwas nah? Begreifst du denn überhaupt etwas außer von Schminktöpfen und bunten alten Fetzen? Ahnst du denn, was das war: Christian Wahnschaffe? Was das bedeutet hat? Du steckst ja viel zu tief in deiner Lügen- und Phrasenwelt. Wie solltest du begreifen!«

Lorm trat einen Schritt zu ihr. Er sah sie mitleidig an. Sie wich zurück und schlug abwehrend mit der Hand in die Luft.

Und sie schlug; schlug den Fisch.

9

Karen Engelschall sagte: »Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Vor dem Abend kommt er heute nicht mehr. Und wenn, so sind Sie eben ein Bekannter von mir.«

Sie blickte Girke lauernd an. Hochschwangern Leibes saß sie am Fenster, breit, entschlossen nach Art gewisser Weiber, denen das Sitzen Genuß und Eroberung ist. Sie nähte an einem Kinderhemdchen.

»Übrigens, zu reden haben wir ja nicht viel,« fuhr sie fort, und in ihrer Miene war schadenfrohe Genugtuung. »Was wäre noch zu reden? Sie sagen, man will sechzigtausend geben, wenn ich von der Bildfläche verschwinde? Na ja, sechzigtausend ist ja ganz schön. Aber wenn ich warte, gehen die Herrschaften noch weiter in die Höhe. Auf einmal ist man wer. Ich will mirs überlegen. Kommen Sie nächste Woche wieder.«

»Sie sollten es wirklich überlegen,« antwortete Girke amtlich, »denken Sie an die Zukunft. Es ist vielleicht der Haupttreffer. Nicht im Traum hätten Sie vor einem halben Jahr dran geglaubt. Zinsengenuß: prachtvoll. Das Ziel. Solche Aussicht zu verscherzen, wäre frivol.«

Mit tückischem Lächeln beugte sich Karen tiefer über ihre Arbeit. In einem unbestimmten Wohlgefühl preßte sie die Knie aneinander und drückte die Augen zu. Dann schaute sie empor, wischte den gelben, übergestülpten Haarwust aus der Stirn und sagte: »Ich müßte dümmer sein, ließ ich mich fangen. Meinen Sie, ich weiß nicht, wie reich er ist? Wenn er bieten wollte, um mich los zu sein, wär das Gebotene von euch bloß ein lausiger Bettel. Warum soll ich schlechte Geschäfte machen? Da wär ich ja rein auf den Kopf gefallen. Sie haben recht, der Haupttreffer ist es ja, aber anders als Sie denken. Abwarten und Tee trinken. Kann sein, daß es die falsche Rechnung ist, dann hab ich mir den Schaden selber zuzuschreiben.«

Girke rückte unbehaglich auf seinem Stuhl. Er schaute auf die Uhr und ließ von da den notizenlüsternen Blick über das Zimmer mit den ordinären Möbeln, Tapeten, Deckchen und Teppichen schweifen.

»Eins kann ich Ihnen zum Trost sagen und sag es Ihnen, weil es an der Geschichte nicht viel ändert,« begann Karen Engelschall wieder; »nämlich, daß seine Leute auf dem Holzweg sind, wenn sie glauben, um meinetwillen wär es mit ihm so wie es ist, und daß sie ihn behalten hätten, wär ich ihm nicht in die Quere gekommen. Ich könnte euch ja leicht einen blauen Dunst vormachen und so tun, als hätte er mir zuliebe sein Leben umgekrempelt. Wozu aber? Das muß ja ein neugeborenes Kind kapieren, daß es bei ihm nicht mit rechten Dingen zugeht. Warum soll ich Ihnen also eine Komödie vorspielen, wo ich doch dasitze und mir das Hirn zerdenke.«

»Sehr wahr,« sagte Girke, den ihre Offenheit überraschte, »ich verstehe vollkommen; Ihre Worte interessieren mich ungemein. Ich habe immer behauptet, man könnte am ehesten bei Ihnen auf Unterstützung rechnen. Sie würden mir einen wesentlichen Dienst leisten, wenn Sie mir einige Fragen beantworten wollten. Eine Hand wäscht die andere; ich meinerseits würde Sie dann gegebenenfalls auch nicht im Stiche lassen.«

Karen kicherte in sich hinein. »Glaubs schon,« erwiderte sie, »so 'n bißchen herumspionieren und dann hingehn und trätschen. Das paßte Ihnen gerade. Nee, nee, so was tut sie nicht, absolut nicht. Fragen Sie doch weiter herum, da könnten Sie schon verschiedenes hören. Da gibts schon welche, die reden könnten. Da ist zum Beispiel sein Freund, der Voß; wenden Sie sich mal an den.« Ihre Augen funkelten, als sie den Namen aussprach. »Der gehabt sich, wie wenn er die Weisheit mit Löffeln gefressen hätte, und behandelt einen so niederträchtig, daß man ihm am liebsten die Faust unter die Nase stoßen möchte. Den fragen Sie mal, an wen das Geld gehängt wird. An mich nicht, aber der Voß kann Ihnen schon sagen, an wen.«

»Beileibe, das überschätzen Sie wohl,« warf Girke sachverständig hin; »daß die in Rede stehende Persönlichkeit die Wurzel des Übels ist, leidet keinen Zweifel. Aber wie die Verhältnisse liegen, würde selbst das Zehnfache der Gelder, die von diesem gierigen Rachen verschlungen werden, nicht in Betracht kommen. In dem Punkte kann ich Sie durchaus beruhigen. Es müssen noch andre unbekannte Blutsauger existieren.«

»Is mir total schleierhaft, was Sie da quasseln, lieber Mann,« versetzte Karen, und ihre gelben, kleinen, bösen Zähne wurden sichtbar. »Wollen Sie nachschauen, ob was im Schrank steckt? oder in der Matratze? Ist Ihnen die Wohnung vielleicht zu fein? Oder trag ich Ihnen zu schöne Kleider, zu teuern Schmuck? Oder haben Sie schon das Loch drüben bei Gisevius besichtigt, wo er schläft, der elegante Herr? Kolossaler Luxus, was sagen Sie dazu? Sogar die Mäuse finden's ungemütlich; ich hab neulich, wie ich drüben war, eine krepiert im Winkel liegen sehen. Einem normalen Menschen grault vor Mäusen; ihm macht das nichts aus. Ist doch jammervoll bei einem, der so großartig gelebt hat. Man hört ja Wunder davon, es muß ja gewesen sein wie beim Kaiser. Hat Schlösser gehabt, Jagden gehabt, Automobile gehabt, die schönsten Weiber gehabt. Sind ihm alle nur so zugeflogen, die Weiber. Nie Sorgen, nie einen Kummer, nie ein Wölkchen, alles im Überfluß, Geld, Kleider, Essen, Trinken, Freunde, Diener, alles im Überfluß; und nun bei Gisevius, wo die Mäuse krepieren.«

Ihre Augen waren brennend auf Girke gerichtet, aber möglicherweise sah sie ihn gar nicht mehr. Sie schien auch nicht mit ihm zu sprechen, diesem Unbekannten, dessen zweckhafte Wißbegier sie gleichgültig ließ, sondern sie verschaffte sich Luft, indem sie den Krampf des einsamen Schweigens brach. Die Hände öffneten sich wie Muschelschalen und blieben geöffnet; das Kinderhemdchen glitt auf den Boden. Ihre Zunge war entfesselt; Worte stürzten hervor, im Grübeln entstanden, im Grübeln zerrieben, im Tage und Nächte währenden Hinbrüten einander vertraut geworden; die Stimme hatte Metall, im Gesicht strafften sich erschöpfte Muskeln.

Girke lauschte gespannt und führte in Gedanken Protokoll. Er merkte, daß sich jetzt sogar sein Fragen erübrigt hatte; die Maschine, von einem heimlichen Feuer geschürt, war von selbst in Schwung geraten.

Karen fuhr fort: »Er kommt, setzt sich hin und schaut. Setzt sich hin, schlägt ein Buch auf und studiert. Legt das Buch weg und schaut. Schaut mich an, als wär ich eben vom Wind ins Zimmer hereingeweht worden. Wenn er nur nicht wieder mit seinem Fragen anfängt, denk' ich. Ich sage: Heut ist großer Lärm auf der Straße. Ich sage: Die Isolde hat geschwollene Hände, man muß eine Salbe kaufen. Meine Mutter war da, sag ich, und hat erzählt, am Alexanderplatz bekäm man billiges Linnen für 'ne Steppdecke. Er nickt. Ich stell das Wasser zum Kaffee auf. Er sagt, am Morgen sei ihm ein räudiger Köter stundenlang nachgelaufen; er hätte ihm was zu fressen gegeben. Er wäre bei einer Versammlung in Moabit gewesen und hätte mit ein paar Leuten gesprochen. Alles nur so halb, wie einer, der sich geniert. Schon gut, denk ich, bloß nicht fragen. Aber seine Augen kriegen schon das Gewisse, und er fragt, ob die Zeit bald käme,« sie deutete brutal auf ihren Leib; »ob ich mich freue; wie es früher gewesen sei, ob ich mich da auch gefreut hätte; ob ich das möchte, ob ich jenes möchte. Bringt mit; bringt Äpfel mit, bringt Kuchen und Schokolade mit; ein Umhangtuch; ein Pelzchen für den Hals. Sieh mal, Karen, das hab ich dir mitgebracht, und küßt mir die Hand. Ja, küßt mir die Hand, als wär ich Gott weiß wer, als wüßt er nicht, wer ich bin. Küßt man einer wie mir die Hand?«

Sie fragte es bleich, mit verzerrten Zügen; der Strohhelm von Haaren wuchs in die Höhe. Girkes Augen wurden zu zwei blöden Kugeln. »Äußerst merkwürdig,« murmelte er, »höchst interessant.«

Karen achtete nicht auf ihn. »Wie gehts dir, Karen?« äffte sie; »entbehrst du was? Was sollt ich entbehren? Einen Fußläufer für mein Bett, sag ich in der Verzweiflung; ein paar Kretonvorhänge für die Kammer; roten, sag ich, roten Kreton, weil mirs eben einfällt. Manchmal gehen wir zusammen; zum Humboldthain, zum Oranienburger Tor. Er denkt vor sich hin; lächelt, schweigt. Die Leute glotzen; es kribbelt mich. Ich möchte sie anschreien: Da ist er, der noble Herr; er geht mit mir, der noble Herr, ihr könnts ruhig glauben; und da bin ich, das Mensch mit nem dicken Bauch und geh mit ihm; fein, was? feinfein; sehts euch nur genau an, das kuriose Paar. Manchmal kommt er mit dem Voß, und sie reden im Zimmer nebenan; das heißt, der andre redet; der verstehts, ein Pfarrer möchte neidisch werden. Einmal war er mit nem Baron da, so nem jungen, blonden Menschen; na, das war ne schöne Geschichte; der hatte nen Weinkrampf, heulte stundenlang wie 'n kleines Kind. Der Christian sagte nichts dazu, setzte sich bloß hin zu ihm. Was er sich denkt, weiß man ja nie. Manchmal wandert er im Zimmer auf und ab, steht am Fenster, schaut hinaus. Geht fort, ich weiß nicht wohin; kommt, ich weiß nicht woher. Mutter sagt, er ist einfältig. Sie legts darauf an, ihn zu stellen. Riecht sie Moos, ist sie wie ne Klette. Hätt sie mir bloß nicht Niels Heinrich auf den Hals gehetzt. Der wird immer unverschämter; angst und bang ist mir, wenn ich ihn auf der Treppe höre. Auf der Treppe krakeelt er schon. Letzten Montag kommt er, verlangt Draht. Hab keinen Draht, sag ich, geh du in die Arbeit. Er hat auf Monteur gelernt, kann verdienen, aber die Tagdieberei schmeckt ihm besser. Er sagt, ich solle mein Maul halten, sonst könnt ich mir mal die fünf Jauerschen angucken. Indem kommt Christian herein; Niels Heinrich spießt ihn mit den Augen an die Wand. Mir schlottern die Beine, ich zieh Christian beiseit, sag ihm: er will Draht. Versteht er nicht. Geld, sag ich. Da gab er mir Geld, hundert Emm, drehte sich um und ging hinaus. Der andre ihm nach. Ich dachte, er will Streit anfangen. Es war aber nichts. Nur eklig wars. Der Schreck blieb mir im Halse sitzen.«

Sie schwieg und atmete keuchend.

»Daß Niels Heinrich ihn mit Anforderungen verfolgt, ist durch eine Reihe von Tatsachen erwiesen,« glaubte Girke einschalten zu sollen.

Karen hörte es kaum. Ihr Gesicht wurde immer finsterer. Sie legte die Hände auf die Brust, erhob sich schwerfällig und sah sich im Zimmer um. Die Füße waren einwärts gebogen, der Leib vorgestreckt. »Kommt, geht; kommt, geht,« grollte sie mit einer Stimme, die langsam bis zum Kreischen hinaustieg. »So ists, so bleibts. Wenn er bloß wenigstens nicht fragen wollte! Da wird einem kalt und heiß. Wie Leibesdurchsuchung ist es. Kennen Sie Leibesdurchsuchung? Alles wird rum- und rumgedreht, alles befingert; schauderhaft. Ich sollte mirs doch wohl sein lassen in den vier Wänden; was gibts denn Besseres? Ist eins so herumgeschmissen worden in der Welt wie 'n verrecktes Aas, da muß er ja seinem Herrgott danken, wenns mal so weit ist, und er kann verschnaufen. Aber sitzen und warten und immer erzählen, wie's da war und wie's dort war, und was da geschah und was dort geschah, das halt ich nicht aus, das ist zu viel, da springt mir die Hirnschale entzwei.« Ihre Faust dröhnte gegen ihre Schläfe. Ein Tier kam zum Vorschein, ein Tier mit der Häßlichkeit des zerstörten und verstörten Menschen, eine bösartige Wilde, aufgeweckt und nicht mehr zu bändigen.

Girke erhob sich bestürzt und schob für alle Fälle, als Schutz und Waffe, den Stuhl zwischen sich und das Weib. Er sagte: »Ich will nicht länger stören. Ich bitte, meinen Vorschlag in reifliche Erwägung zu ziehen. Ich werde gelegentlich wieder vorsprechen.« Er ging mit einem Gefühl von Bedrohung im Rücken.

Karen nahm nicht einmal wahr, daß sie sich allein im Zimmer befand. Sie grübelte. Ihre Gedankenarbeit war primitiv. Zwei Ungewißheiten quälten sie bis zur Krankhaftigkeit und Wut; die eine: wodurch Christian getrieben wurde, sie auszuforschen, immer von neuem, immer mit derselben Geduld, derselben Freundlichkeit, derselben Neugier; die andre, was für ein unerklärlicher Zwang es war, in welchem sie antwortete, Rede stand, erzählte und Rechenschaft gab.

Jedesmal geschah es, daß sie sich am Anfang sträubte und dann dem Zwang erlag; daß sie den Blick von der eignen Vergangenheit zuerst voll Entsetzen abwandte, dann aber hinschauen mußte, von unerbittlicher Gewalt befehligt, hinschauen mußte, und alles Erlebte, Verschwundene, Wüste, Dumpfe, Finstere, Gefährliche wurde ihr in einer Art, die sie fürchtete, zum gegenwärtigen Bild. Es war ihr eigenes Leben und schien doch das Leben einer andern, die ihr glich und wieder nicht glich. Es war, als finge alles von vorne an, doppelt wüst, grauenhaft, finster und gefährlich, und man wisse dabei jedes Tages trostloses Ende.

Dinge von ehedem waren noch an ihrem Ort; schrecklich tauchten Stuben auf, Betten, Wände; tauchten Städte auf, Straßen, Straßenecken, Destillen, Korridore in Amtsgebäuden; tauchten Menschen auf, Worte, Stunden, Nächte, Tränen, Schreie; alle Ängste, alle Erniedrigungen, alle Verbrechen, aller Hohn, alles Gelächter; alles kam wieder, stand da, kroch ins Innere, riß ins Vergangene zurück.

Die Einbildung war die: man befand sich in einem unabsehbar langen Schacht, durch den man schon einmal gegangen war; man wurde gepackt mit dem Befehl, umzukehren und etwas zu holen, was man vergessen hatte; man wehrte sich verzweifelt; man setzte alles daran, es nicht zu tun; umsonst; man mußte umkehren und das Vergessene holen und wußte dabei gar nicht, was es war. Wie man nun so ging, kam einem von der andern Seite jemand entgegen; dieser Jemand war man selbst; man hätte an eine Spiegelung glauben können, aber die andre war gleichsam zerfetzt: sie hatte eine aufgerissene Brust, aus welcher blutig entblößt das Herz leuchtete.

Was war das? Was bedeutete es?

Sie fiel auf den Stuhl nieder; ächzend schlug sie die Hände vors Gesicht. Er sollte es wenigstens bezahlen, der Peiniger, er sollte es teuer bezahlen.

Die einbrechende Dunkelheit verlöschte ihre Gestalt.

10

Amadeus Voß sprach zu Christian: »Ich will dir sagen, wie dir zumute ist. Dir ist zumute wie einem, der sich gegen die Kälte abhärten will und plötzlich seine Kleider abwirft. Es ist dir wie einem zumute, der nie Schnaps getrunken, nicht einmal gerochen hat und mir nichts dir nichts eine ganze Flasche Fusel in den Schlund gießt. Du frierst in der Kälte; du taumelst, weil dich das Gesöff umwirft. Aber das ist nicht das Ärgste. Das Ärgste ist, daß dir heimlich graut. Wie könnte es auch anders sein? Die Elemente, aus denen du gemacht bist, haben eine Gewalt wider deinen Willen. Es graut dir, und du gestehst es dir nicht ein. Faßt du nicht hundert Dinge mit deinen Händen an, schmutzige Dinge, gemeine Dinge, häßliche Dinge, die früher überhaupt nicht in deinen Gesichtskreis gekommen sind? Dann sitzt du da und beschaust dir deine Fingernägel, die immer noch für den Salon poliert sind. Beschaust sie mit Ekel und wagst nicht nach dem Wasserglas zu langen, das unreine Lippen berührt haben, schwielige Fäuste gehalten haben. Ja, deine Hände sind es, die dir am meisten leid tun; und was hat das Ganze für einen Zweck, wenn einem seine Hände leid tun? Liegst du denn in diesem Bett wirklich? Auf diesem Sofa wirklich?«

»Ich glaube ja, Amadeus.«

»Ich glaube nein. Und wenn es kalt ist in der Nacht, schürst du Feuer an, in diesem Ofen, du, wirklich?«

»Wer denn sonst? Ich habe es gelernt.«

»Und zündest die Petroleumlampe an, du, dem das Licht in Sälen auf einen Druck an eine Wand gehorchte, du, wirklich? Du bist es nicht wirklich. Die rauchgeschwärzte Decke da, pfui Teufel! Was für eine Unruhe muß in dir sein, wie muß dich der Abscheu schütteln. Kannst du denn schlafen? Und ist das Erwachen nicht gespensterhaft? Gehst in deinen feinen Kleidern unters Volk; jeder merkt, daß sie nicht von einem billigen Schneider stammen und daß die Bügelfalte nicht von der letzten Weihnacht ist; da grinsen die Leute und kommen sich vor wie betrogen, denn der größte Betrüger ist in ihren Augen der Reiche, der den Armen mimt. Sie nehmen dich nicht ernst, und wenn du dein ganzes Vermögen in die Spree wirfst; sie nehmen dich nicht ernst, und wenn du in Lumpen vor ihnen herumspazierst. Du erbitterst sie nur, sie halten es für Gaukelei und Spleen. Du kennst sie nicht. Du kennst nicht ihre Verwahrlosung, du weißt nicht, was sie entbehrt haben, seit Generationen entbehren mußten und wie sie dich dafür hassen. Du kennst nicht ihre Geschäfte, ihre Gedanken, ihre Sprache, und sie werden niemals begreifen, daß einer freiwillig auf etwas verzichten sollte, was ihr blutiges Wünschen und Hoffen ist, der Inbegriff ihrer Träume, ihr Neid und ihr Groll. Zehn Jahre, zwanzig Jahre, dreißig Jahre lang arbeiten sie, um nur Atem zu haben und den Magen zu füllen, und sie sollen dir glauben, daß du nichts weiter verlangst als Atem und Speise, du, für den sie bisher namenlose Tragtiere waren, für den sie ihre Söhne in die Fabriken und in die Bergwerke, ihre Töchter auf die Straße und in die Krankenhäuser schickten, für den sie ihre Lungen mit Quecksilber und Eisenstaub zerstören ließen, für den sie sich geopfert haben zu Hunderttausenden in den täglichen stummen, heißen Schlachten, die das Proletariat dem Kapital liefert, geopfert als Heizer und Maurer, als Weber und Schmiede, als Glasbläser und Maschinenbauer, geknechtete Söldner in deinem Dienst? Was tust du denn? Mit welchen Seelenkräften rechnest du denn? Mit welchem Zeitverlauf? Du bist ein Spieler, immer nur Spieler, und noch dazu einer, der vorläufig bloß Marken einsetzt, ohne zu wissen, ob er sie auslösen wird können.«

»Alles, was du sagst, ist wahr,« antwortete Christian.

»Nun? und?«

»Es kann nichts an dem ändern, was ich tue.«

»Noch keine Woche ist es her, da hat dir so gegraut vor diesem Loch hier, daß du ins Hotel Westminster gegangen bist, um dort zu schlafen.«

»Es ist wahr, Amadeus. Woher weißt dus?«

»Woher ichs weiß, tut nichts zur Sache. Willst du deine Seele ersticken im Grauen? Sieh zu, daß dir ein Ausweg bleibt. Diese Engelschalls, Mutter und Sohn, werden dir das Leben zur Hölle machen. Fällst du in ihre Netze, so bist du schlimmer dran, als wenn ein armer Teufel in die Hände von Wucherern gerät. Ich denke, du bist dir über dieses Gelichter einigermaßen klar. Was sie bezwecken, begreift ein kleines Kind. Laß dich warnen. Sie und andre, je mehr du mit ihnen lebst, je mehr werden sie dich zur Verzweiflung bringen.«

»Ich fürchte mich nicht, Amadeus,« sagte Christian. »Eines versteh ich nicht,« fügte er leise hinzu; »daß gerade du mich von dem abhalten willst, was ich als richtig und notwendig erkannt habe, gerade du.«

Leidenschaftlich ausbrechend erwiderte Voß: »Hast du mir das Brett gelegt, auf dem ich ans Ufer kommen sollte, warum willst dus wieder in den Abgrund stoßen, bevor ich am Ufer bin? Sei, was du bist! Verwandle dich nicht in einen Schatten vor meinen Augen! Zieh das Brett nicht fort, sonst weiß ich nicht, was aus uns beiden wird.«

Sein Gesicht verzerrte sich abschreckend, seine geballten Hände zitterten.

11

In seiner beständig wachsenden Bedrückung und Verwirrung, von Feindseligen, Ungläubigen, Spottenden und düster Begehrenden umgeben, erschien Christian das Antlitz Iwan Beckers wie eine schöne Vision. Da wußte er, daß er auf Becker in irgendeinem Sinn wartete und daß er seiner bedurfte.

Er war mit einer Last beladen, und es schien ihm, daß es keinen Menschen außer Becker gab, der ihm diese Last abnehmen konnte. Bisweilen zweifelte er, aber sooft er sich der Worte, der Stimme Beckers erinnerte, der Stunden, die er mit ihm verbracht, jener Stunden des Aufgangs und Anfangs, zwischen Finsternis und Dämmerung, wurde er wieder zuversichtlich.

Für ihn war Becker der Mensch mit dem Menschenwort und dem Menschenauge; der Mensch, der einen Abgrund in sich trug, in den man alles werfen konnte, was bedrückte, was niederhielt und hemmte.

Immer deutlicher wurde dieses Bild: der Mensch mit dem Abgrund im Innern, einem umgestülpten Himmel gleich, in den die quälenden und schweren Dinge versanken und unsichtbar wurden.

Er telegraphierte an Fürst Wiguniewski und bat um Mitteilung, wo Becker sich aufhielt. Die Antwort war, nach aller Wahrscheinlichkeit befinde er sich in Genf.

Christian traf Anstalten, in die Schweiz zu fahren.

12

Karen gebar einen Knaben.

Des Morgens um sechs Uhr rief sie Isolde Schirmacher, die die Hebamme holte. Als sie allein war, schrie sie so markerschütternd, daß ein junges Mädchen aus der Nachbarwohnung herbeistürzte, um zu sehen, was ihr fehlte. Dieses Mädchen war die Tochter eines jüdischen Agenten, Stadtreisenden für eine Zwirnfabrik; Ruth Hofmann war ihr Name. Sie war etwa sechzehn Jahre alt, hatte tiefgraue Augen und aschblondes Haar, das lose bis zur Schulter hing, wo es gleichmäßig abgeschnitten war und kleine Versuche machte, sich zu ringeln.

Die Schirmacher hatte in der Eile die Wohnungstür offengelassen, und Ruth Hofmann konnte ins Zimmer gelangen. Ihr blasses Gesicht wurde noch blasser beim Anblick der schreienden und sich krümmenden Karen; sie hatte niemals eine Kreisende gesehen, trotzdem packte sie das leidende Weib bei den Händen, hielt sie ununterbrochen fest und redete ihr herzlich und mit erstickter Stimme zu, bis die berufene Helferin eintraf.

Als Christian kam, stand eine Wiege mit einer unsäglich häßlichen, in Kissen gebetteten Kreatur neben Karens Bett. Karen stillte das Kind an der Brust. Von Mutterglück war nichts an ihr zu bemerken. In der Art, wie sie den Säugling behandelte, lag finstere Geringschätzung. Wenn er greinte, mußte ihn Isolde Schirmacher auf den Arm nehmen. Geruch von Windelwäsche erfüllte die Zimmer.

Am zweiten Tag erhob sich Karen und ging wieder herum. Als Christian am Abend kam, war die Witwe Engelschall und Ruth Hofmann da. Die Witwe Engelschall sagte, sie wolle das Kind zu sich nehmen. Karen schwieg und warf einen unsichern Blick auf Christian. Die Witwe Engelschall sagte laut: »Fünftausend Mark für die Verpflegung, und alles ist in schönster Ordnung. Die Hauptsache ist, daß du Ruhe hast, und Ruhe hast du dann.«

»Von mir aus kannst du tun, was du willst,« erwiderte Karen mürrisch.

»Was meinen Sie, Herr Christian?« wandte sich die Witwe Engelschall an diesen.

Christian antwortete: »Das Kind soll bei seiner Mutter bleiben, scheint mir.«

Karen lachte trocken; auch die Witwe Engelschall lachte. Ruth Hofmann erhob sich. Christian fragte sie höflich, ob sie ein Anliegen habe. Sie schüttelte den Kopf, daß die Haare sich nach rechts und links bewegten. Plötzlich reichte sie ihm die Hand. Es dünkte Christian, als kenne er sie seit langem.

Er hatte Karen mitgeteilt, daß er verreisen wolle; doch verschob er den Tag der Abreise um eine Woche.

13

Das Haus ging zur Ruhe. Rolläden schnarrten auf der Straße. Burschen pfiffen gellend. Das Tor fiel dröhnend ins Schloß. Von hundert Schritten oben und unten zitterten die Wände. Im Hof wurde eine Kiste zugehämmert. Irgendwo sang eine Stimme mißtönend. Aus Bierwirtschaften und Destillen drang Lärm herauf. Über der Decke war wieherndes Gelächter.

Christian öffnete das Fenster. Es war warm. Gruppen von Arbeitern kamen aus der Malmöer Straße und verteilten sich. An der Ecke war ein Grünzeuggeschäft; davor stand ein altes Weib mit einem Korb ohne Deckel. In dem Korb lag schmutziges Gemüse und ein totes Huhn mit blutigem Hals. Christian sah es, weil der Schein einer Laterne darauf fiel.

»Für viertausend nimmt sie das Kind,« sagte Karen.

Christian warf einen verstohlenen Blick in die Wiege. Die Kreatur zog ihn an, stieß ihn ab. »Behalt es nur,« sagte er.

Aus der Nachbarwohnung schallten dumpfe Laute. Der Agent Hofmann war heimgekehrt. Er sprach; eine Knabenstimme antwortete hell.

Die Uhr tickte. Die verworrenen Lebensäußerungen des Hauses erstarben zu einem Summen.

Karen setzte sich an den Tisch und reihte Glasperlen auf eine Schnur. Ihr Haar war in der letzten Zeit noch struppiger und gelber geworden; ihre Züge aber hatten straffere Modellierung als früher. Das Gesicht, ohne entstellende Gedunsenheit, war schmaler und zeigte reinere Farben.

Sie sah Christian an, und einen Moment lang hatte sie ein fast irres Gefühl: sie sehnte sich nach Sehnsucht. Es war wie das Erglimmen eines Funkens in einem erloschenen Kohlenmeiler.

Der Funke glomm auf und verglomm wieder.

»Du wolltest mir von Hilde Karstens und deinem Ziehvater erzählen, Karen,« bat Christian; »du hast es versprochen.«

»Laß mich um Gottes willen! Es ist zu lang her, ich kann mich nicht erinnern.« Sie wimmerte die Worte fast. Den Kopf zwischen den Händen, stützte sie die Arme auf die Knie. Immer saß sie, wie man in Kneipen sitzt, prahlerisch lasziv.

Es vergingen Minuten. Christian setzte sich an den Tisch, ihr gegenüber. »Ich wills weggeben, das Bankert,« sagte sie trotzig. »Ich kanns nicht ansehen. Rück heraus mit den Viertausend, damit es weg ist. Ich kanns und kanns nicht ansehen.«

»Es geht zugrunde; es wird krank und stirbt,« sagte Christian.

Ein halb gemeines, halb düsteres Grinsen flog über ihre Züge. Dann wurde das Gesicht fahl: da war es wieder, das unheimliche Spiegelwesen; weither kam es, vom Ende des Schachtes. Da sie schauderte, glaubte Christian, ihr sei kalt. Er holte einen Schal und umhüllte sie damit. Seine Bewegungen hierbei hatten etwas ganz besonders Ritterliches. Karen verlangte eine Zigarette. Sie rauchte mit geübten Gesten; auch in der Art, wie sie die Zigarette hielt, den Rauch in der offenen Mundhöhle wälzte oder aus gespitzten Lippen blies, lag etwas Laszives.

Wieder verrann Zeit. Sichtlich rang sie mit einem Geständnis. Ihre hadernden Finger zerdrückten eine der Glasperlen auf dem Tisch.

Auf einmal begann sie: »Viele werden überhaupt nicht geboren. Vielleicht hätte man die lieb. Vielleicht werden bloß die schlechten aufgeweckt, und die guten sind einem nicht vergönnt, weil man selber zu schlecht ist. Wie ich klein war, trug ein Junge sieben Kätzchen in einem Sack zum Weiher. Ich stand dabei, wie er sie ins Wasser schüttete. Sie zappelten erbärmlich und wollten aufs Trockene. Tauchten auf und unter, wollten ans Land. Aber jedem, das aus dem Wasser tauchte, versetzte der Junge eins mit nem Baumast über den Kopf. Sechs ersoffen, und bloß das häßlichste kroch unter einen Busch und kam davon. Die andern, die waren zierlich und hübsch, die ersoffen.«

»Du blutest ja,« sagte Christian. Sie hatte sich beim Zerdrücken der Glasperle verletzt. Christian wischte das Blut mit seinem Taschentuch ab. Sie ließ ihn gewähren; ihr Blick klammerte sich an herzudringende und wieder zurückweichende Bilder. Christian wagte kaum zu atmen vor Spannung. Um seine Lippen schwebte das eigentümlich zweideutige Lächeln, das immer über den Grad seiner Teilnahme täuschen wollte.

Er sagte leise: »Jetzt hast du was Bestimmtes im Sinn, Karen.«

»Ja, ich hab was im Sinn,« gab sie zu und wurde entsetzlich bleich. »Du wolltest es ja wissen, das mit Hilde Karstens und dem Drechsler. Der Drechsler war der, mit dem meine Mutter damals lebte. Hilde war fünfzehn, ich dreizehn. Wir steckten Tag und Nacht beisammen, einmal sogar nachts auf den Dünen, als die Sturmflut kam. Die Mannsleute waren scharf hinter ihr her; sie war ein feines Ding. Aber sie lachte alle aus. Sie sagte: Wenn ich achtzehn bin, will ich heiraten, einen, der was ist und was kann; bis dahin laßt mich zufrieden. Bei dem Tanzfest im Hösinger Krug war ich nicht dabei, mußte Mutter helfen beim Fischepökeln. Da passierte das Unglück. Wie Hilde Karstens allein bis an die Heidegräber gekommen ist, konnt ich nie erfahren. Möglich, sie ist gutwillig mit dem Steuermannsmaat gegangen. Ein Steuermannsmaat wars; weiter wußte man nichts von ihm; im Krug war er zum erstenmal, nachher natürlich ließ er sich nimmer blicken. Bei den Heidegräbern muß er ihr Gewalt angetan haben, sonst wär sie nicht ins Meer gegangen. Ich kannte Hilde Karstens; da gabs bei ihr keinen Spaß. Am Abend schwemmten die Wellen ihre Leiche an den Strand. Ich war dabei. Ich warf mich hin und krallte meine Finger ins nasse tote Haar. Sie rissen mich weg, ich warf mich wieder hin. Drei Männer mußten mich fortbringen. Mutter sperrte mich ein, und ich sollte Linsen lesen. Aber ich sprang aus dem Fenster und rannte zu Hildes Haus; es hieß, sie sei schon begraben. Ich rannte auf den Kirchhof und suchte das Grab. Der Totengräber wies es mir; im Kirchhofswinkel war sie verscharrt. Sie suchten mich die ganze Nacht und fanden mich auf dem Grab und zerrten mich heim, das halbe Dorf hinter mir her. Weil ich mich aber vom Linsenlesen davongemacht hatte, schlug mich meine Mutter mit einem Schaufelstiel, daß die Haut vom Fleische sprang und daß ich das Schreien vergaß. Und wie ich dalag und mich nicht rühren konnte, ging sie zum Schullehrer, und sie schrieben einen Brief an die Gutsherrschaft, ob ich nicht als Jungmagd eintreten könnte. Da kam der Drechsler in die Küche, wo ich lag, und er war betrunken wie 'n Igel und sah mich am Herde liegen, und guckte und guckte. Dann hob er mich auf und trug mich in die Kammer.«

Sie stockte, sah sich um wie in einem fremden Raum, maß Christian wild wie einen fremden Menschen, der droht.

»Er riß mir die Kleider herunter, die Röcke, das Leibchen, das Hemd, alles riß er mir vom Leibe, und seine Hände zitterten, und in seinen Augen war ein Funkeln, wie wenn Spiritus brennt. Wie ich nun nackend vor ihm lag, da streichelte er mich mit seinen zitternden Händen, den Hals und die Schultern und die Brust und den Bauch und die Schenkel streichelte er; immerfort, immerfort; mir war, als müßt ich ihm das Hirn aus dem Schädel kratzen, aber machen konnt ich nichts, die Glieder waren mir gelähmt, der Kopf bleischwer. Und wenn ich so alt werde wie ein Baum, das Gesicht von dem Drechsler, wie er so mit mir verfuhr, werd ich nicht vergessen. Das kann eins nicht vergessen, das ist nicht menschenmöglich. Und sobald ich mich erst regen konnte, taumelte er in die Ecke und schlug lang hin, und in der Kammer wars finster.« Sie atmete tief auf. »So war das. So hats angefangen.«

Christian wandte nicht für eines Gedankens Dauer die Augen von ihr.

Sie fuhr fort: »Deern, was blickst du frech! sagten nachher die Leute. Na ja, ich blickte eben frech. Konnt es nicht jedem an die Nase binden, warum. Der Pastor salbaderte mir was vor von Schandfleck und Inmichgehen. Hat mich einen Lacher gekostet. Als ich aufs Gut in Dienst kam, gönnten sie mir kaum das Fressen. Mußte Kinder warten, Wasser schleppen, Stiefel putzen, Stuben räumen, die Madam bedienen. Ein Inspektor war da, der lauerte mir auf. Ein Kerl mit Triefaugen und ner Hasenscharte. Mal komme ich nachts in meine Kammer, steht er vor mir, faßt mich an. Ich nehm einen Steinkrug und zerschlag ihn an seinem Kopf. Er brüllt wie 'n Stier, alles rennt herbei, Knechte, Mägde, die Madam, der Herr, alles schreit durcheinander, der Mensch lügt ihnen was, auf der Stelle marschierst, hieß es. Weshalb denn nicht, dacht ich, schnürte mein Bündel und ging noch in selbiger Nacht. Ging und schlich am andern Abend zurück; Unterkunft hatt ich keine; schlich um den Hof und das Haus, nicht müde, nicht hungrig, wollte bloß vergelten, was sie mir angetan. Feuer machen wollt ich, alles anzünden, vergelten das Unrecht. Traute mich aber nicht, trieb mich drei Tage herum in der Gegend, nachts immer wieder dorthin; konnte nicht schlafen, konnte einfach nicht, sah nur das Feuer, das ich anzünden wollte, Haus und Ställe lichterloh, wie das Vieh verbrannte, das Heu flackte, die Balken rauchten, die Hunde an der Kette zerrten. Hörte schon das Gewinsel von ihnen, von den Kindern, die mich so geplagt, der Madam, die im Seidenkleid unterm Christbaum gestanden und alle beschenkt hatte, bloß mich nicht. Ei ja doch, drei Äpfel und ne Handvoll Nüsse hatt ich gekriegt und dann: hinaus mit dir und wasch die Strümpfe von Anne-Marie. Schließlich fiel ich doch von Kräften, wie ich da so herumflunderte und die Gelegenheit suchte. Der Gendarm griff mich auf und wollt mich ins Verhör nehmen, aber ich brach ihm zusammen, da konnt er lang fragen. Hätt ich doch das Feuer gelegt damals, alles wär anders gekommen, und ich hätte nicht mit dem Kapitän gehen müssen, als die Mutter mich wieder unter die Fuchtel bekam. Bloß wegen dem blauen Samtkleid und den schäbigen Lackschuhen hab ich mich von ihm beschwatzen lassen, und was er heimlich mit der Mutter zu verhandeln hatte, da hört ich gar nicht erst hin.«

Sie schob mit dem ganzen Körper den Stuhl ein wenig zurück, beugte sich weit vor und stützte die Stirn auf den Rand des Tisches. »O je,« sagte sie in grauenhafter Versunkenheit, »o je! wenn ich das Feuer gelegt hätte, hätt ich nicht so viel hinunterwürgen müssen! Hätt ichs nur getan! Gut wärs gewesen!«

Lautlos schaute Christian auf sie nieder. Dann drückte er die Hand vor die Augen, und die Blässe des Gesichts strömte auf die Hand über.

14

Während der Fahrt zwischen Basel und Genf erfuhr Christian durch Mitreisende von einem Attentat, das in Lausanne auf Iwan Michailowitsch Becker verübt worden war. Eine Studentin, Sonja Granoffska, hatte einen Revolverschuß gegen ihn abgefeuert.

Christian wußte nichts von den Begebenheiten, die dem zugrunde lagen. Er las weder Zeitungen, noch kümmerte er sich um öffentliche Vorgänge. Doch fragte er jetzt, und man erzählte ihm, wovon alle Welt sprach.

Der Pariser Matin hatte eine Reihe aufsehenerregender Artikel gebracht, die von sämtlichen europäischen Blättern nachgedruckt und glossiert wurden. Sie rührten von einem gewissen Jegor Ulitsch her und bestanden in Enthüllungen über die russische Revolution, das revolutionäre Auslandskomitee und die Partei der Terroristen. Der Kreis, den sie zogen, war so weit, daß sie in dem Prozeß gegen den Arbeiterdelegierten Trotzki, der zu dieser Zeit in Petersburg stattfand, das Anklagematerial verstärkten und zur Verurteilung wesentlich beitrugen.

Jegor Ulitsch blieb im Dunkeln. Die Eingeweihten behaupteten, er existiere in Wirklichkeit gar nicht, sondern der Name sei die Maske eines Verräters. Der Gaulois und das Genfer Journal erschienen mit geharnischten Angriffen gegen den Unbekannten. Ulitsch blieb die Antwort nicht schuldig. Zu seiner Rechtfertigung veröffentlichte er Briefe und geheime Dokumente, die für mehrere Führer der Freiheitsbewegung verhängnisvoll wurden.

Mit wachsender Bestimmtheit wurde Becker als Verfasser der Matin-Artikel genannt. Auch die Zeitungen wiesen darauf hin und hatten täglich Neues über ihn zu berichten: daß er während des Streiks der Marseiller Hafenarbeiter im Gewande eines russischen Popen bei einer Versammlung erschienen sei; daß er an die Zarin einen demütigen Brief gerichtet habe; daß er als ein Geächteter von Land zu Land fliehe; daß es ihm gelungen sei, zwischen der russischen Polizei und den im Exil lebenden Russen zu vermitteln, und daß infolgedessen die vor dem Zarenthron zeternden und ihm in allem sklavisch gefügigen Westmächte sich entschlossen hätten, ihr drakonisches Überwachungssystem zu mildern.

Sein Gesicht war rätselhaft. Es war ein doppeltes, ein vielfaches. Seine Figur, das bloße Wissen um sein Dasein und Wirken beunruhigten.

Und Christian suchte ihn. Er suchte ihn in Genf, in Lausanne, in Nizza, in Marseille, zuletzt führten ihn die Spuren nach Zürich. Dort traf er zufällig den Staatsrat Koch, der ihn mit mehreren Russen bekannt machte. Diese gaben ihm Beckers Adresse.

15

Ich habe Sie nicht aus den Augen verloren,« sagte Becker; »Alexander Wiguniewski schrieb mir von Ihnen und daß Sie sich veränderte Umstände geschaffen hätten. Seine Andeutungen klangen konfus. Ich beauftragte Freunde in Berlin, sich nach Ihnen zu erkundigen. Da hörte ich dann Genaueres«

Sie saßen in einer Weinstube im Limmatviertel. Sie waren die einzigen Gäste. Von der verräucherten Decke hing ein Hirschgeweih herab, an dem die Glühbirnen malerisch befestigt waren.

Becker trug eine hochgeschlossene dunkle Litewka. Er sah ärmlich und leidend aus. Sein Wesen hatte eine unbezeichenbare Flüchtigkeit. Manchmal breitete sich eine traurige Ruhe über seine Züge, ähnlich der Ruhe über den Wellen, wenn ein Schiff versunken ist. In Momenten des Schweigens vergrößerte sich sein Gesicht, und er blickte vor sich hin, in eine Leere außen, in eine Flamme innen.

»Stehen Sie noch in Verbindung mit Wiguniewski und den . . . andern?« erkundigte sich Christian mit einer zarten Entschuldigung im Blick für sein sich gleichbleibendes unpersönliches Benehmen.

Becker schüttelte den Kopf. »Die früheren Freunde haben sich von mir abgewandt,« erwiderte er. »Innerlich bin ich noch immer mit ihnen verwachsen, aber ich teile ihre Anschauungen nicht mehr.«

»Muß man denn unbedingt die Anschauungen seiner Freunde teilen?« warf Christian ein.

»Insofern sie sich auf das Lebensziel beziehen, gewiß. Es hängt auch von dem Grad der Liebe ab. Ich habe versucht, sie für mich zu gewinnen, doch fehlte mir die dazu nötige Spannkraft. Sie verstehen es einfach nicht. Und jetzt meldet sich das Bedürfnis, einen Menschen aufzurütteln und zu erwecken, nur dann bei mir, wenn er seine Torheit in polemische Form kleidet oder wenn ich mich ihm so nahe fühle, daß jede Dissonanz mir den Frieden raubt und das Herz bedrückt.«

Christian achtete weniger auf den Sinn der Worte als auf den ihn bezaubernden Tonfall, die Weichheit der Stimme, den eindringlichen und trotzdem verlorenen Blick, die krankhaft leidenden Züge. Er dachte: Alles, was sie über ihn sprechen, ist Lüge. Vertrauen erfüllte ihn.


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