Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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8

Sobald Christian seinen gegenwärtigen Zustand überdenken wollte, ergriff ihn Verwirrung.

Es war in seiner Brust ein leerer Raum, in den von außen nichts einströmen konnte; er war von einem zu engen Panzer umschnürt, der ihn an freier Beweglichkeit hinderte. Er trachtete danach, den leeren Raum zu füllen und den Panzer zu sprengen.

Seine Mutter sagte besorgt: »Du hast ein hageres Gesicht bekommen, Christian; fehlt dir etwas?« Er versicherte, daß ihm nicht das geringste fehle. Aber sie war nicht beruhigt. »Was ist mit Christian los?« erkundigte sie sich bei Crammon, »er ist so still und blaß.«

Crammon antwortete: »Gnädigste Frau, so ist eben seine Form. Es sind die Erlebnisse, die sein Gesicht zurechtgeschnitzt haben. Ist es nicht edler und stolzer geworden? Fürchten Sie nichts, er geht fest und verläßlich seinen Weg. Und so lange ich da bin, wird ihm nichts Übles geschehen.«

Frau Richberta, im Zweifel noch und in ihrer matten Art gerührt, reichte ihm die Hand.

Crammon sagte zu Christian: »Die Gräfin hat einen Fang gemacht. Ein überseeisches Exemplar; so mußte es kommen.«

»Gefällt dir der Mann?« fragte Christian unsicher.

»Da sei Gott vor, daß ich Schlechtes von ihm denken sollte,« entgegnete Crammon heuchlerisch; »er ist von so weit her und geht wieder so weit fort, daß er mir unbedingt sympathisch ist. Nimmt er das Kind, die Lätizia, mit, so begleiten sie meine Segenswünsche. Ob es ihr zum Heil gereichen wird, darüber kann ich mir den Kopf nicht zerbrechen. So große Entfernungen haben auf jeden Fall etwas Kalmierendes. Argentinien, Rio de la Plata, ich bitte dich; es sind so unbekannte Gegenden, daß sie für mich ebensogut auf dem Mond liegen könnten.«

Christian lachte, aber dabei zerfloß die vor ihm stehende Gestalt Crammons zu einem Nebel, und was er noch hatte sagen wollen, unterdrückte er.

Dreiundzwanzig Fremdenzimmer waren besetzt; Leute kamen an, Leute reisten ab. Kaum hatte man ein Gesicht festgehalten, so entschwand es wieder. Damen und Herren, die sich gestern kennengelernt hatten, bewegten sich heute mit freier Vertraulichkeit gegeneinander und sagten sich am nächsten Tag Lebewohl für immer. Ein Herr von Wedderkampf, Geschäftsfreund des Herrn Wahnschaffe, hatte seine vier Töchter im Gefolge. Das Fräulein von Einsiedel traf Anstalten, den ganzen Winter zu bleiben, da ihre Eltern im Scheidungsprozeß lagen. Wolfgang, der die Ferien zu Hause verlebte, hatte drei Studienfreunde mitgebracht.

Diese alle waren gehobener Laune, schmiedeten umständliche Pläne, sich die Zeit zu vertreiben, schrieben Briefe, empfingen Briefe, tafelten, liebelten, musizierten, waren aufgeregt und neugierig, witzig und vergnügungssüchtig, spannen ihre Geschäfte von draußen weiter und gaben sich den Anschein der Freundlichkeit, der Harmlosigkeit und der Sorglosigkeit.

Livrierte Diener liefen treppauf, treppab, Glockensignale ertönten, Automobile tuteten, Tische wurden gedeckt, Lampen strahlten, Geschmeide funkelte, hinter jener Tür wurde geschäkert, hinter dieser medisiert, in der Halle mit den schönen Marmorsäulen saßen lächelnde Paare; es war eine Welt, die sich wohl unterschied von den modernen Zufallszirkeln an Orten, wo man zahlt; voll verbindlichen Lebens, voll von heimlichen Einverständnissen und geselligen Reizen.

Lätizia war mit ihrer Tante für eine Woche nach München gefahren. Erst am dritten Tag nach Christians Ankunft kehrte sie zurück. Christian war froh, sie zu sehen. Aber er konnte sich nicht zu einem Gespräch mit ihr entschließen.

9

Eines Morgens saß er mit seinem Vater beim Frühstück. Er wunderte sich, wie fremd ihm dieser Mann mit den weißen, gescheitelten Haaren war, mit dem elegant geschnittenen, in der Mitte geteilten Bart und der rosigen Färbung des Gesichts.

Herr Wahnschaffe behandelte ihn mit großer Höflichkeit. Er erkundigte sich nach den Beziehungen, die Christian in England angeknüpft, und versah die kargen Antworten des Sohnes mit lehrhaften Bemerkungen über Personen und Verhältnisse. »Es ist gut, wenn wir Deutsche dort drüben Boden gewinnen,« sagte er, »es ist nützlich und notwendig.«

Er sprach über die drohenden politischen Wolken und äußerte sich mißbilligend über die Haltung Deutschlands beim Abschluß des Marokkovertrags. Da Christian hiezu teilnahmslos und unwissend schwieg, wurde er sichtlich kühler, nahm die Zeitung und begann zu lesen.

Wie fremd er mir ist, dachte Christian und suchte einen Vorwand, aufzustehen und fortzugehen. Da trat Wolfgang an den Tisch und sprach von den Ergebnissen des Rennens in Baden-Baden. Seine Stimme war Christian nicht angenehm, und er ging weg.

Es geschah, daß er mit Judith in der Bibliothek saß und sie ihn neckend über Lätizia zur Rede stellte. Lätizia und Crammon traten plaudernd herein. Felix Imhof gesellte sich zu ihnen, Lätizia nahm ein Buch, und man merkte, daß sie bemüht war, nicht in die Richtung zu blicken, wo Christian war. Dann verließen alle drei den Raum wieder. Judith sagte: »Sie begeht vielleicht eine Dummheit.« Und sie lauschte erblassend, weil sie ein Kompliment aufgefangen hatte, das Imhof Lätizia gemacht. »Warum bist du so still?« wandte sie sich stirnrunzelnd an den Bruder und legte die Hände gefaltet auf seine Schulter; »wir sind alle lustig und guter Dinge, aber du bist ganz verändert. Bist du denn nicht gern wieder bei uns? Ist es nicht schön zu Hause? Und wenns dir nicht gefällt, kannst du nicht jede Stunde wieder gehen? Warum bist du verstimmt?«

»Ich weiß nichts davon; ich bin nicht verstimmt,« antwortete Christian, »man kann ja nicht immer lachen.«

»Bis zu meiner Hochzeit wirst du doch bleiben,« fuhr Judith mit hochgezogenen Brauen fort; »ich wäre dir sonst ewig gram.« Und als Christian nickte, sagte sie freundlich drängend: »Sprich doch einmal mit mir, du Unliebenswürdiger. Frag mich doch etwas.«

Christian lächelte. »Also will ich dich etwas fragen,« versetzte er; »bist du zufrieden, Judith? ist dein Herz zufrieden?«

»So mit der Tür ins Haus zu fallen,« lachte Judith; »du warst nie so plump.« Kopf und Leib vorgebeugt, die Ellbogen auf den Knien, spreizte sie die Finger aus und sagte: »Wir Wahnschaffes können nicht zufrieden sein. Es ist alles so wenig, was man hat, es ist so viel, was man nicht hat. Ich fürchte, es wird eine rechte Fru Ilsebill aus mir. Oder ich fürcht es nicht, nein; ich freue mich darauf, den Fischer immer wieder zum Fisch an die See zu schicken, immer wieder. Da weiß man doch dann, was er wagt.«

Christian betrachtete seine schöne Schwester, und er hörte ihre verwegenen Worte. Alles erschien ihm verwegen an ihr. Die Gebärde, die Worte, der helle Kehlton der Stimme und der Glanz ihrer Augen. Es fiel ihm ein, daß er eines Abends neben Eva Sorel gesessen war, so nahe, wie er jetzt neben Judith saß. Er hatte mit stummem Entzücken ihre Hände angesehen, da hatte sie die linke Hand gegen das Licht gehalten, und obgleich die Durchleuchtung des rosig glühenden Fleisches die vollendete Form noch edler hervortreten ließ, hatte man doch die dunklen Schatten des Knochengefüges darin bemerkt. Und Eva hatte gesagt: »Sieh, Eidolon, der Kern weiß nichts von Schönheit.«

Christian stand auf und fragte, beinah traurig: »Wenn du weißt, was er wagt, weißt du darum schon, was du gewinnst?«

Judith blickte verwundert zu ihm empor, und ihr Gesicht verfinsterte sich.

10

Es geschah dann, daß er ins Zimmer seiner Mutter kam und sie nicht darin fand. Er näherte sich der Tür, die zu ihrem Schlafgemach führte, und pochte. Als keine Antwort erfolgte, öffnete er. Sie war auch in diesem Zimmer nicht. Sich umschauend, gewahrte er ein braunes Seidenkleid, mit Spitzen geschmückt, das Frau Richberta gehörte und das über einem Rohrmodell hing. Einen Augenblick hatte er den Eindruck, als stehe die Mutter vor ihm, jedoch ohne Kopf.

Er verfiel in Sinnen, und sein Gedanke war, genau wie dem Vater gegenüber: wie fremd ist sie mir. Das Kleid, das nur Hülle über einem Rohrgeflecht war, wurde ihm zu einem Bild der Mutter, an welchem er sie besser erkannte als am lebendigen Leib.

Das Undurchdringliche und Unaufschließbare; die starre Haltung, die hoffnungslose Miene, das trübe Auge, die brüchige Stimme ohne Hall, das Wesen ohne Freude. Sie, in deren Haus sich alle vergnügten, deren ganzes Tun und Sein anscheinend nur darauf abzielte, andern die Gelegenheit zum Vergnügen zu bereiten, ermangelte ganz und gar der Freude.

Aber sie hatte die schönsten Perlen, die es in Europa gab, und jedermann wußte, würdigte und rühmte dies.

Die Selbsttäuschung Christians ging so weit, daß er im Begriffe war, das Kleid über dem Gestell anzureden, vertraulicher vielleicht, als er je die Mutter angeredet hatte. Eine Frage drängte sich ihm auf die Lippen, ein zartes, heiteres Wort. Da vernahm er ihre Schritte, wandte sich um und erschrak. Er glaubte eine Doppelgängerin zu sehen.

Sie wunderte sich nicht, daß sie ihn hier traf. Sie wunderte sich selten. Sie setzte sich auf einen Stuhl und starrte leer vor sich hin.

Sie sprach über Imhof, der einen seiner Freunde im Hause eingeführt hatte, einen Juden. Sie äußerte sich mißbilligend über den Verkehr mit Juden im allgemeinen. Auch Wahnschaffe, sie nannte ihren Gatten stets so, sei derselben Meinung.

Sie mißbilligte Judiths Verlobung. »Auch Wahnschaffe ist im Grunde gegen diese Ehe,« sagte sie; »doch ein Vorwand, den Bewerber abzuweisen, bot sich schwer. Wenn Judith einmal will, – du weißt es ja, du kennst sie. Ich fürchte, ihr Hauptbestreben war dabei, ihrer Freundin Lätizia zuvorzukommen.«

Christian blickte überrascht empor. Frau Richberta beachtete es nicht und fuhr fort: »Imhof erscheint mir bei allen seinen guten Eigenschaften nicht verläßlich. Er ist ein Hazardeur, ein unruhiger Kopf, ein wetterwendischer Charakter. Von den zehn Millionen, die ihm sein Adoptivvater hinterlassen hat, sind schon fünf oder sechs verspielt und vertan. Wie beurteilst denn du ihn?«

»Ich habe noch nicht über ihn nachgedacht,« antwortete Christian, den dieses Gespräch zu langweilen begann.

»Auch ist er ja von dunkler Herkunft. Er war ein Findelkind, und der alte Martin Imhof, den Wahnschaffe übrigens kannte und der einer der ersten Düsseldorfer Patrizierfamilien angehörte, soll ihn unter merkwürdigen Umständen zu sich genommen haben. Er war Junggeselle, Misanthrop, wie es heißt, stand schließlich allein in der Welt und liebte das Zufallskind abgöttisch. Wußtest du das nicht?«

»Ich habe davon reden gehört,« sagte Christian.

»Nun erzähle mir etwas von dir, mein Sohn,« bat Frau Richberta mit veränderter Miene und dem Lächeln einer Leidenden.

Aber Christian schwieg. Seine Welt und der Mutter Welt, er sah keine Brücke mehr dazwischen. Und während diese Erkenntnis über ihn kam, wurde ihm noch etwas andres klar. Auch zwischen der Welt, in der er wissentlich lebte, und einer zweiten, die hinter ihr lag, nebelhaft und drohend, lockend und schrecklich, die er nicht begriff, nicht kannte, kaum ahnte, die bloß ein im Blitzesleuchten aufgetauchtes Gesicht war, ein Traum, ein flüchtiger Schauder, gab es keine Brücke.

Er küßte der Mutter die Hand und eilte hinweg.

11

Trotz rieselnden Regens ging er, in der Dämmerung, mit Lätizia durch den Park. Sie wanderten den Pfad von den Gewächshäusern bis zum Pavillon oftmals auf und ab und hörten vom Hause her Klavierspiel. Es war das Fräulein von Einsiedel, welches spielte.

Im Anfang hatte das Gespräch lange Pausen. Nimm mich, nimm mich, flehte etwas in Lätizia, und Christian, der es wohl verstand, hatte sein hochmütiges Lächeln, wagte aber nicht, sie anzublicken.

»Musik von weitem hab ich gern,« sagte Lätizia; »und Sie, Christian, mögen Sie es nicht?«

Er zog seinen Regenmantel fester zu und antwortete: »Ich mache mir nichts aus Musik.«

»Dann haben Sie ein schlechtes Herz, ein hartes wenigstens.«

»Möglich, daß ich ein schlechtes Herz habe; ein hartes ganz gewiß.«

Lätizia fragte errötend: »Was lieben Sie eigentlich? Von Dingen, meine ich. Was für Dinge lieben Sie?« Der schelmische Ausdruck ihres Gesichts gab doch dem Ernste Raum, der in der Frage enthalten war.

»Was ich liebe?« wiederholte er gedehnt, »von Dingen liebe? Ich weiß es nicht. Liebt man Dinge? Dinge braucht man, das ist alles.«

»O nein,« rief Lätizia, und ihre tiefe Stimme erzeugte eine eigentümliche Wärme in Christian, »o nein. Dinge sind da zum Lieben. Zum Beispiel Blumen und Sterne. Das sind Dinge zum Lieben. Hör ich ein schönes Lied, seh ich ein schönes Bild, so ruft es gleich in mir: mein! mein! meine Sache!«

»Auch wenn ein Vogel plötzlich aus der Luft fällt?« wandte Christian zaudernd ein, »herunterfällt und stirbt, wie es manchmal geschieht –? Auch wenn ein erschossenes Reh vor Ihnen liegt?«

Lätizia verstummte und schaute ihn ängstlich an. Unendlich wohltuend berührte ihn der Blick ihres Auges. Nimm mich, nimm mich, flehte es von ihr zu ihm. »Das sind ja keine Dinge, das sind Wesen,« sagte sie leise.

»Ihre Sache, das glaub ich,« fuhr er fort, und seine Stimme klang sanfter als bisher. »Ihre Sache ist alles, was duftet und was glänzt, was schmückt und was ergötzt. Das ist Ihre Sache, Lätizia. Was ist aber meine Sache?« Er blieb stehen. »Ja, was ist meine Sache?« fragte er noch einmal mit einem Ausdruck innerlicher Not, der erschütternd auf Lätizia wirkte. Sie hatte ein solches Wort, in solchem Ton gesprochen, nicht von ihm erwartet.

Du hast mich einst geküßt, erinnerte ihn ihr Blick, denk daran, du hast mich geküßt.

»Wann wird Hochzeit sein?« fragte er jetzt und zwinkerte ein bißchen mit den Lidern.

»Ich weiß es nicht genau, vorläufig sind wir noch gar nicht formell verlobt,« erwiderte Lätizia lachend. »Er hat erklärt, daß ich seine Frau werden müßte, und dagegen gibts keinen Widerspruch bei ihm. Zu Weihnachten kommt meine Mutter nach Heidelberg, und dann wird die Hochzeit sein. Ich freue mich auf die Meerfahrt und auf das fremde Land.« Nimm mich, nimm mich doch, flehte es ungestüm aus ihren leuchtenden Augen, nimm mich, ich sehne mich. »Wie gefällt Ihnen Stephan?« erkundigte sie sich mit koketter Drehung des Hauptes.

Er blieb die Antwort schuldig. »Es beobachtet uns jemand vom Hause her,« sagte er leise.

Lätizia flüsterte: »Er gönnt mich nicht dem Erdboden und der Luft.« Da es stärker zu regnen anfing, lenkten sie ihre Schritte gegen das Haus. Und Christian fühlte, daß er sie liebte.

Eine Stunde später betrat er den Spielsalon. Imhof, Crammon, Wolfgang und Stephan Gunderam saßen um einen runden Tisch und spielten Poker. Jeder verhielt sich nach seiner Art; Imhof überlegen und viel redend; Crammon zerstreut und düster; Wolfgang mißtrauisch und erregt. Gunderam zuckte mit keiner Miene; dem Spiel überliefert, saß er da, wie ein Schläfer dem Schlaf. Er hatte beständig gewonnen, ein Berg von Scheinen und Goldstücken war vor ihm aufgehäuft.

Crammon und Imhof rückten auseinander, damit Christian zwischen ihnen Platz nehmen sollte. Da sprang Stephan Gunderam von seinem Stuhl empor. Die Karten in der Hand haltend, starrte er Christian mit hassendem Blick an.

Christian betrachtete ihn mit Verwunderung. Als sich die andern drei, einigermaßen erschrocken, gleichfalls erheben wollten, ließ sich Gunderam wieder auf seinen Stuhl sinken und sagte barsch und finster: »Spielen wir weiter. Ich bitte um vier neue Karten.«

Christian entfernte sich von dem Tisch. Er fühlte, daß er Lätizia liebte. Sein ganzes Herz liebte sie, zärtlich und sehnsüchtig.

12

Ein entlassener Arbeiter hatte eines Abends dem aus der Stadt zurückkehrenden Automobil des Herrn Albrecht Wahnschaffe aufgelauert. Als der Wagen am Parktor langsamer fuhr, hatte der Mensch aus meuchlerischem Hinterhalt, von Gebüschen gedeckt, einen Revolver auf den ehemaligen Brotherrn abgedrückt.

Der Schuß streifte nur den Arm des Überfallenen. Die Verletzung war leicht, doch Albrecht Wahnschaffe hütete mehrere Tage lang das Bett. Nach verübter Tat war der Verbrecher im Dunkel des Abends entflohen; erst am andern Morgen gelang es der Polizei, ihn festzunehmen.

Dieses Ereignis, so unbeträchtlich seine Folgen waren, hatte das fröhliche Treiben im Hause Wahnschaffe für eine Weile gestört. Einige Personen reisten ab; so Herr von Wedderkampf, der zu seinen Töchtern sagte, der Boden unter den Füßen sei ihm hier zu heiß.

Aber am dritten Abend wurde schon wieder getanzt.

Christian wunderte sich darüber. Er wunderte sich über das rasche Vergessen. Er wunderte sich über den Gleichmut der Mutter, über die Unbekümmertheit von Bruder und Schwester.

Er wollte den Namen jenes Arbeiters erfahren, aber niemand wußte ihn. Der eine sagte, er heiße Müller, der andre sagte, er heiße Schmidt. Er wunderte sich darüber. Auch der Beweggrund, der den Mann zu seiner Tat getrieben, war keinem genau bekannt. Der eine sagte, es sei Rachsucht gewesen, Frucht systematisch geschürten Klassenhasses; der andre sagte, nur ein Irrsinniger sei zu solcher Tat fähig.

Mochte es sich so verhalten oder so, der Schuß aus dem Hinterhalt, von einem Unbekannten abgefeuert, aus unbekannter Ursache geplant, war für Christian nicht ganz dasselbe, was er für alle andern war, die rings um ihn lebten und sich nach wie vor vergnügten, jeder nach seiner Art. Er war für ihn ein Anlaß zum Nachdenken, einem zwar ziel- und fruchtlosen, aber ernsten und sonderbar leidenden Nachdenken.

Er hätte gern den Mann gesehen. Er hätte gern sein Gesicht gesehen.

Crammon sagte: »Wieder ein Fall, wo sich sonnenklar erweist, daß man mit der Abschaffung der Folter nichts erreicht hat, als daß die Kanaille frech geworden ist. O, was war so ein spanischer Stiefel oder eine Daumenschraube, was waren das für herrliche Erfindungen der Humanität und Disziplin!«

Christian besuchte seinen Vater, der in einem Lehnstuhl saß, mit verbundenem Arm, die breit auseinandergefaltete Kreuzzeitung vor sich. Herr Wahnschaffe sagte: »Ich hoffe, daß ihr euch in keiner Weise Zwang auferlegt, du und deine Freunde. Ich wäre untröstlich, wenn ich schuld wäre, daß die Laune meiner Gäste nur um einen Hauch sich trübt.«

Christian wunderte sich über diese Höflichkeit, diese vornehme Gemessenheit, diese liebenswürdige Rücksicht.

13

Im tiefen Wald, unter Ruinen, forderte Stephan Gunderam von Lätizia die Entscheidung über sein Schicksal.

Man hatte in großer Gesellschaft einen Ausflug unternommen, Lätizia und ihr Anbeter waren zurückgeblieben, und so war es geschehen.

Ringsum ragten alte Stämme und uraltes Gemäuer, über den Baumwipfeln spannte sich der blaßblaue Herbsthimmel, im dürren Laub lag auf den Knien ein Mann und schwor mit Anwendung erhabener und maßloser Worte seine ewige Liebe. Dem allen vermochte Lätizia nicht zu widerstehen.

Stephan Gunderam sagte: »Verweigern Sie mir Ihre Hand, so bleibt mir nur die Kugel übrig. Sie ist für diesen Zweck schon längst bereit. Beim Leben meines Vaters, ich spreche wahr.«

Wer, so weich und so verführbar wie Lätizia, mag Blutschuld auf sich laden? Und sie gab ihr Ja. Sie dachte an keine Fessel, sie dachte nicht an das Unverbrüchliche eines solchen Entschlusses, sie dachte nicht an die Zeit und an das Spiel der Folgen, sie dachte nicht an den, dem ihre Seele zu eigen war; sie dachte nur an den Augenblick und daß da ein Mensch war, welcher erhabene und maßlose Worte zu ihr sagte.

Stephan Gunderam sprang auf, riß sie in seine Arme und stammelte: »Von nun an bis in die Ewigkeit gehörst du mir. Dein Atem, dein Gedanke, dein Traum mir, nur mir! Vergiß das nicht! Vergiß es nie!«

»Laß mich los, du Schrecklicher,« sagte Lätizia mit einem Schauer des Entzückens. Sie fühlte sich von einer Welle von Romantik lustvoll getragen. Ihre Nerven gerieten in Schwingung, der Blick flimmerte und brach; zum erstenmal regte sich Verlangen des Blutes. Leise aufschreiend glitt sie aus Gunderams Armen.

Schon auf dem Heimweg konnte das Paar die Glückwünsche der Gesellschaft entgegennehmen. Crammon schlich still beiseite; als Christian kam und Lätizia die Hand reichte, war in ihren Augen eine unruhige Erwartung, etwas phantastisch Freudiges, das Christian durchaus nicht begriff. Er konnte durchaus nicht ergründen, was sich hinter dieser Miene verbarg. Er konnte nicht erraten, daß sie dem, welchem sie soeben ihr Leben anvertraut hatte, den Atem, den Gedanken und den Traum, sich treulos schon jetzt entzog, und daß sie dies ihm, Christian, auf ihre Weise, die eine unschuldige und törichte Weise war, zu verstehen gab.

Er liebte sie, von Stunde zu Stunde wuchs seine Liebe. Er empfand es fast wie ein inneres Gesetz, daß er sie lieben sollte; ein Auftrag, der ihm befahl: an diese wende dein Selbst; eine Botschaft, die ihm ausrichtete: in dieser finde dich.

Er glaubte Evas Stimme zu vernehmen: Von mir war der Weg zu ihr; hab ich dich fühlen gelehrt, so gib dort dein Gefühl, wo ein Herz in Bereitschaft ist; dort forme, dort werde, dort wirke; laß es nicht vergehen, laß es nicht sinken und verglühen.

So oder ähnlich sprach die Stimme.

14

Crammon, der Verhärtete, hatte einen Traum, worin ihm jemand Vorwürfe machte, daß er untätig zuschaue, während man sein Fleisch und Blut an einen argentinischen Viehzüchter verkuppele.

Infolgedessen ging er zur Gräfin und fragte sie, ob sie wirklich gesonnen sei, das unmündige Kind in die Länder der Wilden zu schicken. »Ist Ihnen nicht bange, wenn Sie daran denken, wie verlassen das Kind in diesen äußerst südlichen Regionen dastehen wird?« fragte er und rieb die Hände rollend umeinander, was ihm das Aussehen eines alten Wucherers verlieh.

»Was fällt Ihnen ein, Herr von Crammon?« erwiderte die Gräfin entrüstet, »mit welcher Befugnis stellen Sie mich zur Rede? Wissen Sie vielleicht einen besseren Freier, einen, der reicher, vornehmer, repräsentabler ist? Meinen Sie, nur in Europa könne man glücklich sein? Ich habe mir die Leute genau angesehen, denn sie sind uns ja schockweise nachgelaufen, in Interlaken, in Aix-les-Bains, in Genf, in Zürich und in Baden-Baden; Alte und Junge, Franzosen, Russen, Deutsche und Engländer, Grafen und Millionäre. Daß wir nicht von vornherein auf das Exotische versessen waren, wird Ihnen Ihr Freund Christian bezeugen, der sich wahrscheinlich zu gut für uns gedünkt hat. Kummer genug, daß ich mein Liebchen über den Ozean lassen muß, Sie sollten mir nicht auch noch das Herz schwer machen.«

Aber Crammon war nicht zu rühren. »Überlegen Sie sich die Sache noch einmal genau,« sagte er, »es ist ein verantwortungsvoller Schritt. Bedenken Sie, daß es dort Giftschlangen geben soll, deren Biß innerhalb fünf Sekunden tötet. Ich habe von Stürmen gelesen, die die stärksten Bäume mit den Wurzeln ausreißen und neun Stock hohe Häuser umwerfen. Gewisse Volksstämme, die sogenannten Feuerländer, huldigen noch dem Kannibalismus, soviel ich weiß. Ferner existiert eine Gattung Ameisen daselbst, die auch den Menschen überfällt und ihn mit Stumpf und Stiel verzehrt. Die Hitze im Sommer soll nicht zu ertragen sein, die Kälte im Winter desgleichen. Es ist eine unwirtliche Gegend, Gräfin, eine schmutzige Gegend mit gefährlichen Einwohnern; überlegen Sie sich die Sache noch einmal.«

Die Gräfin war bestürzt. Der Wirkung seiner Worte froh, entfernte sich Crammon erhobenen Hauptes.

Am Abend, Lätizia lag schon zu Bett, ging die Gräfin mit unter der Brust gekreuzten Armen im Zimmer des jungen Mädchens auf und ab. Ihr Gewissen war beschwert, sie wußte aber nicht recht, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Sie hatte den ganzen Nachmittag Briefe und Verlobungsanzeigen geschrieben und war jetzt müde. Puck, das Löwenhündchen, saß im Nebenzimmer auf einem seidenen Kissen und kläffte bisweilen grundlos.

Lätizia schaute mit feuchtglänzenden, schwelgerischen Augen in den dämmernden Raum über sich. Man hätte ihre Haut mit einer Nadel ritzen können, sie hätte es nicht gespürt.

Endlich überwand sich die Gräfin. Sie nahm einen Stuhl, setzte sich an das Bett und ergriff die Hand Lätizias. »Ist es wahr, Liebchen,« fing sie an, »ist es wahr, was Herr von Crammon berichtet, hat dir Stephan auch davon gesprochen, von den giftigen Schlangen, den Menschenfressern, den Orkanen, den wilden Ameisen und der schauerlichen Hitze und Kälte, wovon das Land heimgesucht sein soll, in das du gehst? Wenn es sich so verhält, möchte ich dich bitten, den Schritt, den du unternimmst, noch einmal gründlich in Erwägung zu ziehen.«

Lätizia lachte, tieftönig und herzlich. »Wie, Tante, jetzt kriegen Sie es mit der Angst?« rief sie aus; »jetzt, wo ich mir schon die ganze Zukunft ausgemalt habe? Crammon hat sich einen unpassenden Scherz mit Ihnen erlaubt, das ist alles. Stephan sagt niemals eine Lüge, und seiner Schilderung nach ist Argentinien das Paradies auf Erden. Hören Sie nur, Tantchen,« sagte sie geheimnisvoll, rückte an den Rand ihres Lagers und sah die Gräfin zutraulich und entzückt an, »Pfirsiche gibt es dort, so groß wie Kinderköpfe, schmackhafter als man sichs träumt, und in solcher Menge, daß man die, die man nicht essen und verkaufen kann, zu Hügeln aufschichtet und verbrennt. Wildbret jeder Art, Tantchen, köstlich und in Zubereitungen, die hier ganz unbekannt sind; Fische, Geflügel, Honig, die seltensten Gemüse, alles, was man nur will und was das Herz begehrt.«

Die Miene der Gräfin hellte sich auf. Sie streichelte Lätizia über den Arm und sagte: »Dann freilich; wenn dem so ist, dann freilich . . .«

Lätizia aber fuhr fort: »Hab ich mich einmal eingelebt und die Verhältnisse kennengelernt, so schreib ich Ihnen, Tante, und Sie müssen zu uns kommen. Da werden Sie dann ein Haus für sich bewohnen, eine reizende Villa, die von Blumen überwachsen ist. Die Vorratskammern sollen jeden Tag frisch gefüllt werden, und neben Ihrem Schlafzimmer wird ein marmornes Badebecken sein; sooft Sie Lust haben, können Sie sich darin ausstrecken, und schwarze Sklavinnen werden zu Ihrer Bedienung bereit stehen.«

»Gewiß, Liebchen,« antwortete die Gräfin mit verklärtem Gesicht, »denn Paradies oder nicht Paradies, das eine wird wohl unter allen Umständen zutreffen: schmutzig wird es sein, und Schmutz, du weißt es ja, Schmutz ist für mich fast so arg wie Giftschlangen und Menschenfresser.«

»Haben Sie keine Sorge, Tantchen,« sagte Lätizia, »wir werden dort ein herrliches Leben führen.«

Die Gräfin war beruhigt und umarmte Lätizia mit überströmendem Dank.

15

Um dem Trubel auf Wahnschaffeburg, wie das neue Haus genannt wurde, zu entfliehen, gingen Christian und Crammon für einige Tage nach Christiansruh. Kaum aber hatten sie sich dort eingerichtet, so kamen auch Judith und deren Gesellschafterin, Lätizia und das Fräulein von Einsiedel.

Die Gräfin und Stephan Gunderam waren nach Heidelberg gefahren, wo sie Frau von Febronius erwarteten; Lätizia sollte ihnen erst eine Woche später folgen. Felix Imhof war nach Leipzig gerufen worden, wo er an der Gründung einer großen Verlagsgesellschaft beteiligt war. Nach seiner Rückkehr sollte auf Wahnschaffeburg die Hochzeit stattfinden.

Judith sagte, sie wolle die letzten Stunden der Freiheit genießen; Lätizia zum Mittun zu bewegen, hatte es nicht vieler Überredung bedurft; das Fräulein von Einsiedel und die Gesellschafterin wurden als Garden betrachtet, und so hatten die vier Christian und Crammon mit Lärm und Lachen überrascht.

Das Wetter war schön, wenngleich schon kalt; sie verbrachten die meiste Zeit im Freien, gingen in den Wäldern spazieren, spielten Golf, veranstalteten Picknicks, und die Abende verflogen mit heiterem Plaudern. Einmal las Crammon aus dem Torquato Tasso vor, und er ahmte dabei den Tonfall und Rhythmus Edgar Lorms so täuschend nach, daß Judith erregt wurde und nicht genug hören konnte. Ihn reizte nichts andres als eben diese Nachahmung; Lätizia genoß die Verse wie trunken machenden Wein; das Fräulein von Einsiedel, das seit Jahren um eine verlorene Liebe trauerte, kämpfte bei manchen Stellen mit den Tränen; Judith hingegen erblickte in einem Zauberspiegel ein vergöttertes Bild, und als der Vortrag zu Ende war, brachte sie das Gespräch auf Edgar Lorm und bat Crammon, er möge ihr von ihm erzählen.

Crammon willfahrte ihr. Er erzählte von der romantischen Freundschaft des Schauspielers mit einem König; von seiner ersten Ehe mit einer rothaarigen Jüdin, die er sehr geliebt und die ihn eines Tages verlassen hatte und nach Amerika geflohen sei; wie er ihr gefolgt sei, erst hinüber, dann drüben von Ort zu Ort und alle seine Versuche, sie wiederzugewinnen, fehlgeschlagen seien; wie er, zurückgekehrt, in Gefahr gewesen, sich zu verlieren, sein Talent zu zersplittern; wie er, einsam und unstet, bald da, bald dort festen Fuß zu fassen bestrebt war; wie er Verträge gebrochen habe, von den Bühnenleitern in Acht und Bann getan, vom Publikum als gefährlicher Irrwisch nur gerade geduldet worden sei; wie aber endlich sein Genie alle Widrigkeiten und die Mängel seiner Natur selbst besiegt habe und er nun als strahlendstes Gestirn am Himmel der Kunst glänze.

Als Crammon schwieg, trat Judith auf ihn zu, streichelte ihm Kinn und Wangen und sagte: »Das war hübsch, Crammon, dafür dürfen Sie sich etwas ausbitten.«

Da lachte Crammon sein lautestes Lachen im tiefsten Baß und antwortete: »Dann bitt ich mir aus, daß die vier Damen morgen in der Frühe nach Wahnschaffeburg zurückkehren und uns beide, meinen Freund Christian und mich, noch ein wenig in Frieden gegeneinander schweigen lassen. Nicht wahr, Christian, mein Engel, wir schweigen gern? Wir beschweigen die Geheimnisse der Welt.«

»O ungalanter Bär!« wurde da gerufen; »o Verräter, o herzloser Intrigant!« Aber es war bloß eine Scheinempörung, denn die Rückfahrt war für den nächsten Tag ohnehin beschlossen.

Christian erhob sich und sagte: »Bernhard hat nicht unrecht, wenn er behauptet, daß wir schweigen wollen. So schön es mit euch ist, ihr schönen Mädchen, aber ihr seid so unruhig, ihr seid gar zu munter.« Er hatte scherzend gesprochen, jetzt strich er mit der Hand über die Stirn, weil sich seine Empfindung in Ernst verwandelt hatte.

Alle schauten ihn an. Er sah eigentümlich stolz aus. Lätizia schlug das Herz. Als sein Blick auf sie fiel, senkte sie den ihren, und sie errötete tief. Sie liebte alles, was er war, alles, was hinter ihm war, alles, was er erlebt hatte, alle Frauen, die er geliebt hatte, alle Menschen, von denen er kam und zu denen er ging.

Plötzlich fiel ihr die goldene Kröte ein; sie hatte das kleine Schmuckstück mitgenommen, und sie faßte den Vorsatz, es ihm heute noch zu bringen. Aber hiezu mußte sie ihn allein treffen.


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