Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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15

Auf der Alabasterplatte des Kamins brannten Kerzen in silbernen Renaissanceleuchtern. Auch das grellere Licht der brennenden Scheite blieb auf die Nähe beschränkt und verbrauchte seine Kraft, indem es die Gestalten von Eva und Cornelius Ermelang in Glut setzte. Bis zu den Porphyrsäulen an den Wänden und den goldverzierten Kassetten an der Decke drang es kaum noch hin; in den hohen Spiegeln zuckte rotes Flimmern, und die purpurnen Damastvorhänge über den riesigen Fenstern, den Raum pathetischer schließend als die mächtigen Flügeltüren, saugten die Reste der Helligkeit ohne Strahlung auf.

Der weiße Spitzenüberwurf, den die Tänzerin trug – Kenner behaupteten, jeder Quadratzoll daran ergebe das Jahreseinkommen eines Gouverneurs –, war auf der dem Feuer zugewendeten Seite belebt wie ein phantastisches Pastell.

»Sie hatten viel Nachsicht mit mir, Sie waren oft vergeblich hier,« sagte Eva; »ich fürchtete, Sie würden wieder abreisen, ohne daß ich Sie gesehen hätte. Aber Susanne wird Ihnen ja geschildert haben, wie meine Tage verlaufen. Menschen und Ereignisse wirbeln, ich habe Mühe, ein Bewußtsein von mir zu behalten. Freunde werden mir entfremdet, Gesichter wechseln, und ich merk es nicht; ein verrücktes Leben.«

»Und daß Sie mich trotzdem gerufen haben,« flüsterte Ermelang; »daß ich das Glück genießen darf, bei Ihnen zu sein. Nun erst habe ich alles erreicht, was mir der Aufenthalt in Rußland versprochen hatte. Wie soll ich Ihnen danken? Ich habe bloß meine armen Worte.« Er blickte sie mit seinen wasserblauen Augen gerührt und begeistert an. Das mit den armen Worten war wiederkehrende Figur bei ihm; aber ungeachtet seiner gekünstelten Wendungen war die Empfindung echt; ja, es war immer ein wenig zu viel Empfindung, zu viel Ergriffenheit in seiner Rede, es machte manchmal den Eindruck, daß er im Grunde gar nicht so weich und erschüttert war und sich im Notfall auch einzuschränken wisse.

»Was tut man nicht einem Dichter zuliebe,« versetzte Eva mit artiger Gebärde; »es ist die reine Zwecksucht. Ich werbe um mein Bild in Ihrem Geist. Von antiken und modernen Tyrannen weiß man, daß die einzigen Menschen, mit denen sie behutsam umgingen, die Poeten waren.«

Ermelang sagte: »Ein Wesen wie Sie existiert so elementar, daß das Bild von ihm geringfügig dagegen ist, wie der Schatten eines Dings, wenn die Sonne im Zenit steht.«

»Subtil; aber Bild muß sein. Ich habe solches Vertrauen zu Ihrem Auge, daß ich von Ihnen erfahren möchte, ob ich wirklich so verändert bin, wie einige versichern, die mich in meiner Pariser Zeit kannten. Ich lache sie aus, doch daneben ist noch eine kleine Rebellion der Eitelkeit, Angst vor Vergehen und Verblühen. Sagen Sie nichts, Widerspruch wäre trivial. Erzählen Sie mir vor allem, wie Sie nach Rußland gekommen sind, was Sie gesehen, gehört, erlebt haben.«

»Ich habe wenig erlebt. Im ganzen war es eine Impression, so unvergeßlich, daß das einzelne bedeutungslos wurde. Gewisse Bedrängnisse hatten mir Paris verleidet, und die Fürstin Walujeff bot mir eine Zufluchtsstätte auf ihrem Gut in der Nähe von Petersburg. Jetzt muß ich wieder nach dem Westen, nach Europa, wie sie hier spöttisch sagen; der Spott hat recht. Ich verlasse meine seelische Heimat, Menschen, die mir nah waren, ohne daß ich sie kannte, eine Einsamkeit voll Melodie und Ahnung, um zurückzukehren in sinnloses Getöse, in Verwirrung und Isolierung. Ich war bei Tolstoi, bei Pobjedonoszew; ich habe den Jahrmarkt in Nischni-Nowgorod besucht und bin in der Troika durch die Steppe gefahren; um Menschen und Landschaft ist ein Hauch von Unschuld und kommender Zeit, von Dunkelheit und von Kraft.«

Eva hatte zerstreut zugehört. Die Hymnen ambulanter Literaten und Beobachter über Rußland begannen sie ernstlich zu langweilen. Sie verzog ein wenig die Lippe. »Ja, es ist eine besondere Welt,« warf sie hin und streckte ihre schönen Hände aus, um sie an der Glut zu wärmen.

Das hatte sie früher nie gehabt, dünkte es Ermelang, dies Versinkenlassen eines, mit dem sie gerade sprach.

Er fühlte, daß seine Worte keine Freundlichkeit bei ihr fanden, wurde verlegen und schwieg. Er schaute sie an, heimlich, mit dem inneren Auge, das streng war, und er sah die Veränderung, von der sie gesprochen; er empfing das Bild, das sie gefordert.

Die Schmalheit des Ovals hatte eine Willenslinie, die von Güte nichts mehr besaß, von Heiterkeit nur noch wenig. Den Mund härtete Entschlossenheit. Verluste waren verzeichnet; um die Schläfen und unter den Lidern lagerten Schatten. Der Körper verriet herrische Bändigung, gerade in seinen Lockerungen jetzt, dem unvergleichlichen Gedehntsein und Ruhen wie bei wilden Katzen. Daß sie erstaunlich gearbeitet hatte, war Ermelang bekannt; man hatte ihm gesagt, daß sie sechs, sieben Stunden täglich ihren Übungen widmete wie in der Zeit der Lehre. Es bestätigte sich ihm in der Art, wie die Glieder und Gelenke satt von Rhythmus und Bewegung waren und mit dieser Fülle lässig spielten.

Aber nichts Tröstliches ging davon aus, keine Freiheit. Ermelang gedachte der Stimmen, die sie unstillbarer Machtgier bezichtigten, gefährlicher politischer Umtriebe, verhängnisvoller Konspirationen, des Einflusses auf gewisse Geheimvertrage, die die Völker zu beunruhigen drohten, bei denen es sich um die Entfaltung einer äußerst verschlagenen journalistischen Hetze und um Werbungen und Parteiungen größten Stils handelte. Es war, wie wenn im Erdinnern ein Kohlenlager in Brand gerät, auf dem ein Kontinent noch arglos atmet.

Mißtrauische erklärten sie für eine verkappte Spionin im Solde Deutschlands; doch genoß sie die Freundschaft der französischen und der englischen Diplomaten. Beschöniger sagten, sie werde nur benutzt, um die Pläne und Wege des Großfürsten Cyrill zu decken; ihre Anhänger behaupteten, daß sie seine Absichten durchkreuze und sich nur zum Schein zu seinem Werkzeug mache. Der Adel war ihr abgeneigt; der Hof fürchtete sie; das niedere Volk, aufgestachelt durch Popen und Sektierer, sah in ihr das Unglück des Landes; bei einer Revolte in Iwanowa hatte man sie öffentlich als Hexe ausgerufen und ihren Namen unter feierlichen Zeremonien verflucht. Erst gestern war ihm von einer Deputation Mohilewscher Bauern erzählt worden – er hatte sie dann auf dem Fischmarkt gesehen – die in Zarskoje Selo beim Zaren gewesen und in den Klagen über die Hungersnot, von der ihre Provinz heimgesucht war, abergläubisch verstockt auf den sprichwörtlich gewordenen Prunk der fremden Tänzerin hingewiesen habe. Der Zar habe nichts zu erwidern gewußt und still zu Boden geschaut.

All dies hing an ihr. Zu deuten blieb da nichts. Betrachtete er ihre schönen Hände, die in der Kaminglut schwammen, jeder Finger war ein zarter Leib, so ward ihm bang.

»Ist es wahr,« fragte er mit scheuem Lächeln, »daß Sie in der Schlüsselburg waren, dreimal nacheinander?«

»Es ist wahr. Hat man es übelgenommen?«

»Man hat sich jedenfalls gewundert. Die Kerkertüren haben sich noch niemals einem Fremden geöffnet; der Russe lernt sie nur kennen, wenn sie sich hinter ihm schließen. Man hat sich gewundert; niemand begreift, was Sie dazu trieb. Viele vermuten, Sie hätten bloß Dimitri Schelkow sehen wollen, der auf den Großfürsten geschossen hat. Sagen Sie mir den Grund; ich möchte den Schwätzern antworten.«

»Den Schwätzern muß nicht geantwortet werden,« entgegnete Eva. »Ich fürchte sie nicht und brauche keinen Verteidiger gegen sie. Ich weiß nicht, warum ich hinging. Möglich, daß ich Schelkow sehen wollte. Er hat mich beschimpft. Er hat sich die Mühe genommen, ein Flugblatt gegen mich zu verbreiten. Fünf seiner Freunde sind dafür nach Sibirien geschickt worden, sechzehn-, siebzehnjährige Knaben. Die Mutter eines von ihnen schrieb mir einen flehentlichen Brief; ich sollte ihn retten. Ich habe es versucht; es war umsonst. Vielleicht wollte ich wirklich Dimitri Schelkow sehen; es heißt von ihm, er habe Iwan Becker den Tod geschworen.«

»Schelkow ist einer der reinsten Menschen der Welt,« warf Ermelang leise ein; »um ihn zu Geständnissen zu zwingen, hat man ihn gepeitscht.«

Eva schwieg.

»Gepeitscht,« wiederholte Ermelang; »diesen. Und es gibt noch Worte, es gibt noch Lachen, es scheint noch die Sonne.«

»Vielleicht wollte ich es sehen, wie sich ein Mensch unter Knutenhieben windet,« begann Eva wieder. »Vielleicht war es mir wichtig als ein Reiz. Ich muß mich nähren. Das Ungewöhnliche ist meine Speise. Eine Zuckung, ein originelles Kauern, und die Phantasie ist befriedigt. Aber ich habe ihn gar nicht gesehen,« fuhr sie mit dunklerer Stimme fort und blickte angestrengt an eine Stelle der Wand; »ich habe andere gesehen, solche, die zehn, zwölf, fünfzehn Jahre in einem finstern Steinloch zugebracht hatten. Einst hatten sie sich in der großen Welt bewegt, hatten ihren Geist mit edlen Dingen beschäftigt. Jetzt hockten sie in Fetzen auf Fetzen und drückten die Augen zu, weil sie das Licht der kleinen Laterne nicht aushalten konnten. Sie hatten verlernt zu blicken, verlernt zu gehen, verlernt zu sprechen. Es roch nach Verwesung in ihrer Nähe; jede ihrer Gebärden hatte einen sanften Wahnsinn. Aber auch um sie war es mir nicht zu tun. Um Frauen war es mir zu tun. Ich sah Frauen, eingekerkerte Frauen, um einer Überzeugung willen der Liebe, dem Leben, der Mutterschaft, der Hingabe entrissen und zum langsamen Foltertod verurteilt. Nicht einmal verurteilt, sondern vergessen. Viele sind einfach vergessen worden, und wenn die Freunde Gerechtigkeit verlangen, droht ihnen Gleiches. Ich sah eine, die als junges Mädchen gekommen war und nun als Greisin im Sterben lag. Ich sah Natalie Elkan, die in Kiew von einem Gendarmerieoberst vergewaltigt worden war und den Unhold mit seinem eignen Säbel erstochen hatte. Ich sah Sophie Fleming, die sich mit einem Stück Eisendraht geblendet hatte, weil man ihren Bruder vor ihren Augen gehängt hatte. Wissen Sie, was sie sagte, als ich zu ihr ins Verließ trat? Sie steckte die Nase in die Luft und sagte: O, so riecht eine Dame. Da wußte ich auf einmal etwas von Frauen. Ich umschlang sie und küßte sie und raunte ihr ins Ohr, ob ich ihr Gift bringen sollte. Aber sie verneinte.«

Eva erhob sich und schritt auf und ab. »Menschen,« sagte sie; »ja, und es gibt Worte, es gibt Lachen, und es scheint die Sonne. Dies ist ein Saal, angefüllt mit Kostbarkeiten. Auf der Treppe stehen die Lakaien. Fünfzig Schritte von hier ist das Prunkbett, in dem ich schlafe. Alles mein. Was ich anrühre: mein; was ich anschaue: mein. Ich könnte den ganzen Erdball fordern, wenn sie ihn zu vergeben hätten; dann würf ich ihn wie eine Billardkugel in einen Tümpel, daß er nicht mehr im Sternenraum wäre mit seinem Schmutz und seiner Qual. Wie ich hasse! Wohin nur mit all dem Haß! Wo ist Erlösung von ihm? Ich glaube nicht mehr, nicht an die Kunst, nicht an Dichter, nicht an mich; ich hasse nur noch, zerstöre nur noch; ich bin verloren.«

»Wunderbare Eva!« rief Ermelang mit gefalteten Händen. »Denken Sie daran, wie vielen Sie viel gegeben haben.«

»Ich bin verloren,« sagte Eva und blieb stehen, »ich fühls, ich bin verloren.«

»Weshalb verloren? Sie spielen mit sich selbst.«

Sie schüttelte den Kopf und flüsterte die Verse aus dem Inferno: »O Simon mago, o miseri seguacci, / che le cose di Dio, che di bontate / Debbon essere spose e voi rapaci / Per oro e per argento adulterate.«

Ermelang fügte sinnend hinzu: »Fatto v'avete Dio d'oro e d'argento: / E che altro è da voi agl'idolatre, / non ch'egli uno, e voi n'orate cento.«

»Was ist da draußen?« fragte Eva und lauschte. Man hörte grollende Stimmen von der Straße, dazwischen Rufe, Pfiffe. Auch Ermelang horchte, dann ging er an ein Fenster, hob die Draperie und schaute hinaus.

Vor dem Palast, auf der breiten, schneebedeckten Straße stand eine Ansammlung von fünfzig oder sechzig Muschiks, in ihrer Tracht mit den Lammfellhüten und den langen Mänteln deutlich zu erkennen. Sie standen schweigend und blickten zu den Fenstern empor; sie hatten eine Menge Volks nach sich gezogen, Weiber und Männer, und diese gestikulierten gehässig und schienen die Muschiks aufzureizen.

»Ich glaube, es sind die Bauern aus Mohilew,« sagte Ermelang ein wenig ängstlich; »ich habe sie gestern durch die Stadt ziehen sehen.«

Eva trat neben ihn, warf einen flüchtigen Blick hinab und kehrte wieder in die Mitte des Saals zurück. Sie lächelte verächtlich. Da kam Susanne Rappard hastig herein und sagte mit Zeichen des Schreckens: »Leute sind unten. Pierre ist zu ihnen hinausgegangen, zu fragen, was sie wollen. Sie wollen mit dir sprechen. Sie bitten demütig, zu dir gelassen zu werden. Was soll man dem Gesindel antworten? Ich habe zur Polizei telephoniert. Mein Gott, was für ein Land, was für ein abscheuliches Land!«

»Gib ihnen Geld, Susanne,« sagte Eva mit gesenkten Augen; »es sind sehr arme Leute, gib ihnen alles Geld, das im Hause ist.«

»Unsinn!« rief Susanne entsetzt, »das nächste Mal werden sie das Tor einschlagen und plündern.«

»Tu, was ich dir befehle,« erwiderte Eva; »geh zu Monsieur Labourdemont; er soll dir geben, was er an barem Gelde hat, und bring es ihnen hinaus. Oder jemand, der mit ihnen sprechen kann, soll es tun und ihnen sagen, ich sei schon zu Bett, ich könne sie nicht empfangen. Und laß noch einmal an die Polizei telephonieren, daß es überflüssig ist, einzuschreiten; hörst du, was ich dir befehle?«

»Ich höre,« sagte Susanne und ging.

Die Menge unten hatte sich vermehrt, der Lärm wuchs, Betrunkene johlten. Nur die Bauern blieben still. Der Älteste war bis an den Rand des Gehsteigs getreten. Auf seiner Mütze lag eine kleine weiße Schneekuppel; auch in seinem Bart hing Schnee und Eis. Pierre, der Pförtner, hatte sich in seiner silberstrotzenden Livree vor ihm aufgepflanzt und maß ihn mit Hochmut. Der Bauer verbeugte sich tief, während er mit ihm sprach.

»Leben Sie wohl, lieber Freund,« wandte sich Eva an Ermelang; »ich bin müde. Bewahren Sie diese Stunde in Ihrem Gedächtnis, aber vergessen Sie sie, wenn Sie mit andern über mich reden. Das Innerste ist nur für einen. Gute Nacht.«

Als Ermelang aus dem Tor des Palastes trat, tauchte am Ende der Straße eine Abteilung berittener Polizei auf. Die Volksmenge verschwand mit geschulter Geschwindigkeit. Eine Minute später, und keiner war mehr zu sehen. Die Bauern aber wichen nicht von der Stelle. Ob ihnen Geld verabreicht wurde, wie Eva befohlen, erfuhr Ermelang nicht. Er mochte nicht das Schauspiel roher Gewalt abwarten, das sich ihm beim Anrücken der Berittenen bieten würde.

16

Ruth beeilte sich, nach Hause zu kommen. Am Sonntagnachmittag pflegte der Vater ein paar Stunden mit ihr zu verbringen. Sie war überrascht, als sie ihn nicht zu Hause fand. Ein Brief lag auf dem Tisch. »An meine Kinder,« stand auf dem Umschlag geschrieben.

Der Brief lautete: »Geliebte Tochter, mein lieber Sohn! Ich muß euch verlassen. Wann ich euch wiedersehen werde, weiß nur ein Höherer. Mein Entschluß ist fest, ich habe lange um ihn gerungen. Ich bin dem Lebenskampf unter den Umständen, die ihr kennt, nicht mehr gewachsen. Um in Berlin vorwärtszukommen, braucht man eiserne Fäuste und eine eiserne Stirn. Ich bin nicht mehr in dem Alter, wo man brutal über Hindernisse hinwegschreitet. Brotlosigkeit droht. Statt euer Ernährer zu sein, steht mir das Schreckgespenst vor Augen, dir, meine Ruth, zur Last zu fallen, die ohnehin Übermenschliches leistet. Meinem Dasein ein Ende zu machen, ist mir letzthin oft verlockend erschienen. Die Religion sowohl wie die Rücksicht auf das Andenken, das mir in euch bleiben würde, haben mich daran verhindert. Es hat sich ein Mann gefunden, ein Glaubensgenosse, der mir zuredete, mit ihm nach Amerika auszuwandern; er hat sich bereit erklärt, mir das Geld für die Überfahrt vorzustrecken. Er ist hoffnungsvoll und verspricht sich Gelingen. Vielleicht wendet sich das Schicksal endlich doch zu meinen Gunsten; vielleicht nötige ich ihm durch das Opfer, das ich bringe, indem ich euch im Unsicheren und in der Bedrängnis lasse, Erbarmen ab. Dann wird mein erstes sein, euch zu mir zu rufen, darauf könnt ihr bauen. Ich sehe keinen andern Weg, mich vor dem Untergang zu retten. Nur weil ich deine Seelenstärke kenne, liebe Ruth, nur weil ich die unerschütterliche Zuversicht habe, daß ein guter Engel über dir wacht, greife ich zu dem, was mir so bitter ist und so schwer fällt. Ich will nicht denken, darf nicht denken; ihr Unmündigen schutzlos, mittellos, ohne Freunde, ohne Verwandte, Gott wird mirs verzeihen und euch behüten. Keinen Abschied weiter. Es muß sein. Sobald Gutes von mir zu melden ist, schreibe ich. Gib dann auch du sogleich Nachricht. Eingeschlossen fünfzig Mark für das, was vorderhand nötig ist. Mehr kann ich nicht entbehren. Die Miete per November ist bezahlt. Schuster Rösike hat noch sechs Mark fünfzig zu bekommen. Es umarmt euch aus treuem Herzen euer sehr unglücklicher Vater.«

Ruth weinte.

Nach einer Stunde, während der sie still sitzen geblieben war, klopfte es an der Tür. Im Glauben, es sei Michael, öffnete sie. Wenn es doch Christian Wahnschaffe wäre, dachte sie in dem Bedürfnis nach freier Mitteilung und hatte Furcht vor dem Bruder.

Es war weder Michael noch Christian. Vor ihr stand ein ärmlich gekleidetes Kind, ein Mädchen mit einem Hund an der Seite, einem Metzgerhund, groß wie ein Kalb, mit abscheulich glattem, glänzendem Fell, das schwarz und weiß gefleckt war.

Ruth ließ die Klinke nicht los, als sie nach dem Begehr des Mädchens fragte, das ebensogut zwölf wie zwanzig Jahre alt sein konnte. Der Hund starrte böse.

Das Mädchen reichte ihr schweigend einen Zettel. Er war schmierig und mit rohen Schriftzügen bedeckt. Ruth dachte erschrocken: Heute kommt alles Schlimme geschrieben. Sie hatte aber noch nicht gelesen, was auf dem Zettel stand; sie fühlte nur, daß es Schlimmes bedeutete.

Sie schaute einen Augenblick gegen das Gangfenster, das ein Rahmen für ein Bündel schwarzer Fabrikschlöte war. Der unheimliche Hund knurrte ein wenig.

Auf dem Zettel standen, schwer zu entziffern, diese Worte: »Sie müssen auf der Stelle hinkommen zu einem, mit dems übel steht. Er hat ein Gift im Leibe, das bringt ihn um, und er muß Ihnen ein Geständnis machen, vor er abkratzt. Er liegt in der hinteren Stube bei Adelens Aufenthalt, was eine Weinkneipe ist, Prenzlauer Allee 112, Hofgebäude links, Kellerstiege. Kommen Sie gleich mit das Mädchen. Der liebe Gott wirds vergelten. Bitte aus Herzensgrund um Gottes willen.«

So der Zettel.

»Was ist denn los? Was soll ich denn?« hauchte Ruth.

Das Mädchen, als sei es stumm, zuckte die Achseln und wies auf den Zettel.

Voll Ahnung, voll innerer Warnung, voll von dem Schmerz über den Brief und die Flucht des Vaters, voll Grauen vor dem Metzgerhund stammelte Ruth unschlüssig und immer wieder den Zettel betrachtend: »Ich weiß nicht . . . ich muß auf Michael warten . . . wer ist es denn? Warum nennt er seinen Namen nicht?«

Das Mädchen zuckte die Achseln

Es dünkte Ruth, daß sie den Hilferuf nicht überhören dürfe. Die blutunterlaufenen Augen des Hundes waren auf sie gerichtet. Niemals hatte sie ein so nacktes Tier gesehen. Sie griff sich mit der Hand an die Stirn und sammelte sich bedrängt. Sie kehrte ins Zimmer zurück und schaute sich bestürzt um, denn es schien ihr sehr einsam und kahl. Sie schlüpfte in ihr Mäntelchen und setzte den Hut auf. Ein Lächeln huschte über die Züge, wie aus Freude, daß sie sich entschlossen hatte. Sie durchflog noch einmal den Zettel. »Bitte aus Herzensgrund um Gottes willen.« Es war klar, was man zu tun hatte.

Den Brief des Vaters hielt sie eine Weile unschlüssig in der Hand, dann legte sie ihn zusammengefaltet auf den Tisch, wo ihre Bücher und Schreibhefte in einiger Unordnung verstreut waren. Sie schloß die Bücher, die offen waren, und schichtete sie aufeinander. Der Hund war lautlos ins Zimmer getrabt und folgte ihr, als sie es verließ. An der Tür hing eine kleine Schiefertafel und, an eine Schnur gebunden, ein Griffel. Ruth schrieb auf die Tafel: »Ich komme bald zurück. Bin in die Prenzlauer Allee gegangen. Warte jedenfalls auf mich. Habe Wichtiges mit dir zu sprechen.« Sie sperrte ab und versteckte den Schlüssel unter der Strohmatte.

Das Mädchen bewahrte eine schläfrige Gleichgültigkeit.

Ruth besann sich am Treppenabsatz, dann pochte sie an Karens Tür. Wenn Christian bei Karen war, konnte sie ihm noch ein paar Worte sagen. Aber es kam niemand, um ihr zu öffnen. Karen schläft, dachte sie, und verzichtete darauf, zu läuten. Als sie hinter dem Mädchen und dem nackten Hund die Treppe hinunterstieg, wurden ihr die neuen Verantwortungen und neuen Aufgaben ihres Lebens bewußt. Aber das Wirre zerteilte sich, und das Schwere verlor seine Gewichte in ihrem jungen und mutigen Herzen.

Im Hausflur zögerte sie ein letztes Mal. Doch gab sie es auf, bei Gisevius nachzusehen, ob Christian dort nicht sei, da sich im Hof zwei alte Weiber mit unflätigen Ausdrücken beschimpften.

Es regnete. Der Sonntagnachmittag in der Stolpischen Straße, mit Novemberhimmel und Arbeitsstille, bleichen Gasflammen in die Dämmerung gestickt und brummendem Lärm aus Wirtshäusern, war in gespenstischer Nüchternheit entfaltet.

»Gehen wir also,« sagte Ruth zu dem Mädchen.

Der nackte Hund trabte zwischen ihnen auf dem nassen Pflaster.

17

Crammon hatte an die Gräfin Brainitz geschrieben: »Da ich mein Wort verpfändet habe, werde ich kommen. Doch ersuche ich Sie um die Gefälligkeit, Lätizia entsprechend vorzubereiten. Je näher der fatale Zeitpunkt rückt, je unbehaglicher wird mir zumute. Es ist eine harte Buße, die Sie mir auferlegt haben. Lieber wollte ich zum Berg Ararat wallfahrten, um einige Jahre als Einsiedler dort zuzubringen und nach den Überresten der Arche Noah zu forschen. Gewiß, ich war ein skrupelloser Vertilger wohlschmeckender Dinge, aber dieses hab ich nicht verdient. Was zuviel ist, ist zuviel.«

Die Gräfin antwortete, sie wolle ihm nach besten Kräften beistehen, damit die Peinlichkeit der Begegnung für ihn gemildert werde. Sie habe nichts dawider, daß das Kind sich an ihrem Herzen erst ausweine, bevor es einem Vater gegenübertrete, der sich mit solchen Klauseln und Ängsten zu dieser Würde bekenne. »Im übrigen, mein Herr,« schloß sie, »wir harren Ihrer. Lätizia ist aus Paris zurückgekehrt, bezaubernder als je. Alle Welt liegt ihr zu Füßen. Ich hoffe, Sie werden davon keine Ausnahme machen.«

»Daß dich der Satan beiße,« fluchte Crammon und packte seine Koffer.

Als er in der Villa Ophelia ankam, so hieß das Landhaus der Gräfin, wurde ihm mitgeteilt, die Damen seien im Theater. Man führte ihn in das für ihn hergerichtete Zimmer; er wusch sich und warf sich in den Abendanzug, dann ging er in den Salon hinab, stemmte die Hände in die Taschen wie ein frierender Landstreicher und ließ sich übellaunig in einen Sessel fallen. Er hörte den Regen plätschern, und aus einem der Räume drang das Weinen eines Säuglings. Aha, das ist der Enkel, dachte Crammon moros, das Zwillingshalbe; wer schützt mich schließlich davor, daß man es mir auf die Knie legt und mich auffordert, es zu bewundern, oder zu streicheln, oder gar zu küssen? Wer, sage ich, behütet mich vor einer derartigen Attacke im Gartenlaubenstil? Dieser Gräfin ist manches zuzutrauen. So eine sentimentale Naive, die den Übergang in das ältere Fach nicht finden kann, ist zu allem fähig. Was gibt es Verdrießlicheres auf der Welt als ein kleines Kind? Es ist kein Mensch, es ist kein Tier; es riecht nach Kuheuter und Puder und macht sich durch widrige Geräusche unleidlich; es stochert mit seinen Gliedmaßen älteren Personen ins Gesicht, und wenn es nun noch zwei sind, wenn diese sämtlichen Unannehmlichkeiten in Verdopplung auftreten, dann ist man wehrlos ausgeliefert und muß billigerweise fragen: Was hast du, Bernhard Crammon, damit zu schaffen, du, den die Fortpflanzung des Menschengeschlechts lediglich im negativen Sinn interessiert?

Eine höhnische Lache besiegelte das Selbstgespräch Crammons. Da vernahm er heiter redende Stimmen, und Lätizia und die Gräfin traten ein.

Er erhob sich und war Kavalier, von einer süßen Freundlichkeit und dem Anstand der großen Welt.

Sein Erstaunen über Lätizias Erscheinung verhehlte er nicht. Die österreichische Freude an schöner Weiblichkeit, ein angeborener Trieb zu huldigen, brach durch die Nebel egoistischer Verstimmung. Er fand, daß ihn entweder sein Gedächtnis im Stich gelassen habe, oder daß sie, seit er sie zuletzt in Wahnschaffeburg gesehen, zu einer bewundernswerten Entpuppung gelangt sei. Freilich, junge Mädchen, jeder Reife fern, waren das Ziel seines Augenmerks nie gewesen. Frauen, mit denen er sich liebevoll beschäftigte, mußten wissend und verantwortlich sein; das erleichterte die Verantwortung.

Die Gräfin ergriff nach der Begrüßung das Wort. »Liebe Kinder, jetzt muß ich euch für eine halbe Stunde allein lassen,« sagte sie mit ihrer norddeutschen Zungenfertigkeit in allen Lebenslagen; »ich gehe mir die Hände waschen. So ein Theater ist eine schmuddlige Sache. Alles daran ist schmuddlig: die Sammetpolster, das Publikum, die Komödianten und das Stück. Mich überkommt jedesmal Sehnsucht nach Wasser und Seife. Ihr könnt die Zeit benutzen, euch ein bißchen auszusprechen; nachher soupieren wir.«

Sie rauschte hinaus, nicht ohne Crammon einen starken Blick zuzuwerfen.

Crammon fragte sinnend: »Wissen möchte ich, weshalb sich dieses Gebäude Villa Ophelia nennt. Es gibt so viel Unerklärliches im Leben; dies gehört dazu.«

Lätizia lachte. Sie betrachtete ihn mit einer Mischung von Ironie und Scheu. Wie sie vor ihm stand, in ihrem Kostüm aus hellgelber, weicher Seide, Hals und Büste in einem feuchten Elfenbeinglanz, hatte Crammon einige Mühe, sich noch weiterhin bemitleidenswert zu finden. Lätizia näherte sich ihm einen Schritt und sagte schelmisch gefühlvoll: »Also mein Papa. Wer hätte das gedacht! Es muß unangenehm für dich gewesen sein, als sich eine vergessene alte Sünde plötzlich in einen lebendigen jungen Menschen verwandelte.«

Crammon, während ein Rest von Düsterkeit blieb, kicherte. Er nahm ihre Hand zwischen seine beiden und drückte sie warm. »Ich sehe, wir verstehen uns,« sagte er, »und das beruhigt mich. Wovor ich mich gefürchtet habe, waren Ausbrüche, Tränen, und was bei solchen Anlässen sonst noch üblich ist. Nun, du hast Vernunft, das ist nett. Damit aber dem Zeremoniell Genüge geschehe, empfange den väterlichen Kuß von mir. Einen Kuß auf die Stirn. Es ist schicklich.«

Lätizia neigte den Kopf, und er küßte sie auf den Haaransatz. Sie sagte: »Wir haben also jetzt ein süßes Geheimnis miteinander? Wie soll ich dich vor Menschen nennen? Onkel? Onkel Crammon? Onkel Bernhard? Oder ganz einfach Bernhard?«

»Ich denke, ganz einfach Bernhard,« erwiderte Crammon. »Selbstverständlich bist du nach wie vor die rechtmäßige Tochter des verstorbenen Herrn von Febronius und seiner rechtmäßig angetrauten, ebenfalls verstorbenen Gattin. Unsere Situation erfordert einen besonders feinen Takt, von beiden Seiten.«

»Gewiß,« pflichtete Lätizia bei und setzte sich. »Wenn ich mir vorstelle, von welchen Gefahren man belauert ist. Hätte ich nun nichts gewußt und mich in dich verliebt! Entsetzlich. Übrigens merke ich, daß ich gar keinen Respekt vor dir habe, ich spüre etwas Schwesterliches; du gefällst mir ganz gut; wirst du damit vorliebnehmen? Oder findest du mich pietätlos?«

»Es ist vollkommen ausreichend,« sagte Crammon. »Ich kann dir überhaupt in diesem Punkt eine ökonomische Gebarung nicht dringend genug ans Herz legen. Die meisten Menschen gehen mit ihren Gefühlen um wie die Aschantiweiber mit Glasperlen; fortwährend klappern sie damit und kommen gar nicht auf den Gedanken, was für ordinärer Plunder es ist. Aber das nur nebenbei. Wir müssen für unsern Verkehr eine Art Programm entwerfen. Dies scheint mir wichtig, um jede Einmengung Unberufener zu verhindern. Ich bin natürlich jederzeit bereit, dir mit Rat und Tat beizustehen. Du kannst auf meine Freundschaft, auf meine . . . gebrauchen wir das odiose Wort, väterliche Freundschaft unbedingt zählen.«

Der in Gravität und Sorglichkeit gehüllte Eifer, mit dem Crammon darauf ausging, sich Entlastungen zu verschaffen, ergötzte Lätizia. In einer gewissen Hypokrisie war sie die würdige Tochter dieses Vaters: unter anmutigem Mienenspiel und unschuldig tuender Gelehrigkeit verbarg sie allerlei Mokantes und Eigensinniges. Sie entgegnete: »Es liegt kein Grund vor, daß wir unsre Freiheit beschränken sollten. Wir wollen einander nicht im Wege stehen und einander nichts schuldig sein. Jeder hat das Recht auf das Vertrauen des andern und die Pflicht, ihn gewähren zu lassen. Ich hoffe, das paßt dir.«

»Du bist eine sehr entschlossene Person, und ich habe dich für eine Schwärmerin gehalten, für ein Spinnwebchen. Haben dich die Viehzüchter dort im Feuerland so gewitzt? Ja, es paßt mir, es paßt mir ausgezeichnet.«

»Ich habe so viel vor mir,« fuhr Lätizia mit begehrlich leuchtenden Augen fort; »ich weiß gar nicht, wie ich mit allem fertig werden soll. Menschen, Länder, Städte, Kunstwerke; ich habe so viel Zeit versäumt und werde schon einundzwanzig Jahre alt. Tantchen wünscht, daß ich bei ihr bleibe, aber das ist unmöglich. Am ersten Dezember werd ich in München erwartet, am zehnten in Meran. In Paris war es göttlich. Ach Paris! Die Leute waren entzückend lieb mit mir; alle wollten mich haben.«

»Glaub ich, glaub ich,« sagte Crammon und rieb sich das Kinn; »wie hat denn das Abenteuer mit dem Vicomte geendet, von dem mir die Gräfin erzählte?«

»So? Hat sie dir davon erzählt?« fragte Lätizia errötend, »das war indiskret.« Einen Moment lang zeigte sich ein Ausdruck von Kummer und Beschämung in ihrem Gesicht; aber schlimme Erlebnisse, traten sie schon in ihr Bewußtsein, vermochten es doch nicht zu verdunkeln. Gleich darauf lachten ihre Augen wieder, die Erinnerung an das Trübe war verwischt. »Morgen wollen wir Auto fahren; willst du, Bernhard? Willst du?« drängte sie ungestüm und streckte die Hände nach ihm aus; »du mußt auch den kleinen Baron Rehmer einladen, der im Grand Hotel wohnt; Stanislaus Rehmer; Pole, Bildhauer. Er wird mich modellieren, und ich werde Polnisch sprechen lernen. Ein scharmanter Mensch.«

»Erkläre mir nur eines,« fiel ihr Crammon ins Wort, »erkläre mir: was geht in Argentinien vor? Was hat der blauhäutige Bandit, in dem du einst die Essenz männlicher Tugenden erblicktest, gegen dich unternommen? Du bildest dir doch nicht etwa ein, er läßt es sich ruhig gefallen, daß du mit seinen beiden Sprößlingen das Weite gesucht hast? Was mich betrifft, ich hätte ja nicht einmal ein Butterbrot, viel weniger mein Bett mit ihm teilen mögen, aber du warst andrer Meinung, und das Gesetz kümmert sich um Geschmackswandlungen nicht.«

»Er hat die Scheidungsklage eingereicht; ich auch,« sagte Lätizia. »Es sind schon eine Menge Akten vollgeschrieben. Die Kinder behalte ich, denn er hat mich durch Mißhandlungen zur Flucht gezwungen. Ich mache mir nicht die mindeste Sorge darüber.«

»Zahlt er dir eine Apanage?«

»Bis jetzt nicht einen Pfennig.«

»Wovon lebst du also? Wie ich sehe und höre, lebst du auf großem Fuß. Woher kommen die Mittel? Wer bestreitet den Aufwand? Oder ist das alles nur Schaum? Machst du Schulden?«

Lätizia zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht recht,« gab sie befangen zur Antwort; »manchmal ist Geld da, manchmal nicht. Tantchen hat ein paar niederländische Bilder verkauft, die sie hatte. Man kann doch nicht immerfort nachrechnen wie ein Krämer. Warum sprichst du von diesen abscheulichen Dingen?« In ihrer Stimme war ein so aufrichtiger Schmerz und Vorwurf, daß Crammon wie ein Sünder zu Boden blickte und, von ihrem Liebreiz gefangen, den Mut verlor, sie noch weiter mit den groben Wirklichkeiten zu belästigen. Auch erschien jetzt die Gräfin im Zimmer. Sie hatte blendend weiße Handschuhe an, und ihr Gesicht glänzte von frischer Sauberkeit wie Porzellan. Auf dem Arm trug sie Puck, das Löwenhündchen, das gealtert war und in einem marastischen Schlummer lag.

»Kinder, es ist serviert,« rief sie mit jener Munterkeit, die auf Bühnenerinnerungen beruhte.

18

Karen war des Glaubens, Christian erwarte von ihr, daß sie sich um ihr Kind kümmere. Sie hatte insgeheim ihrer Mutter geschrieben; die Witwe Engelschall antwortete nicht.

Christian hatte von dem Kind nicht einmal gesprochen. Er war nicht darauf gefaßt, bei Karen Fügsamkeit zu finden; ihr ganzes Verhalten gab nichts davon zu erkennen.

Aber in ihrem Bett grübelte sie, ob Christian es erwarte, und was mit dem Kind geschehen sein mochte. Ein glasiges Klirren war bisweilen hörbar. Es kam von den Perlen. Sie langte nach ihnen, vergewisserte sich, daß sie da waren. Dann breitete sich ein verschlagen-wohliges Lächeln über ihre Züge.

Christian war seit drei Tagen nicht aus den Kleidern gekommen. Er schlief im Sofawinkel ein. Seit dem Morgen war formlose Unruhe in ihm.

Isolde Schirmacher, die die Suppe für Karen brachte, weckte ihn durch geräuschvolles Eintreten. Er stellte Stühle zurecht, räumte Bücher vom Tisch, legte die karierte Decke darauf und öffnete ein Fenster. »Heute ist Sonntag,« sagte er.

»Ich mag keine Suppe,« murrte Karen.

»Wenn ich aber un hab se extra für Sie jekocht,« sagte Isolde Schirmacher weinerlich; »un Schweinsfrikassee außerdem. Sie mögen immer alles nich.«

»Friß dein Zeug selber,« erwiderte Karen und sah gehässig in die Luft.

Die Schirmacher trug die Suppe wieder hinaus.

»Mach doch das Fenster zu,« wimmerte Karen; »wozu denn immer das Fenster spannweit auf; es ist einem ja kalt.«

Christian schloß das Fenster.

»Möcht bloß wissen, warum sie die Suppe hinausgetragen hat,« begann Karen nach einer Weile; »das war ihr gerade recht, wenn sie sich allemal meine Portion in den Wanst stopfen könnte. Ich hab Hunger.«

Christian ging in die Küche und holte selbst die Suppe. Er setzte sich ans Bett und hielt den Teller in beiden Händen, während sie ihn langsam auslöffelte. »Heiß,« ächzte sie und stemmte den Hinterkopf gegen das Kissen; »mach das Fenster auf, daß 'n bißchen Luft reinkommt.«

Er öffnete das Fenster. Karen sah ihm mit dumpf staunendem Blick nach. Seine Geduld war ihr unergründlich, und es reizte sie, ihn so weit zu bringen, daß er aufmuckte und sie zurechtwies.

In der Nacht verlangte sie zwanzig Dinge und widerrief, was sie eben verlangt, in erbittertem Ton zwanzigmal. Er blieb immer gleich freundlich. Es machte sie rasend; sie hätte schreien mögen. »Herrgott, was bist du denn für ein Mensch?« kreischte sie ihm ins Gesicht und schüttelte die Fäuste.

Christian fand demgegenüber kein Wort.

Um zwei Uhr kam Doktor Voltolini. Die Assistentin, die Karen auf Ruths Bitte untersucht, hatte zu regelmäßigen Besuchen nicht Zeit, und da sie Voltolini kannte, hatte sie es befürwortet, daß er die Behandlung fortsetze.

Karen verweigerte fast auf alle seine Fragen die Antwort. Ihr Haß gegen Ärzte ging auf Erfahrungen zurück, die sie als Prostituierte gesammelt.

»Ich weiß nicht recht, wie ich mich stellen soll,« sagte Doktor Voltolini zu Christian, der ihn bis zur Stiege begleitete; »es ist ein unbegreiflicher Trotz in ihr; wär es nicht, um Ihnen gefällig zu sein, ich hätte schon längst verzichtet.« Er hatte eine tiefe Sympathie für Christian gefaßt und beobachtete ihn oft mit erregter Verwunderung. Christian bemerkte es nicht.

Er machte Karen Vorwürfe.

»Ei was,« fertigte sie ihn ab, »die Doktoren sind Schwindler und Beutelschneider; sie spekulieren bloß auf die Dummheit der Leute. Ich will nicht, daß er mich anrührt. Ich will nicht, daß er mir den Kopf auf die Brust legt, damit ich seine Glatze riechen kann, oder an mir herumklopft hinten und vorn und ne Visage aufsetzt wie 'n Scharfrichter. Zum Leben brauch ich ihn nicht und zum Sterben erst recht nicht.«

Christian schwieg.

Karen kauerte sich zusammen; sie hatte Schmerzen heute. Eine Säge wurde zwischen ihren Rippen hin und her gezogen. Sie fuhr fort: »Möcht bloß wissen, warum du dich auf die Medizin versteifst. Erklär mir das doch. Ich hab dich nie nach was gefragt, aber das möcht ich wissen. Was freut dich denn an der Doktorei? Was kann dir denn das sein?«

Christian war überrascht von dem dringenden Ton und dem Glanz in ihren Augen. Mit schwerfälligen Argumenten suchte er sie zu belehren. Er sprach wie zu einer ihm Gleichgestellten, mit Achtung und Artigkeit. Karens Augen wurden glänzender und glänzender. Sie verstand nicht ganz den Sinn seiner Rede, aber sie hatte den Kopf weit aus dem Bett gebeugt und lauschte atemlos.

Christian sagte, daß es nicht die Medizin gewesen sei, die ihn angelockt, sondern die Betätigung mit Menschen. Da sei es naheliegend gewesen, etwas zu wählen, wobei ihm gewisse schon erworbene Kenntnisse den Weg abkürzen konnten. Zur Zeit, als er sich dazu entschlossen, habe er noch praktische Pläne und Vorstellungen gehabt; die habe er jetzt nicht mehr. Er habe geglaubt, es könne ihm zur Bestreitung seiner Lebensbedürfnisse dienen; er sehe aber jetzt, daß er sich getäuscht habe, und daß er unfähig sei, mit geistiger oder seiner Hände Arbeit Geld zu verdienen. Daß er zu dieser Einsicht gelangt, sei noch nicht lange her. Er habe neulich den Studenten Jacoby in dessen Wohnung besucht und ihn nicht angetroffen; da sei gerade das Kind der Mietsfrau von einer Leiter gestürzt und regungslos liegengeblieben. Er habe es ins Zimmer getragen, mit Spiritus eingerieben, das Herz behorcht und sei eine Weile bei ihm gesessen. Als es dann wieder munter geworden und er sich zum Gehen angeschickt, habe ihm die Mutter ein Zweimarkstück in die Hand drücken gewollt. Er habe Mühe gehabt, der Frau nicht ins Gesicht zu lachen. Weshalb er sich geschämt, sei schließlich nicht einzusehen, aber er habe sich dermaßen geschämt, daß ihm schwindlig geworden sei. Und dann habe er sich gesagt: Das kannst du nicht, das kannst du nun und nimmermehr.

Während er dies erzählte, wurde ihm bewußt, daß er sich gegen Karen zum erstenmal über sich äußerte. Es fiel ihm nicht schwer; der Grund lag in der feierlichen Aufmerksamkeit, mit der sie ihm zuhörte und die ihr Gesicht veränderte. Es verjüngte sich. Ein Wohlgefühl durchflutete ihn, eine eigene, sogar über die Haut sich ausbreitende Freude. Er hatte eine solche Freude noch nicht kennengelernt. Es war ein neues Gefühl.

Mit freierem Ausdruck fuhr er fort zu sprechen, gelöster und offener noch; das Studium an sich sei ihm gleichgültig; es sei für ihn ein Mittel zu etwas anderm. Wohin es ihn führen werde, wisse er nicht; was die Zukunft anlange, habe sich in letzter Zeit seine Unklarheit vermehrt. Er habe, wie gesagt, etwas Bestimmtes von sich erwartet, nämlich, daß er in einen Beruf würde treten können wie die meisten jungen Leute; aber er habe sich in seiner Erwartung getäuscht. Trotzdem wisse er, daß er im wesentlichen nicht fehlgegangen sei; er übe sich; jeder Tag bereichere ihn; er käme jetzt den Menschen ganz anders nahe; es werde aller Flitter und Aufputz von ihnen genommen. So ein Krankensaal, so ein Wartezimmer in der Klinik, so ein Betäubter auf dem Operationstisch, so ein Spital mit Hunderten von Leidenden, da gebe es keinen Betrug mehr, da packe einen die Wahrheit an, da begreife man vieles, was man vorher nicht begriffen, da könne man in der Welt lesen wie in einem Buch. Brustkranke Kinder, skrofulöse Kinder, Kinder, die mit großen Augen in den Tod schauen, wer das nicht gesehen habe, der lebe gar nicht richtig. Und wo sie alle herkamen und wo sie alle hingingen, und was sie zueinander redeten, die Mütter, die Väter, dies Gewimmel, und jeder einzelne wieder für sich wunderbar interessant. Grausiges schrecke ihn nicht mehr, keine Wunde, keine aufgeschnittene Brust; er sei schon kalt; sei sogar willens, sich für den Dienst in den ostpreußischen Leprabaracken zu melden; es zwinge ihn hinunter, immer weiter hinunter in die Menschheit; er könne nicht satt werden; nur hinunter, hinunter, es gebe ja immer noch Gräßlicheres, noch größere Qual, und das müsse er in sich hineintun, sonst habe er keinen Frieden. Später werde er noch andre Wege finden; an den Kranken, wie gesagt, übe er sich nur; die Leiber seien eins, die Seelen seien ein zweites; immer wenn etwas Heimliches und Verborgenes sich für ihn entschleiert habe, werde ihm leicht ums Herz.

Die Arme auf den Bettrand gestützt, vorgebeugt wie über eine Brüstung, mit gierigem Staunen starrte ihn Karen an. Sie verstand und verstand auch nicht, verstand den Sinn und nicht die Worte, jetzt wieder die Worte und nicht den Sinn; nickte, grübelte, verzog den Mund, lachte lautlos, wie irr, hielt den Atem zurück, ahnte ihn, ahnte Christian, diesen noblen, schönen fremden Menschen, der ihr bis zur Stunde rätselhaft gewesen, ahnte ihn, wußte ihn und kam sich vor wie in Schmiedeglut. Daß man schweigen mußte, daß man zugeriegelt war, daß alles wie Klotz und Stein in einem lag, daß man nicht die Worte hatte, nicht ein einziges, daß man nicht einmal sagen konnte: du Mensch, komm her! Er war ja von Fleisch wie sie, und alles Fleisch an ihr war aufgelockert: sie spürte Dank, wie sie sonst Verzweiflung, Müdigkeit, Schimpf und Haß gespürt, spürte Dank als aufschießende, durch eine Wildnis schlagende Flamme, ein Drängen, ein wehes Jubeln, und doch wieder Verzweiflung dann. Daß man so zu war, so entsetzlich zu!

Mit befremdender Eile ging Christian fort. Karen rief Isolde Schirmacher herein und gab ihr Urlaub bis zum Abend. Sie stand auf und zog sich an. Langsam, mühsam; sie konnte sich kaum auf den Beinen halten; das Zimmer tanzte, der Tisch hing an der Decke, der Ofen war verkehrt. Aber mit jedem Schritt trat sie sicherer auf, wenngleich die Luft in den Ohren gestockt war. Die Perlenkette vergrub sie im Mieder. Sie wankte die Stiege hinunter; alles war ihr bunt. Für ihn etwas tun! Der Gedanke trieb vorwärts. Sie wollte sich zu einer Droschke schleppen und auf den Zionskirchplatz fahren. Wo ist das Kind? Wo hast dus hingebracht? Und wenn die Alte Geschichten machte, dann ihr an die Gurgel und so lange gedrosselt, bis sie Farbe bekannte.

Für ihn etwas tun! Ihm beweisen, daß es eine Karen gab, von der er noch nicht wußte.

Und sie kroch an den Häusern entlang.

Als sie von einem Schutzmann und einem Arbeiter unter Aufsehen und Zusammenlauf von Neugierigen wieder nach Hause gebracht wurde, mehr getragen als geführt, kehrte Christian eben zurück. Er nahm sie bestürzt in Empfang. Sie war bleich wie Kalk. Man legte sie aufs Bett. Da die Schirmacher nicht da war, klopfte Christian an die Tür der Hofmannschen Wohnung, damit Ruth ihm helfe, Karen zu entkleiden. Sein Blick fiel auf die Schiefertafel, und er las, was Ruth für ihren Bruder aufgeschrieben hatte.

Die formlose Unruhe, die während des ganzen Tags auf ihm gelastet, wälzte sich wuchtiger in sein Gemüt.

19

Nun war es so weit gekommen mit Johanna: sie hatte sich dem hingegeben, den sie verachtete. Endlich hatte sie gültige Beweise gegen sich selbst und brauchte keine Stimme mehr zu fürchten, die sie in Schutz nahm, keine Hoffnung mehr, die ihr riet, sich zu bewahren. Es war überflüssig geworden, den armen Leib zu schonen, nicht länger notwendig, die kleinen Prunk- und Ehrgeizlügen weiterzuspinnen; man war demaskiert; man war, in einem ganz andern Sinn, als die Moralisten ihrer Welt es verstanden, entehrt. Man war grauenhaft entehrt; man war für Zeit und Ewigkeit entehrt. Man war gebrandmarkt.

Nun hatte es seine Richtigkeit mit einem. Nun war alles in Ordnung.

Amadeus Voß war, als er ihr in der Stolpischen Straße aufgelauert, nicht mehr von ihrer Seite gewichen und hatte von Zeit zu Zeit mit manischer Eintönigkeit wiederholt: »Ich liebe Sie, Johanna.« Sie hatte nichts entgegnet. Die Lippen verpreßt, die Augen gesenkt, war sie gegangen, gegangen, länger als eine Stunde. Furcht vor Menschenblicken und Menschennähe hatte sie abgehalten, in eine Tramway zu steigen. Außerdem war er es, der den Weg wählte und stumm befahl. In der Wichmannstraße war er vor einem kleinen Café stehengeblieben. Er fragte nicht, forderte sie nicht auf, er ging einfach hinein und erwartete, daß sie ihm folgen werde. Sie folgte ihm.

In einem halbdunklen Winkel saßen sie einander gegenüber. Er nahm einen Bleistift aus der Tasche und zeichnete Hieroglyphen auf die weiße Tischplatte. Das beklemmende Schweigen hatte beinahe eine halbe Stunde gedauert; endlich sagte er: »Nimmt man das Wort Liebe bloß in den Mund, so macht man sich schon einer gemeinen Trivialität schuldig. Es ist breitgewalkt wie ein Fladen und schmeckt nach Roman. Man schlüpft in andrer Leute Hemd. Im Gefühl ist es einzig, beispiellos, sonderbar, wunderbar, das nie dagewesene Abenteuer, der Traum der Träume; spricht man es aus, ists eine Vokabel aus dem Lesebuch. Aber wie sich verständigen, wenn es einem den Hals zuschnürt und einen so durchschüttert, daß man seine Tage wie ein Narr verbringt? Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt geworden und habe nichts von der wohltätigen Behexung erfahren. Keine Hand hat sich nach mir ausgestreckt, kein Auge hat mich angeschaut, kein gutes Wort hat mich getroffen, und alle, die ich in dieser mir lästerlichen Besessenheit wußte, hab ich mit meinem Haß bespien. Als ich ein Knabe war, gab es kleine erotische Kameradschaften unter uns; jeder Junge hatte sein Mädchen, mit dem er tändelte und allerhand Dummheiten trieb. Ich schloß mich davon aus. Ich haßte. Wenn sie am Sonntagnachmittag vors Dorf spazierten, ging ich dem einen oder andern Pärchen heimlich nach, und ließen sie sich irgendwo nieder, um zu plaudern und zu schäkern, so beobachtete ich sie aus gedecktem Hinterhalt mit Wut und Erbitterung. Sie haben ja ziemlich viel Scharfsinn, und so können Sie sich leicht ausmalen, wie mir zumute war, und wie mir später zumute war, und wie mir immer zumute war, bis auf den heutigen Tag. Sehnsucht, na ja, das ist auch so ein ausgelaugter Begriff. Ich habe bisweilen dahin und dorthin gelangt in der Verworrenheit und feigen Gier, bin erzittert, wenn mich ein Weiberärmel streifte, war der Hanswurst von einer, die es darauf anlegte, daß ich auf den Leim kroch, hab mir das Blut vergiften lassen von der Tänzerin, unseligen Andenkens, hab in der Gosse gefischt und mich mit dem Abhub besudelt, bloß um die Natur zum Schweigen zu bringen, die erbarmungslose Natur, die ein Erbteil des Bösen ist, das Werk Satans.«

Er hatte den Blick nicht vom Tische erhoben, und die Hieroglyphen bedeckten die halbe Platte. »Ich will nichts versprechen mit meiner sogenannten Liebe,« fuhr er fort, und sein herabgebeugtes Gesicht zog sich schmerzhaft zusammen, »ich weiß nicht, wohin sie mich führt, und diejenige, die sich entschließt, mir zu gehören. Mir zu gehören, wie das klingt; schauerlich, nicht wahr? Ich weiß nur, daß die Betreffende sich um mein Seelenheil verdient machen würde, mich erlösen würde von der Folterbank. Sie werden antworten: Was kümmert mich Ihr Seelenheil? Was scheren mich die Folterqualen eines verlorenen Sünders? Gut, reden wir davon nicht. Aber denken Sie einmal nach, ob Sie das noch sonstwo auf dem Erdball gewinnen können, einen Menschen ganz und gar, einen Menschen mit Haut und Haar? Mir ist jeder Schritt und jeder Hauch von Ihnen grenzenlos teuer; die Wimpern Ihrer Augen und der Saum von Ihrem Rock enthalten für mich das gleiche Leben; in Ihren Gelenken bin ich drin, Ihr Herzschlag erschüttert mich. Es gibt eine Angst vor dem eignen Herzschlag; es gibt auch eine vor dem des andern. Soll ich mich noch weiter explizieren? Es ist genug. Worte sind so unheilig und immer bloß nebendran.«

Da war das Weib in Johanna erlegen. Grausige Neugier bekam Gewalt über sie; weil ihr alles Tun und Sein überhaupt fratzenhaft erschien, ließ sie sich müde und geschlagen in die verzweifelt aufgereckten Arme gleiten.

Sie fühlte sich ins Finstere gerissen; Hitze brütete, Glut fraß. Die rasende Leidenschaft, vor der sie bang abwehrend, frivol-anlockend, stumm-duldend, verwegen-schürend stand, hatte Züge von Raubgier und Kannibalismus. Ein orgiastisches Tier fiel sie an und stürzte zerknirscht vor ihr nieder. Zerstörende Ekstasen und zermalmende Ermattungen wirkten hart gegeneinander. Räume flohen fahl wie auf der Leinwand des Kinematographen; Stunden wurden nicht durchlebt, sie verwesten.

Sie schrieb an ihre Schwester nach Bukarest: »Eine Bitte: Du befindest dich doch in unmittelbarer Nachbarschaft des Morgenlands, und dort soll es mächtige Zauberer geben. Könntest du nicht einem von ihnen mit deiner berühmten Verführungskunst auf den Leib rücken und ihm die Zauberformel ablisten, durch die man sein Ichbewußtsein los wird? Könnt ich zum Beispiel für das meine, durchlöchert und zerfranst, wie es ist, ein frisch gebügeltes und modern fassoniertes eintauschen, so wäre mir radikal geholfen; ich könnte einen bessern jüdischen Fabrikanten heiraten, Kinder in die Welt setzen, Kuglerbonbons verzehren, Badereisen machen, mit der Jeunesse dorée flirten, kurz, meine Ideale verwirklichen. Ich flehe dich an, Clarisse, such mir einen Zauberer, einen alten oder einen jungen, gleichviel; einen Zauberer, und ich bin gerettet.«

20

Um acht Uhr abends klopfte Christian abermals an Ruths Tür. Niemand öffnete. Er wunderte sich.

Er wußte, daß der Schlüssel unter der Strohmatte lag, wenn alle fortgegangen waren. Er hob die Matte auf; der Schlüssel war da. Er ging ins Zimmer zurück.

Karen schien zu schlafen. Ihr Gesicht glich einem Stück Kreide. Der strohige Haarwust, ein lodernder Helm, stach grell aus dem Weiß.

Sie hatte sich, nachdem sie eine Weile starr gelegen war, selbst entkleidet und war stumm ins Bett geschlüpft.

Immer wieder horchte Christian gegen die Wand, ob nicht Stimmen und Geräusche aus der Hofmannschen Wohnung kämen. Es blieb still. Als zwei Stunden verflossen waren, trat er mit der Kerze in der Hand auf den Gang: der Schlüssel lag noch unter der Matte.

Ihm war, als vernehme er irgendwo in der Luft ein Klagen. Er hielt sich nicht für befugt, aufzusperren und in die Wohnung zu dringen, aber nachdem er einige Zeit unschlüssig gestanden, steckte er den Schlüssel ins Schloß und öffnete die Tür.

Das öde Zimmer hauchte ihm Melancholie entgegen. Er stellte die Kerze auf den Tisch; sein Blick fiel auf den offen liegenden Brief des Agenten Hofmann. Er zögerte, ihn zu lesen. Er glaubte Schritte zu hören und lauschte. Das Gefühl, der Brief werde Ruths Ausbleiben erklären, bestimmte ihn, nach ihm zu greifen, und er las.

Da war freilich kein Zweifel mehr, dünkte ihm. Sie hatte den Vater noch bei jemand in der Stadt vermutet und hatte sich auf den Weg gemacht, um ihn an der Ausführung seines Entschlusses zu verhindern. Der Betreffende wohnte wahrscheinlich in der Prenzlauer Allee, und Michael, als er die Nachricht auf der Schiefertafel und dann den Brief gelesen hatte, war ebenfalls dorthin geeilt.

Trotzdem der Gedankengang plausibel schien, blieb Ungewißheit in durcheinanderflutenden Bildern. Fragend glitt sein Auge über die Möbel und Wände, mit scheuer Zärtlichkeit streiften seine Finger über die Bücher auf dem Tisch, die Ruth unlängst berührt hatte. Er verließ das Zimmer, schloß die Tür, versteckte den Schlüssel unter der Matte und ging in Karens Wohnung zurück.

Er verlöschte das Licht und legte sich auf das Sofa. Diese Nächte des verkürzten und horchenden Schlafs nahmen ihn stark mit. Seine Wangen fielen ein; die Nase wurde spitz, die Augenlider entzündeten sich, das Gehirn war gespannt wie eine Trommel.

Das Haus, in jene tückische Erstarrung versunken, die sein Kennzeichen Nacht für Nacht war, stellte sich ihm als ein gerippehaftes Monstrum dar, bestehend aus zahllosen Wänden, zahllosen Betten, zahllosen Türen, umhüllt von einer übelriechenden Finsternis. Trotzdem liebte er es: er liebte die abgescheuerten Stufen der Treppe; er liebte die Merkmale der Verwitterung an Mauern und Pfosten; er liebte das Feuer, das in den Herdlöchern brannte und das er in den Wohnungen beim Vorübergehen sah; er liebte das abgemergelte Weib, das in einer Stube einen Säugling keifend beruhigte; er liebte das vielfältig Trostlose der ineinander gezahnten Existenzen; er liebte die kleinen, verwelkten, rußbedeckten Blumenstöcke an einem Hoffenster, die gelben Äpfel auf den Simsen, die Papierschnitzel im Hausgang, den Küchenabfall sogar, den schmutzige Mädchen in Trögen vors Tor trugen.

Während sein inneres Schauen an der Strohmatte hing und dem Schlüssel, der darunter lag, an dem Brief des Agenten Hofmann und den Büchern und Heften auf dem Tisch, dem Kattunkleidchen am Nagel und dem Laib Brot auf der Anrichte, formte sich aus alledem die Gestalt Ruths und trat daraus hervor wie aus Elementen, von denen sie geschaffen worden.

Er entsann sich eines Besuchs im Warenhaus mit ihr, wo sie sich billige Handschuhe gekauft hatte. Im Menschengewühl war er an ihrer Seite durch die Räume gegangen, und er erinnerte sich des stillen Entzückens in ihrem Gesicht, mit dem sie die Gebirge von schneeweißer Wäsche und bunten Seidenstoffen betrachtet hatte; die Spitzen, die Hüte, die Gürtel, die Kostüme, alles, was ein junges Geschöpf bezaubern und verführen muß. Aber ihr Genügen war dieses eigne stille Entzücken, mit dem sie sagte: es ist da; gut, daß es da ist. Kein Langen und Verlangen, nur Entzücken darüber, daß es da war.

So ging sie auch unter den Menschen umher, ohne Langen und Verlangen; empfing den festlichen Lichterglanz der illuminierten Läden, den Reichtum, der aus Palästen prahlte, den Taumel der Vergnügungen, der diese Stadt durchfieberte, wenn sie ihrer Arbeit vergessen wollte; so wies sie die Lockungen zurück, das Gift von tausendfachen Betäubungen, wies zurück, was über das Maß und die Kraft ging, warf ihre Jugend über die Welt, stand in schamhafter Ergriffenheit inmitten.

Er war eines Tages dabei gewesen, als sie mit dem Studenten Lamprecht stritt, der demagogische Grundsätze entwickelte. Sie hatte eine reizend plauderhafte Art, zu disputieren, dabei waren ihre Ansichten äußerst entschieden. Man hatte von der Tat und vom Opfer gesprochen, und Ruth sagte, sie könne den Unterschied zwischen beiden nicht sehen, es gäbe Fälle, wo sie verschwistert seien oder gar ein und dasselbe. Schließlich rief sie aus: »Alle Hindernisse besiegt doch nur der Geist; er umschließt die Tat und das Opfer.« Als ihr der Partner entgegenhielt, daß der Geist doch verkündet werden müsse, und daß dies schon wieder Tat sei, sagte sie mit heißen Wangen: »Muß man ihn wirklich verkünden? Dann nenn ich ihn nicht mehr so. Herzensdienst ist besser als Mund- und Händedienst.«

Da sah Christian, obschon mit dem Lächeln dessen, der überlegen bleibt, weil er sich nie in Streitfragen mischt, daß ihm diese Stimme unentbehrlich geworden war, dieses Auge, das erglühte, glühende Gefühl, die schwingende, tieferfahrene, tiefjunge Seele. Sie gab ihn sich selbst. Sie war die Schwester und der Freund. Er wußte sich durch sie. Sie war der Mensch. Kein Schlaf wollte sich einstellen. Beständig kam sie in der Dunkelheit schattenhaft und fand den Mut nicht, ihn anzureden. Er schreckte bisweilen empor, und sein Herz klopfte schnell. Einmal sah er sie körperlich vor sich. Er hörte ein flehendes Flüstern, bei dem es ihn kalt überlief. Er stand wieder auf und zündete Licht an. Karen stöhnte.

Er trat an ihr Bett. »Wasser,« murmelte sie.

Er brachte ihr Wasser, und während sie trank, beugte er sich liebevoll über sie. Ihre Augen blickten ihn groß und klagend an. Sie waren naß.


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