Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9

Von den Ausschweifungen niedergeworfen, machte Felix Imhof notgedrungen halt. Die Kräfte waren verzehrt.

Er zog Ärzte zu Rat, bat lachend um Wahrheit; der, den er zuletzt konsultierte, eine Berühmtheit des Faches, erklärte ihm, er möge auf das Schlimmste gefaßt sein, das Rückenmark sei angegriffen. »Tuberkeln?« fragte Imhof sachlich. – »Ja, Tuberkeln.«

»Schön, mein Junge, fünfter Akt, letzte Szene,« sagte er zu sich selbst. Da sich Fieber einstellte und Mattigkeit mit häufigen Schmerzen wechselte, legte er sich zu Bett, ließ die Fenster verhängen, die Spiegel entfernen und schaute mit dem Ausdruck eines Kindes, dem bange ist, Stunden und Stunden hindurch in die Luft.

Er hatte nie ohne Menschen sein können. Es wurde ihm bewußt, daß sein ganzes Leben, so weit er zurückdachte, dem Gedränge auf einem Jahrmarkt glich. Mit allen hatte er sich verbrüdert, alle hatten sich an ihn gehängt, alle hatten etwas gewollt, allen etwas zu gelten hatte er sich beständig bemüht; aber wer war geblieben? Keiner. Nach wem trug er Verlangen? Nach keinem. Wer würde um ihn trauern? Keiner. Kein Mann, kein Weib.

Wie mögen sie über mich reden, wenn ich nicht mehr bin? fuhr es ihm durch den Kopf. Richtig, der Imhof, wird es heißen, erinnert ihr euch? Netter Kerl, guter Kamerad, nie schlapp gewesen, immer gut aufgelegt, immer auf der Jagd nach neuen Dingen, tolles Huhn im ganzen. Ihr müßt euch doch erinnern; so und so sah er aus, geschwatzt hat er wie ein italienischer Pfaffe, das Geld rausgeschmissen wie ein Idiot und gesoffen wie ein Loch.

Aber viele würden sich trotzdem nicht erinnern, würden die Achseln zucken und von etwas anderm zu sprechen anfangen.

Er hatte weder Vater noch Mutter, keine Geschwister, keine Verwandte und auch keinen eigentlichen Freund. Seine Herkunft war unbekannt; nie würde das Geheimnis gelüftet werden: er war vielleicht aus der Hefe, vielleicht aus edlem Blut; aber darin war keine Romantik und kein Reiz, sondern die vom Schicksal der größeren Deutlichkeit wegen noch besonders geprägte Formel seines Daseins als eines einzelnen, Losgelösten und auf sich Beruhenden.

Er hatte keine Wurzel, keinen Zusammenhang, keine Bindung. Er war er; weiter nichts; eine Persönlichkeit von zeithaftem Zuschnitt, mit keiner andern vergleichbar und in ihrer Linie vollendet.

Er hatte nicht einmal einen Diener, der durch Familienüberlieferung oder Anhänglichkeit an den Namen ihm zur Treue verbunden war. Keine Seele war ihm zu eigen, nur Dinge, die er bezahlt hatte.

Er hatte den Künstlern und den Kunstwerken viel selbstlose Begeisterung entgegengebracht; ein schönes Gedicht, ein gutes Bild hatte seinem Geist Schwungkraft, seiner Lebensstimmung jene Heiterkeit verliehen, die alle Müden und Flauen in seiner Umgebung erfrischt hatte. Aber wenn er sich jetzt die Eindrücke ins Gedächtnis rufen wollte, die ihm unvergeßlich gedünkt, so griff er ins Leere. Da, wo ihn stets ein sprudelnder Quell erquickt, war eine trockene Steinrinne. Was war es also mit der geliebten Kunst, daß sie das Gemüt so wenig nährte wie ein flüchtiges Abenteuer am Weg? Was fehlte da?

Es waren ihm aus dem Zusammenbruch seines Vermögens noch einige Schätze verblieben, ein Gemälde von Mantegna: die Könige aus dem Morgenland, eine Statue des Dionysos von frühgriechischer Arbeit, eine Plastik von Rodin, ein Blumenstück von Van Gogh. Diese kostbaren Gestaltungen und mehrere andere noch ließ er in sein Zimmer bringen und vertiefte sich in ihre Betrachtung. Aber der glückliche Rausch, den er ehedem dabei empfunden, wollte sich nicht einstellen. Die Farben schienen dumpf, der Marmor war ohne Wärme und ohne Leben. Was war vorgegangen? Was hatte sich verändert?

Auf dem Tisch neben seinem Lager stand ein Stundenglas. Er schaute zu, wie der rötliche Sand, fein und hurtig wie Wasser, aus dem oberen Kegel durch ein Ohr in den untern rieselte. Dies dauerte jedesmal zwölf Minuten. Mit aufgestützten Armen schaute er zu, drehte das Glas, drehte es wieder, wenn es oben leer war; und seine Augen hatten den Ausdruck eines Kindes, dem bange ist.

Eines Tages, während er dem Rieseln des Sandes zusah, sprach er laut vor sich hin: »Sterben? Was heißt denn das? Ist ja Blödsinn.«

Es war absurd, ein absurdes Wort, er konnte es nicht fassen und durchdringen. Kaum hatte er begonnen, sich die leiseste Vorstellung davon zu machen, so fand es sich, daß diese Vorstellung schon wieder vom Begriff des Lebens ausging. Man hatte sich bis jetzt in einem Raum aufgehalten und sollte ihn verlassen; aber dort, wohin man gehen sollte, war ja auch Raum, und man konnte den Raum nicht denken, ohne daß man sich selbst dachte. Also.

Ein Frösteln kam ihn an. Dann lächelte er gierig. Er dachte an die genossenen Freuden, an die Fülle und Überfülle von Lust und Erwartung, von Erregungen und Triumphen; an die Feste, die Gelage, die Reisen, die Unternehmungen, die Spiele, den ganzen fröhlichen, bunten, abwechslungsvollen Kampf. Wie fein war es gewesen, des Morgens aufzustehen mit seinen geraden Gliedern; wie fein, daß Räder rollten, Zeitungsjungen schrien, Glocken tönten, Hunde bellten; wie fein, wenn ein junges Weib, bereit zur Liebe, das Haar löste, die Kleider abstreifte und wie von einer Frucht, die man schälte, die leuchtende Haut sichtbar wurde; und die netten Kameraden, und die prachtvollen Pferde; und wenn man nachts nach Hause kam, halbbetrunken, wie man sich im Flur nach der ersten Treppenstufe sehnte; die Treppe, das war so behaglich, so logisch, so befreiend; und wie oben das Fenster offen war und ein Blumenstrauß wo; und man fühlte jederzeit und jeden Orts: du bist da, bist mitten drin, es schäumt in dir, brüllt in dir, du bist der Herr, du befiehlst und es gehorcht, und morgen wird sein, übermorgen wird sein, endlos Tag um Tag wie schlanke Bäume an einer schöngewalzten Straße, und man war sich so zärtlich gesinnt, der eigene Atem war einem schmeichelhaft; man fraß die Luft, das Licht, fraß und fraß und fraß, Wolken, Menschen, Worte, Lieder, und alles war gut, Schlechtes war gut, Häßliches war gut, Regenwetter war gut, Dreck von Pfützen war gut, alles war gut, denn man lebte.

Er drehte die Sanduhr um und sank auf die Kissen zurück. Da fiel sein Blick auf eine kleine, graue Spinne, die auf der purpurseidenen Tapete emporkroch. Er erschrak. Seine jähe Eingebung war die: Es ist möglich, es ist sogar wahrscheinlich, daß die Spinne noch dasein wird, wenn ich nicht mehr dasein werde. Dies erschreckte ihn über alle Maßen, und er verfolgte das Kriechen des Insekts mit atemloser Spannung.

Ist denn das denkbar? grübelte er, die unwichtige, scheußliche Spinne wird dasein, und ich nicht? Das ist zum Verrücktwerden. Ich habe nie daran geglaubt und kann und kann nicht daran glauben: Bewußtlosigkeit, Finsternis, Feuchtigkeit, Erde, Würmer, pfui Teufel. Aber daß die Spinne dasein soll und ich nicht? Ich nicht, der den ganzen Weltraum ausgefüllt hat mit seinem Rumpf und Kopf und Beinen? Gibt es eine Philosophie, eine Religion, eine Überzeugung, die daran nicht zum faustdicken Schwindel wird? Gesetzt den Fall, es hätte einer die Macht, mich leben zu lassen, und ich sollte dafür Straßenkehrer sein, Bettler sein, Sträfling sein, verachtet, bucklig, lächerlich, impotent, – mir scheint beinah, ich würde leben wollen, sogar um diesen Preis. Herrgott, wohin gelang ich denn? Ich bin doch ein Kerl, der auf Ehre und Sauberkeit gehalten hat, was für Schmählichkeiten sind denn das? Bin ich vielleicht je gekniffen, wenn mir einer zu nah getreten ist? Hab ichs versäumt, im entscheidenden Moment meinen Mann zu stellen? Und doch, ich würde leben wollen, um jeden Preis leben. Seelenschmerz? Was ich mir daraus mache! Her damit; Kummer, Enttäuschung, Verbitterung, Haß, Verluste, so viel ihr wollt, nur leben, nur leben!

Eine Stunde später wurde Weikhardt gemeldet. Imhof überlegte, ob er ihn empfangen solle; in den letzten Tagen hatte er alle Besucher abweisen lassen. Den Maler fortzuschicken, den er immer besonders gut hatte leiden mögen, konnte er sich nicht entschließen.

»Ist es Eliphas, Bildad oder Zophar, der zu Hiob kommt?« redete er Weikhardt an; »Sie wissen doch: – als sie von ferne ihre Augen erhoben, erkannten sie ihn nicht; da weinten sie, zerrissen jeder sein Gewand und streuten Staub auf ihre Häupter himmelwärts.«

Weikhardt schmunzelte, aber als sich seine Augen an das Dämmerdunkel gewöhnt hatten und er das entfleischte Gesicht gewahrte, verging ihm der Spott.

Sie sprachen eine Weile oberflächlich gegeneinander. Weikhardt erzählte von seiner Ehe, von seiner Arbeit, seinen vergeblichen Bemühungen um die Sicherung der Existenz, endlich allerlei Kneipen- und Stammtischklatsch. Imhof hörte nur mit halber Aufmerksamkeit zu. Plötzlich fragte er, scheinbar gleichmütig: »Und was macht der wunderbare Salamander in Weibsgestalt?«

»Welcher Salamander? Wen meinen Sie?«

»Wen sollt ich meinen, die schöne Sybil natürlich. Hirnverbrannte Komplikation, daß ein Wort, das seelenlose Wort einer Seelenlosen einen schwebenden Prozeß zu so rapider Entscheidung gebracht hat. Fatum, wie? Bestimmung von den Sternen her?«

»Ich verstehe nicht . . .« murmelte Weikhardt.

»Wirklich nicht? Sie wußten wirklich nicht, daß sie mich zu den Niggers gezählt hat, die schauerliche Puppenfee, und daß ich mich auf meine Weise an ihr rächte? Spielte einen Trumpf aus, der mich die Partie kostete. Ging hin und suchte die Gemeinschaft, in die mich der eiskalte Hohn gewiesen. Schlief mit einer Schwarzen, um die Weiße zu schänden und ihren Dünkel wenigstens in meiner Einbildung zu brechen. Sublim, was? Und Sie wußten nichts davon?«

»Ich wußte nichts,« flüsterte Weikhardt bestürzt. Ein langes Schweigen trat ein.

Da sagte Imhof mit veränderter Stimme: »Was dann weiter folgte, war ja nicht viel anders, als wie ichs früher getrieben hatte. Aber der Nerv war schon krank, die Lebensader vergiftet. Manchmal lockts mich, die ekellangsame Hinrichtung durch eine Kugel zu beschleunigen. Bißchen Schmiß in die Sache zu bringen. Ist doch gar zu würdelos, den Tod mit einem umgehen zu sehen wie eine satte Katze mit der Maus in der Falle. Man könnte auch ein Feuerwerk veranstalten, das Haus anzünden und à la Sardanapal mit grandioser Geste von hinnen fahren.«

»Es wäre kitschig,« bemerkte Weikhardt; »Sie würden es einem andern nie verzeihen.«

»Ich kanns auch nicht. Klammere mich verzweifelt an den tristen Fetzen Dasein. Dasein, was das bedeutet, Dasein!« Er biß in das Polster und stöhnte: »Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben!«

Weikhardt stand auf und wollte sich dem Bett nähern, doch Imhoff wehrte leidenschaftlich ab. »So muß ich büßen,« knirschte er, »so wird der Fresser gefressen. So schmeißt mich die Zeit aus ihrem Arm. Sehen Sie sich ihn nur an, den Kerl, der sich windet und um Pardon schreit und berichten Sie den andern darüber. Grüßen Sie sie von mir, grüßen Sie die lieben Jungens und Mädels! Adieu, Freund, adieu, adieu!«

Weikhardt nahm wortlos Abschied.

10

Karen war zur Erde bestattet. Viele Bewohner des Hauses waren mit zum Grab gegangen. Christian glaubte auch Johanna und Voß bemerkt zu haben.

Auf dem Heimweg ging Doktor Voltolini an seiner Seite. Sie gingen eine Weile schweigend, da kehrte sich Christian, ein unangenehmes Gefühl im Rücken verspürend, plötzlich um. Etwa zehn Schritte hinter sich sah er Niels Heinrich Engelschall. Dieser blieb stehen, als Christian stehenblieb, und schaute in eine Auslage.

Auf dem Kirchhof hatte sich Christian von den Freunden losgemacht, die ihn begleitet hatten; auch jetzt wäre er lieber allein gewesen, aber er mochte den Doktor nicht verletzen.

An ein Gespräch anknüpfend, das sie schon vor dem Leichenbegängnis geführt, sagte Doktor Voltolini: »Man müßte diesen Stübbe von seiner Familie trennen und in eine Anstalt schaffen. Das Delirium kann jeden Moment zum Ausbruch gelangen, dann erschlägt er vielleicht die ganze Gesellschaft. Und wenn auch nicht, die arme Frau wird die Mißhandlungen nicht mehr lange aushalten. Sie ist mit ihren Kräften am Ende.«

»Ich bin in den letzten Tagen ein paarmal dazwischen getreten,« antwortete Christian leise; »Leute von nebenan halfen mir. Solch ein Mensch ist ärger als ein Wolf. Und die Kinder stehen herum und zittern.«

»Es ist so schwer, bei den Behörden Präventivmaßregeln durchzusetzen,« sagte Doktor Voltolini; »der Paragraph ist stärker als Vernunft und Menschlichkeit. Ist ein Übel geschehen, so erhebt sich das Gesetz, unbarmherziger oft, als es notwendig wäre. Es abzuwenden, dazu kann man es niemals bewegen.«

Christian drehte sich wieder um. Noch immer ging Niels Heinrich hinter ihm; abermals blieb er stehen, als Christian stehenblieb, sah gleichgültig in die Mitte der Straße und spuckte aufs Trottoir.

»Es wird nicht danach gefragt, was man weiß und will, sondern danach, was man tut,« sprach Christian weitergehend.

»Und das Getane, ist es selbst von der reinsten Absicht beseelt und vom strengsten Pflichtbewußtsein diktiert, wird mit Schmutz beworfen und man muß dafür leiden, wie für ein Verbrechen,« entgegnete Doktor Voltolini bitter.

»Ist Ihnen das widerfahren?« erkundigte sich Christian mit seiner scheinbar konventionellen Teilnahme, doch mit aufgeschlossenem und schon lauschendem Blick.

»Ich rede nicht gern davon,« begann der Doktor mit trüber Miene, »ich habe hier noch mit niemand davon gesprochen. Sie sind der erste, der einzige, bei dem ich den Wunsch habe. Gleich nachdem ich Sie kennenlernte, regte sich der Wunsch in mir. Nicht als ob Sie mir raten oder beistehen könnten; dazu ist es zu spät. Das Unheil hat ausgetobt und gehört der Vergangenheit an. Aber das immerwährende Schweigen nagt, und ich entgehe einer Lähmung, wenn ich Ihnen erzählen kann, was sich mit mir zugetragen hat.«

Christian schüttelte, kaum merkbar übrigens, verwundert den Kopf, denn Worte dieser Art hatten schon viele Menschen zu ihm gesagt, und er begriff die Veranlassung nicht.

Doktor Voltolini fuhr fort: »Bis vor zwei Jahren war ich Arzt in Riedberg bei Freiwaldau im österreichischen Schlesien. Der Ort liegt wenige Meilen von der preußischen Grenze entfernt; in unmittelbarer Nähe hatte man Heilquellen gefunden, Badegäste kamen, die Frequenz nahm von Jahr zu Jahr zu, und ich gelangte mit meiner Familie allmählich zu behaglichen Lebensumständen. Da geschah es zu Anfang des Sommers 1905, daß das Weib eines Häuslers vom Typhus befallen wurde, und ich tat, was meine beschworene Pflicht als Gemeindearzt war, ich zeigte die Erkrankung an. Einige Bürger wollten es verhindern; sogar die Sanitätskommission, deren Vorsitzender der Bürgermeister war, erhob Einwände und stellte mir vor, daß die Kurgäste den Ort verlassen und wahrscheinlich für lange Zeit in Verruf bringen würden. Ich erklärte, ich handle im Interesse des allgemeinen Wohls, demgegenüber kämen materielle Rücksichten nicht in Frage. Sie versuchten es mit Bitten, mit Drohungen; ich ließ mich nicht einschüchtern. Die nächste Folge war, daß eine Militärabteilung, die in Riedberg hätte einquartiert werden sollen und von deren Verweilen man sich Gewinn erhofft hatte, nach einem andern Ort befehligt wurde. Unter den Kurgästen entstand die befürchtete Panik; die meisten ergriffen die Flucht. Nun ergoß sich eine schmutzige Flut von Beschimpfungen über mich; alt und jung tobte in unflätiger Wut. Die Männer erwiderten meinen Gruß nicht; sie spukten aus, wenn sie mich sahen. Der Metzger, der Bäcker, der Milchhändler weigerten sich, meiner Frau die Lebensmittel zu verkaufen. Täglich erhielt ich anonyme Briefe, deren Inhalt Sie sich ungefähr denken können. Die Fenster wurden mir eingeworfen, man kam nicht mehr in meine Sprechstunde, kein Patient wagte es, mich zu rufen, die rückständigen Honorare wurden nicht bezahlt, es regnete Verdächtigungen und Verleumdungen vom albernen Gerede bis zum gefährlichen Inzicht. Endlich wurde mir die Stellung als Gemeindearzt gekündigt. Ich wandte mich an den Reichsverbänd der Ärzte; dieser richtete einen Appell an die Landesbehörde. Der Gemeinderat und die Sanitätskommission wurden vom Statthalter aufgelöst, der Bürgermeister seines Amtes entsetzt, die Kündigung für ungültig erklärt, und eine Gendarmerieescorte wurde geschickt, mit dem Auftrag, mich und die Meinen vor Tätlichkeiten zu schützen. Dadurch besserte sich meine Lage mit nichten. Vor körperlichem Schaden konnte man mich bewahren; die Praxis konnte man mir nicht zurückgeben, die Leute zwingen, mir das Geld zu bezahlen, das sie mir seit Jahr und Tag schuldeten, konnte man nicht. Ich war ruiniert. Im Verlauf von fünf Monaten hatte ich einundzwanzig Ehrenbeleidigungsklagen vor Gericht gebracht, und alle waren zu meinen Gunsten entschieden worden. Aber nach jedem Prozeß kam ich mutloser heim. Daß meines Bleibens in Riedberg nicht war, erkannte ich wohl. Aber wohin sollte ich als unbemittelter Landarzt ziehen, wohin mit Frau und Kind und einer alten, gebrechlichen Mutter? Wie sollte ich die Verleumder zum Schweigen bringen, wie die Schande abwaschen, die Kränkung vergessen? Ich hatte keinen Freund, der mich aufrichtete, die Tröstungen meines Weibes beugten mich nur noch tiefer, denn ich spürte ihre eigne Verzweiflung darin. Ich brach zusammen. Elf Monate lag ich in einem Krankenhaus; die Frau unterdes hatte mit beispielloser Energie eine neue Heimstätte, einen neuen Wirkungskreis für mich bereitet; ich erhielt die Erlaubnis, in Deutschland zu praktizieren, ich fing das Leben von vorne an, und obwohl ich kein Vertrauen mehr hatte, weder zu meiner Befähigung noch zu den Menschen, bin ich in meinem Innern wieder ruhig geworden. Unsere Umstände sind die dürftigsten; aber in dieser großen Stadt ist es möglich, sich eine Einsamkeit zu schaffen, in die kein unberufener Blick zu dringen vermag. Lange Zeit konnte ich meinen Beruf nur ausüben, wenn ich vergaß, daß es Menschen waren, mit denen ich zu tun hatte; es waren Mechanismen für mich, an denen ein Fehler zu korrigieren war; Leid und Schmerz, das nahm ich gar nicht in mich auf, und es bemerken zu müssen, war mir verhaßt. Begreifen Sie es? Begreifen Sie diese Fühllosigkeit und Verachtung?«

»Nach allem, was Sie erlebt haben, begreife ich es,« antwortete Christian; »aber ich glaube, Sie stehen nicht mehr ganz auf demselben Standpunkt. Habe ich recht? Ich glaube, es ist eine Wandlung eingetreten.«

»Ja, gewiß, es ist eine Wandlung eingetreten,« bestätigte Doktor Voltolini. »Und zwar –«; er unterbrach sich und warf einen verstohlenen Blick auf seinen Begleiter. Nach einer Pause fragte er scheu: »Warum haben Sie eigentlich damals gelächelt, als Ihnen das Mädchen, die Schirmacher, den Ring zeigte? Erinnern Sie sich? Sie können mir natürlich erwidern: Es war naheliegend, zu lächeln, denn der Stein, der ihr solche Freude machte, war vollkommen wertlos, und sie zu enttäuschen, wäre roh gewesen. Aber es war doch nicht dieses Lächeln; es war ein andres.«

Christian sagte: »Ich weiß es wirklich nicht mehr genau. An den Ring und an die Freude des Mädchens erinnere ich mich. Ich kann aber doch heute nicht mehr sagen, aus welchem Grund ich damals lächeln mußte. Übrigens wäre es besser gewesen, wenn sie sich weniger gefreut hätte. Ein paar Tage danach hat sie den Ring verloren und weinte stundenlang um ihn, das arme Ding. Es wäre besser gewesen, wenn ich ihr gesagt hätte: Der Ring mitsamt dem Stein ist gar nichts wert. Ich hätte ihr sagen sollen: Wirf ihn weg. Fast immer sollte man den Leuten bei einem derartigen Anlaß sagen: Wirfs weg, es ist besser. Vielleicht habe ich gelächelt, weil ich es gern gesagt hätte und den Mut nicht aufbrachte.«

»So war es auch,« rief Doktor Voltolini hastig und beinahe erregt, »das war der Eindruck, den ich hatte.«

»Wozu davon reden,« wehrte Christian ab.

Sie standen vor dem Haus in der Stolpischen Straße. Niels Heinrich Engelschall, der bis hierher gefolgt war, verschwand zwischen Fuhrwerken.

Doktor Voltolini schaute vor sich nieder, dann sagte er mit verlegenem Zaudern: »Sie könnten in dem Sinne, den Sie selbst angedeutet haben, viel für mich tun, wenn ich Sie hie und da einmal besuchen dürfte. Es klingt ja seltsam bei einem Mann in vorgerückten Jahren, wie ein Schwächegeständnis; ich habe auch gar keine Rechtfertigung für einen solchen Anspruch, aber es wäre mir damit gedient; ich käme weiter; ich könnte mich dann mit dem Schicksal aussöhnen, mit frischen Kräften an den Wiederaufbau meiner Existenz gehen.« Sein Blick richtete sich gespannt in Christians Gesicht.

Christian senkte den Kopf, und nach einigem Überlegen antwortete er: »Ihre Bitte ist sehr schmeichelhaft für mich. Ich stehe Ihnen gern zur Verfügung. Ich hoffe wenigstens, daß ich es kann. Um Sie nicht mit Redensarten abzuspeisen, will ich Ihnen sagen, daß ich in nächster Zeit ungemein okkupiert sein werde. Nicht bloß innerlich, innerlich bin ich es ohnedies; aber auch äußerlich. Ich stehe vor einer schweren Aufgabe, vor einer furchtbar schweren Aufgabe.«

Betroffen von der tiefernsten Miene Christians, fragte Doktor Voltolini: »Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber darf man wissen, was es für eine Aufgabe ist?«

»Die Aufgabe ist, den Menschen zu finden, der Ruth Hofmann ermordet hat.«

»Wie denn?« fragte Doktor Voltolini bestürzt, »ich dächte doch . . . ist denn der Mörder nicht verhaftet?«

Christian schüttelte den Kopf. »Der Verhaftete ist es nicht,« sagte er leise und bestimmt. »Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn vor dem Untersuchungsrichter gesehen. Ich habe ihn auch von einer früheren Begegnung her wiedererkannt. Er ist nicht der Mörder.«

»Das klingt sonderbar . . .« murmelte Doktor Voltolini; »ist es nur Ihre persönliche Meinung, oder vermutet die Behörde gleichfalls –?«

»Es ist keine Meinung,« entgegnete Christian versonnen »es ist vielleicht mehr, vielleicht weniger, wie mans nimmt. Was die Behörde vermutet, weiß ich nicht. Ohne Zweifel hält sie Joachim Heinzen für den Mörder. Er hat ja Geständnisse gemacht. Ich halte die Geständnisse für falsch.«

»Und haben Sie etwas dergleichen vor dem Richter geäußert?«

»Nein; wie könnt ich auch? Ich habe ja nicht einmal einen Verdacht. Ich weiß bloß, daß es der nicht ist, den man für den Mörder hält.«

»Aber wie wollen Sie den wirklichen Mörder finden, wenn Sie nicht einmal einen Verdacht haben?«

»Das weiß ich nicht; aber es muß sein.«

»Wie . . . es muß sein? Was wollen Sie damit sagen?«

Christian erwiderte nichts darauf. Er hob den Blick, reichte Doktor Voltolini freundlich die Hand und sagte: »Wenn Sie also kommen und Sie treffen mich nicht an, so seien Sie mir deswegen nicht böse. Auf Wiedersehen.«

Der Doktor drückte die Hand schweigend und fest.

Christian ging ins Haus, in Karens Wohnung hinauf. Eine Viertelstunde später schritt Niels Heinrich Engelschall die Treppen empor.

11

Ein Fleckchen Sonne zitterte auf der gegenüberliegenden Mauer des Hofes. Der Abglanz davon erhellte den Spiegel über dem Ledersofa. Im Ofen brannte Feuer nur noch schwach; Johanna Schöntag hatte ein paar Schaufeln Kohlen nachgeworfen, ehe sie zum Begräbnis gegangen war. Die Glut knisterte. Im Zimmer wurde es kalt.

Michael Hofmann saß vor dem Schachbrett. Der Student Lamprecht hatte ihm ein Problem aufgestellt. Michael starrte auf das Brett mit den Figuren. Bisweilen sammelten sich seine Gedanken im Willen zur Lösung, dann wieder schweiften sie ab. So weit hatte er sich äußeren Dingen bereits zugewandt, daß er vermochte, die Figuren und ihre Position im Sinn zu halten. Auch in der Nacht, im Finstern – Schlaf war selten – wurden ihm die beiden Könige mit Turm und Läufer zum Bild.

Der Sonnenfleck sank herunter, der Schnee auf dem Pflaster blitzte. Michael sah durchs Fenster. Das Leuchten des Schnees verursachte eine Bewegung in seinem Auge. Das Weiße, warum quälte es? Er hätte es fortwischen mögen, ausblasen, zudecken. Weißes war Lüge.

Er stand auf und ging durch das Zimmer. Frech stoben die Sonnenfunken aus dem Weißen. Die Stube log mit. Laß mich zufrieden, Weißes, rief es in ihm.

Er blieb stehen, lauschte, lauschend zuckten die Augenlider, ihm schwebte etwas vor, es mahnte ihn etwas, nicht so sehr Vergessenes als Unterdrücktes, Ersticktes; er griff in die Tasche seiner Hose und zog einen knäuelartigen, zusammengeballten Gegenstand von schwarzbrauner Farbe hervor. Er betrachtete ihn und begann zu schaudern. In seiner Miene war einen Moment lang dasselbe Grübeln wie beim Anschauen der Figuren auf dem Brett. Dann gerieten die Finger in Unruhe; mehr und mehr erbleichend, bemühte er sich, das Zusammengeballte zu öffnen. Es war ein Tuch; es war ein Taschentuch. Es war einmal weiß gewesen, und nun ganz und gar in Blut getränkt.

Es war weiß gewesen, und nun war es schwarz vom Blut. Es war so erstarrt, vom langen Tragen in der Tasche dergestalt verhärtet, daß das Auseinanderfalten schwierig war, als sei es ein Stück Leder. Endlich bot es die Fläche. In einer Ecke waren die Initialen R. H. eingestickt.

»Weißes ist schlecht und Rotes ist schlecht,« flüsterte Michael vor sich hin mit dem Blick eines gehetzten Hundes. Er rang mit einem Entschluß, suchte nach einem Ausweg, in seinem Wesen war Verzweiflung; er schaute sich um, eilte zum Ofen, riß das Eisentürchen auf und warf das blutgetränkte Tuch in die Glut. Als es in einer raschen Flamme aufflackerte, seufzte er erleichtert und stand bebend da.

12

Niemand war in den Stuben. Das Bett, in welchem Karen gestorben, war hinausgeschafft worden.

Christian schritt eine Weile auf und ab, dann ließ er sich am Tische nieder und stützte den Kopf in die Hand. Er dachte: Ruth hat Karen weggerufen, Ruth wird noch viele wegrufen; was ist die Welt ohne Ruth? Ruth war von allem der Kern, von allem die Seele. Und was ist geschehen mit Ruth, was ist eigentlich mit ihr geschehen? Etwas ungeheuer Gräßliches, ungeheuer Verworfenes, aber auch ungeheuer Geheimnisvolles. Es zu ergründen, mußte man jegliches andre Gefühl und Geschäft hintansetzen, jede Lust, jeden Schmerz, jegliches Vorhaben; Nahrung, Schlaf und selbst das Schauen.

Er dachte über die Verwirrung nach, die Karens Tod in ihm erzeugt hatte. Es war so viel leerer Raum um ihn, seit Karen fort war; der Raum schrie nach ihr und wurde nicht still; Trauer löste sich nur widerstrebend los; dies Dasein war so grell und heftig gewesen wie ein brennender Berg. Man horchte in die geronnene Luft; der Berg war versunken, und an seiner Stelle dehnte sich wüstes Gelände weit.

Es schallten Schritte, die Tür öffnete sich, Niels Heinrich trat ein.

Er nickte geringschätzig gegen den Tisch hin, wo Christian saß. Er trug einen steifen Hut, zurückgeschoben, und behielt ihn auf dem Kopf. Er schaute sich um wie jemand, der eine ausgeschriebene Wohnung mieten will. Er ging in die zweite Stube, kam wieder zurück, stellte sich frech vor Christian hin und schnitt eine Grimasse.

»Was wünschen Sie?« fragte Christian.

Es müßten die Sachen abgeholt werden, antwortete Niels Heinrich, die Witwe habe ihn hergeschickt. Er nannte seine Mutter stets die Witwe. Seine Fistelstimme drang bis in die Ecken. Kleider, Wäsche, Stiefel, überhaupt das Eigentum der Verstorbenen müsse ausgeliefert werden, nachgezählt, fortgeschafft.

Ruhig sagte Christian: »Ich hindere Sie nicht. Tun Sie, was Ihnen beliebt.«

Niels Heinrich pfiff leise durch die Zähne. Er drehte sich um und gewahrte Karens Holzkoffer, der in einem Winkel stand. Er zog ihn in die Mitte der Stube, und da er verschlossen war, hieb er erst mit der Faust, dann mit dem Stiefelabsatz auf den Deckel. Christian sagte, es sei nicht nötig, Gewalt anzuwenden, den Schlüssel habe die Isolde Schirmacher. Da kehrte sich Niels Heinrich schroff zu ihm und fragte, ob da die Perlen drin seien? Als Christian verwundert schwieg, fügte er hinzu, und sein Ton wurde immer gereizter, die Witwe habe ihm die Ohren vollgeblasen von einer Perlenschnur mit Perlen, so groß wie Taubeneier. Wem die zufielen? Die hätten doch zweifelsohne der Verstorbenen gehört, die habe er doch zweifelsohne dem Mädchen geschenkt; wem die zufielen? Die müßten doch der Familie zufallen, wolle er hoffen, den rechtmäßigen Erben, da würden doch hoffentlich keine Fisematenten gemacht.

»Sie sind im Irrtum,« entgegnete Christian kalt; »die Perlen haben Karen nicht gehört. Sie gehören meiner Mutter, und ich war durch ein Versprechen verpflichtet, sie ihr zurückzugeben. Ich werde sie bei nächster sicherer Gelegenheit nach Frankfurt schicken.«

Niels Heinrich stand eine Weile unbeweglich; in den Augen kochte grüne Wut. Soso, ließ er sich endlich vernehmen, nun wolle der Herr vermutlich die Firma liquidieren? Ein armes, dämliches Weibsluder betakeln, sie jahrelang an der Nase herumführen, bis sie hin sei, und dann nicht mal was Anständiges für die trauernden Hinterbliebenen berappen. Aber so billig komme der Herr nicht davon, da habe er, Niels Heinrich, auch noch ein Wörtchen dreinzureden. Und wenn der Herr nicht mit einer tüchtigen Portion Pimperlinge herausrücke, dann könne er was erleben. Dann solle er mal erfahren, wer Niels Heinrich Engelschall sei. Dieser Toback lobe sich selbst, wie es bei Nathusius immer geheißen habe. Er lachte schallkurz und krätschte die Beine.

»Ich weiß, wer Sie sind, aber ich fürchte Sie nicht,« sagte Christian mit einem beinahe heiteren Gesichtsausdruck.

Niels Heinrich stutzte. Sein unsicher werdender Blick fiel auf Christians feine, schmale und gepflegte Hände. Plötzlich musterte er seine eigenen Hände, streckte sie aus, spreizte die Finger. Diese Gebärde interessierte Christian ungemein, er konnte sich über den Grund keine Rechenschaft geben. Der ganze Mensch fesselte ihn auf einmal von einer Seite, die er bisher nicht wahrgenommen hatte, lediglich wegen der Gebärde mit den Händen. Niels Heinrich bemerkte es und stutzte von neuem.

Ob das alles sei, was der Herr zu erwidern habe? forschte er finster; der Herr verstehe sich ja aufs Hochdeutsche, da sei nicht dran zu tippen, und wenn der Herr wünsche, könne auch er, Niels Heinrich, sich hochdeutsch ins Benehmen setzen, weshalb denn nicht? Aber wenn man von Familie sei, von einer so hochnobligen außerdem, wo die Millionenzucht im Schwange sei wie beim Pächter Rademacher die Kaninchenzucht, sei es schofel, sich zu drücken wie ein Zechpreller. Man verlange ja nicht gerade die Perlen. Man verzichte auf die Perlen, obschon er es dahingestellt sein lasse, ob das mit dem leihweisen Geschenk nicht ein Aufsitzer und blitzblauer Humbug sei, ein Gentleman täte so was jedenfalls nicht. Aber Abfindung, die verlange man, darauf bestehe man, das sei man seiner Ehre schuldig, das hätte sich die Verstorbene auch sicherlich so gedacht.

Er musterte wieder seine Hände.

Christian sah ihn aufmerksam an. Er antwortete: »Sie befinden sich auch in dieser Hinsicht im Irrtum. Ich verfüge nicht über Geldmittel. Meine Bewegungsfreiheit ist, was das Geld betrifft, geringer als die Ihre, geringer als die irgendeines Menschen, der durch Arbeit sein Brot verdient.« Er unterbrach sich, als er das Hohnlächeln Niels Heinrichs wahrnahm. In dem Lächeln war so viel Gemeinheit, daß es ihn förmlich blendete.

An die Geschichten glaube er nicht, versetzte Niels Heinrich, und wenn er dafür sollte gerädert werden; der Herr möge ihm sagen, was dahinter stecke, dann werde ers vielleicht glauben; aber es müsse ja einer Regenwürmer im Kopfe haben, um so was zu tun. Der Herr möge ihm sagen, was dahinter stecke, dann gehe ihm vielleicht ein Seifensieder auf. Daß etwas dahinter stecke, wolle er gerne glauben; wer konnte wissen, was für schauderbare Sachen der Herr auf dem Gewissen habe; Herr Papa und Frau Mama verweigerten den Kies und er mache blümerante Flausen. Aber man könne dem Herrn noch allerlei Widerwärtigkeiten bereiten; es gebe ohnehin manche, nicht bloß in der Stolpischen Straße, sondern auch anderswo, denen der Liebeshandel zwischen ihm und der ermordeten Jüdin nicht recht koscher erscheine; er, Niels Heinrich, wisse dies und das, andre wüßten andres, der Herr werde gleichfalls seinen Teil wissen, und werde Farbe zu bekennen haben, wenn man ihm ordentlich auf den Leib rücke. Man brauche bloß an geeigneter Stelle eine Silbe zu reden, und der Herr werde sich noch deutlicher als bisher in den Zeitungen gedruckt lesen, in schöner Eintracht mit dem Bluthund Joachim Heinzen. Da liege dann der Hase im Dreck; oder, um sich hochdeutsch auszuquetschen, da sei dann der Herr bis über die Ohren kompromittiert.

In Christians Miene zeigte sich nicht die leiseste Spur von Empörung oder Ekel. Er schaute mit gesenkten Augen vor sich hin, als denke er darüber nach, wie er möglichst sachlich erwidern könne. Dann sagte er: »Ihre versteckten Drohungen schrecken mich ebensowenig wie die offenen. Wo man meinen Namen nennt und unter welchen Umständen, gesprochen, geschrieben oder gedruckt, berührt mich nicht im mindesten. Kompromittiert werden kann ich in gar keiner Weise. Niemand hat durch seine Meinung oder durch sein persönliches Verhältnis Einfluß auf mich, auch die nicht, die mir früher am nächsten gestanden sind. Es ist das also der dritte Irrtum, den ich Ihnen rauben muß. Allem, was Sie vorgebracht haben, fehlt die reale Unterlage, besonders Ihrer Anspielung auf meine Beziehung zu Ruth Hofmann. Darüber ist keinem Menschen etwas bekannt, und ich habe mich zu keinem Menschen darüber geäußert. Ruth hat es gewiß nicht getan. Mit welchem Recht maßen Sie sich also ein Urteil an, und noch dazu ein so schimpfliches? Sie ahnen gar nicht, wie weit es von der Wahrheit entfernt ist. Trotzdem wundert es mich, daß Sie von ihm eine Wirkung erwarten, und daß Sie annehmen, eine so falsche und inhaltlose Beschuldigung könnte mich treffen oder ängstigen. Aber wollen Sie nicht lieber Platz nehmen? Sie stehen so feindselig da. Es ist gar kein Anlaß zu Feindseligkeit zwischen uns, ich wollte Ihnen das schon längst sagen. Wenn Sie über etwas noch im unklaren sind, was mich oder Ihre verstorbene Schwester angeht, will ich Ihnen mit Vergnügen Auskunft geben; dafür möchte ich auch Sie bitten, mir ein paar Fragen zu beantworten. Setzen Sie sich doch.« Er wies höflich auf einen Stuhl.

Diese Worte, diese Ruhe, diese Höflichkeit verblüfften Niels Heinrich außerordentlich. Er war auf ein Aufbrausen gefaßt gewesen, auf zornige oder stolze Zurückweisung; auf die übliche Gegendrohung, mit der ein unverhüllter Erpressungsversuch wie der seine abgefertigt zu werden pflegt; auf Bestürzung, auf Kleinmut schließlich; auf diese Höflichkeit war er nicht gefaßt gewesen. Sie war so grundverschieden von allem, was er im Verkehr mit Menschen erfahren hatte, daß seine Augen eine Weile bloß rund stierten, als habe er einen Unzurechnungsfähigen vor sich, dessen Gebaren halb lächerlich, halb mißtrauenerweckend war. Er griff nach dem Stuhl und setzte sich: angriffsbereit und hämisch geduckt.

»Der Herr redet wie 'n Linksanwalt,« spottete er; »der Herr könnte bei Jericht sein Jlücke machen. Wat wolln Se mir denn fragen? Schießen Se man los. Nur keene Bange nich. Und da sich der Herr einer so gebildeten Rede befleißigt, kann ich mir ja den unjewaschenen Schnabel 'n bisken pomadisieren. Ick versteh mir, wie jesagt, ooch uf jebildet. Ick laß mir in dem Punkte nich lumpen. Habe sogar als kleener Junge mal in 't Jymnasium jerochen. Die Witwe hatte damals noch Ambitionen.«

Der Hohn klang auf einmal mühselig; er biß auf das Eisen der Kette.

»Sie erwähnten vorhin Joachim Heinzen,« sprach Christian; »Sie sagten, er sei ein Bluthund. Ist das wirklich Ihre Meinung über ihn? Sie waren ja oft mit ihm beisammen, Sie müssen eine ziemlich genaue Kenntnis seines Charakters haben. Halten Sie ihn wirklich für fähig, einen Mord zu begehen? Ich bitte, überlegen Sie sich Ihre Antwort noch einen Augenblick; es hängt viel davon ab. Warum sehen Sie mich so an? Was ist denn?« Christian erhob sich unwillkürlich, denn der Blick, den Niels Heinrich auf ihn heftete, war geradezu furchtbar.

Wozu er solchen Blödsinn frage? erwiderte Niels Heinrich beinahe schreiend und erhob sich in derselben Sekunde; was das denn heißen solle? Eine Pappschachtel lag auf dem Tisch; er nahm sie in die Hand und schleuderte sie wieder hin. Der Unvorsichtigkeit seines Ausbruchs innewerdend und ihn bereuend, meckerte er. Weshalb denn nicht fähig? fuhr er lauernd fort, mit farblosen, gleitenden Augen; habe Heinzen die Jüdin abgemurkst, so müsse ers selber am besten wissen. Wie der Herr dazu komme, sich in so was einzumischen, ob er vielleicht ein Achtgroschenjunge sei, ein Spitzel? »Ich kenne den Menschen,« sagte er, immer mit farblosen, gleitenden Augen, denen er vergeblich Stetigkeit zu geben versuchte, indes das fahle, schlaffe Muskelwerk des Gesichts sich wieder zu festigen anfing, »ich kenne den Menschen. Freilich, wie soll man eenen auskennen? Hatte keenen blassen Schimmer davon, daß er dergleichen im Hirne wälzte. Der Deiwel muß ihn jeritten haben; Jift muß er jesoffen haben. Sagt es ihm oft; Junge, sagt ick ihm, det wird noch 'n beeses Ende nehmen.« Er steckte die Fäuste in die Hosentaschen, machte ein paar Schritte und lehnte sich prahlerisch an den Ofen.

Christian trat auf ihn zu. Ruhig sagte er: »Mein Eindruck war, daß er lügt. Er belügt den Richter, er belügt sich. Er weiß nicht, was er spricht, er weiß nicht, was er tut, und er weiß nicht, wessen er sich bezichtigt. Sind Sie denn nicht auch der Meinung, daß sein Geist gänzlich verworren ist? Er ist sicher nur das Werkzeug eines andern. Es muß ein entsetzlicher Zwang auf ihn ausgeübt worden sein, und unter diesem Zwang hat er Angaben gemacht, die ihn so stark belasten, daß er sich bereits rettungslos verstrickt hat. Wenn nicht ein Wunder geschieht, oder der wahre Schuldige entdeckt wird, ist er verloren.«

Niels Heinrichs Hals ward wie ein Stengel. Der Adamsapfel schlickerte nervös. Alle Haut an ihm war weiß, ausgenommen die Ohren, die die Röte rohen Fleisches hatten. »Möchten Sie mir mal gütigst erklären, Verehrtester: was kümmert Sie denn eigentlich die ganze Angelegenheit?« fragte er in der Fistel, die oben brach; fragte es mit einem unerwarteten Verlassen seines rüden Jargons, von dem nur die Schärfe und rhythmische Gehacktheit blieben; »was ziehen Sie denn da für Schlüsse? Wo wollen Sie denn damit hinaus? Und was, zum Henker, geht mich das alles an? Möchten Sie mir das mal gütigst erklären?«

»Es geht Sie insofern an,« erwiderte Christian tiefaufatmend, »als Sie doch häufigen Umgang mit Joachim Heinzen gehabt haben und mir möglicherweise einen Fingerzeig geben können. Sie müssen sich doch bestimmte Gedanken über den Fall machen. Die Sache muß Sie, so oder so, irgendwie berühren. Da nun nach meiner unerschütterlichen Überzeugung Heinzen der Mörder nicht ist, nicht sein kann, und er zugleich, wovon ich ebenfalls durchdrungen bin, unter der Beeinflussung des wirklichen Mörders handelt, so muß dieser unter den Leuten zu finden sein, mit denen Heinzen zu tun hatte. Ich kann mir nicht denken, daß er nicht jedem einzelnen in dem Kreis aufgefallen sein sollte, denn es muß ein Mensch sein, der sich von den andern wesentlich unterscheidet. Daß er dem Arm der Gerechtigkeit bis jetzt entschlüpft ist, bestätigt nur meine Ansicht über ihn; aber wissen muß man von ihm, übersehen werden konnte einer nicht, der das zu tun imstande war. Und deswegen wollte ich mich an Sie wenden. Wären Sie nicht gekommen, so wäre ich zu Ihnen gegangen.«

Niels Heinrich grinste. »Zu liebenswürdig,« sagte er mit verzerrten Lippen, »hätte mich kolossal jefreut.« Beklommenheit und wühlende Erregung verriet sich an den krampfhaft emporgezogenen Brauen. Er suchte sich zu sammeln, stotterte aber dennoch, als er fortfuhr: »Soso. Das ist also Ihre Überzeugung. Unerschütterliche Überzeugung; soso. Und woher nehmen Sie denn die, wenn es jestattet ist, zu fragen? Warum soll er sie denn nich abjemurkst haben, wo er es doch bei Jericht freiwillig gestanden hat? Warum denn nicht, wenn man fragen darf? Is doch aufgelegter Quatsch, das alles. Haben Sie sich höchsteijenhändig aus den Redaktionsfingern jelutscht, Verehrtester. Wie kommen Sie denn dazu?«

»Das will ich Ihnen sagen,« antwortete Christian, dessen Gesichtsausdruck von Minute zu Minute grübelnder wurde; »ein Mensch wie dieser Joachim Heinzen konnte nicht fähig gewesen sein, Ruth zu töten. Zu töten! Was das allein bedeutet. Und Ruth zu töten! Nein, es ist vollständig ausgeschlossen. Er ist ja ein Schwachsinniger. Viele glauben, eben deshalb sei ihm die Tat zuzutrauen. Aber ein Schwachsinniger konnte Ruth nicht töten. Wenn man sich auch vorstellt, daß er einem tierischen Instinkt gehorcht hat, in einer bestialischen Raserei alle Selbstbeherrschung, ja alle Menschenähnlichkeit verloren hat; bis zum Letzten konnte er nicht gelangen, bis zum Mord niemals. Dieser Mensch nicht. Es ist vollständig ausgeschlossen. Ich habe mir seine Hände angesehen. Seine Hände und seine Augen. Es ist vollständig ausgeschlossen.«

Er machte eine Pause. Niels Heinrich lehnte noch am Ofen, die Hände hinter sich, zwischen Rücken und Kacheln.

Christian fuhr mit leiser, aber ungemein klarer und eindringlicher Stimme fort: »Es ist darum ausgeschlossen, weil er eben die entscheidenden Eigenschaften dafür nicht besitzt. Ich habe getrachtet, mich so tief in ihn zu versetzen, als es möglich war. Es ist mir gelungen, alle andern Gedanken und Vorstellungen auszuschalten, um mir ein Bild seines Charakters zu machen, sowie auch von der Rolle, die er bei der Tat gespielt haben müßte. Und wenn ich ihn mir in der scheußlichsten Entfesselung denke, in der scheußlichsten tollwütigsten Gier, so sage ich mir: im letzten Augenblick wäre er Ruth gegenüber unterlegen. Wenn er den Arm aufgehoben und Ruth ihn angeschaut hätte, wäre er, so wie er ist und ich ihn beurteile, schwach geworden. Er hätte sich auf die Knie geworfen und vor ihr gewinselt; er hätte eher sich selbst umgebracht als ihr ein Leid zugefügt. Und hätte sie ihm einmal einen Funken von Besonnenheit, einen Funken von Empfindung eingehaucht, so hätte sie ihn auch ganz für sich gewonnen. Sie werden einwenden: das sind Hypothesen und Vermutungen; aber das ist durchaus nicht der Fall, wenn man weiß, wer Ruth war. Haben Sie sie gekannt? Sind Sie ihr nie begegnet?«

Diese unbefangene, harmlose Frage rief eine geisterhafte Fahlheit in Niels Heinrichs Gesicht hervor. Er murmelte etwas und zuckte die Achseln.

»Sie werden ferner einwenden: derselbe Zwang, unter dem er seine Geständnisse ablegt, hätte ihn ja auch zum Mord treiben können. Was tut nicht alles ein Mensch in der Verfinsterung und Manie; ein so niedriger, brutaler, haltloser Mensch. Aber seine Geständnisse haben nach meiner Ansicht gar keinen Wert. Sie sind ihm eingegeben und befohlen, das merkt man ja. Er verwickelt sich in Widersprüche, hat heute vergessen, was er gestern behauptet, und Folgerichtigkeit liegt nur in der Art, wie er immer wieder sich selbst beschuldigt. Nicht nur Folgerichtigkeit liegt darin, sondern auch etwas andres, nämlich Verzweiflung und Entsetzen, und das äußert sich nicht so, wie es sich bei einem Schuldigen und von seinem Gewissen Gefolterten äußern müßte, sondern so wie bei einem Kind, das eine Nacht lang in einem finstern Raum hat verbringen müssen, wo es von einem unheimlichen und grausigen Gespensterspuk bis in den innersten Grund der Seele verstört worden ist. Sein Gewissen hätte doch eben durch das Geständnis erleichtert werden müssen; es zeigt sich aber das Gegenteil. Wie ist das zu erklären? Und dann: er soll Ruth an einen verborgenen Ort gelockt haben. Natürlich, es muß ja ein verborgener Ort gewesen sein, wenn es nicht im Wald oder auf freiem Felde war. Aber trotz der sorgfältigsten Nachforschungen hat man diesen Ort noch nicht zu ermitteln vermocht, und in keinem Verhör hat Heinzen dazu überredet werden können, ihn anzugeben. Es wird ihm ununterbrochen mit Fragen zugesetzt; über diesen Punkt schweigt er beharrlich oder antwortet ungereimtes Zeug. Man hat zweierlei Erklärungen dafür. Die eine ist, daß er einen Komplizen schonen will, dessen Spur man sofort finden würde, wenn der Schauplatz des Verbrechens bekannt wäre; die andre, daß eine jener Gedächtnisstörungen, sogar völliges Aufhören der Erinnerung eingetreten ist, wie man es bei geistig Anormalen bisweilen wahrnimmt. Ich glaube weder an das eine, noch an das andre. Er weiß den Ort gar nicht; das ist meine Ansicht. Er war bei der Verübung des Mordes vielleicht gar nicht zugegen. Es ist möglich, daß er schwer betrunken war oder aus einem trunkenen Zustand eben zu sich kam, als er die Leiche neben sich erblickte. Es ist möglich, daß er durch den Anblick der Leiche zu der fürchterlichen Täuschung kam oder durch irgendwelche Kniffe dazu gebracht wurde, sich selbst für den Mörder zu halten . . .«

Niels Heinrich trat einen Schritt vor. Seine Kinnlade schlotterte. Ihm war auf einmal wie in einem Platzregen glühender Steine. Ein finster grausendes Erstaunen malte sich in seinen Zügen. Er hatte schweigen gewollt; er hatte höhnen gewollt; er hatte gehen gewollt; er hatte nichts und doch alles begriffen; er wollte kalt sein und ahnungslos scheinen, denn da rückte die Gefahr heran, die endliche Gefahr, die Rache, das Schwert, der Strick, das Beil. Da rückten sie heran; dennoch war er nicht imstande, sich zu bemeistern; es war stärker als alles. »Mensch,« kam es orgelnd aus der schluckenden Kehle, »Mensch . . .« Dann, in der dämonischen Angst, daß er durch sein Benehmen die Gefahr nur vergrößert: das könne man ja nicht aushalten, das greife einem an die Nerven; was habe man denn zu schaffen damit? Und wieder Verstummen vor dem ein wenig blinzelnden Blick Christians, gespanntes Hinstarren und Lauern; jetzt durfte man ihn nicht mehr außer acht lassen, jetzt wurde die Geschichte sengerig, jetzt hieß es, sich seiner Haut wehren. Was würde es denn noch quasseln, das verdammte Maul?

Christian ging zum Fenster und kehrte zurück; umkreiste den Tisch und kehrte zurück; er hatte die Regung Niels Heinrichs wahrgenommen; er hatte davon den Eindruck gehabt, wie wenn ein Reifen platzt und Schleimiges aus den Dauben quillt, doch wurde dies erst später greifbar; er hatte nur das sonderbare Gefühl, eine Bestätigung erfahren zu haben, und wollte Gedankengänge und innerlich Geschautes, dem er selbst noch zaghaft gegenüberstand, weiterentwickeln. Er sagte: »Um Ruth an den Ort zu locken, wo sie getötet worden ist, dazu bedurfte es einer gewissen Verschlagenheit. Es mußten umsichtige Vorbereitungen und Vorsichtsmaßregeln getroffen werden, die sich auch bewährt haben, wie der Erfolg zeigt. Aber nach der Aussage aller Zeugen, die ihn kennen, fehlt Heinzen hiezu jegliche Eignung. Er wird als so blöde geschildert, daß er sich nicht einmal einen Namen oder eine Zahl merken konnte. Und den Mord verübte er dann mit der ganzen brutalen, mitleidlosen Gewalt eines vertierten Wollüstlings, wird angenommen. Die kriminalistischen Sachverständigen behaupten, diese Mischung von Tücke und Brutalität sei das Charakteristische solcher Individuen und Verbrechen. Das mag schon sein. Aber es ist nichts damit erwiesen. So einfach war es hier nicht. Ruth ist einen andern Weg gegangen als den zu Joachim Heinzen.«

»Einen andern? Und welchen denn? Ei, ei!« quakte Niels Heinrich. »Kieck mal an, da kriste de Motten. Da muß doch gleich ne olle Wand wackeln.« Er griff nach seinem Hut, den er zu Beginn des Gesprächs an den Schrankaufsatz gehängt hatte, schob ihn verwegen aufs Ohr und schickte sich an zu gehen. Christian wußte aber, daß er nicht gehen würde, und er folgte Niels Heinrich mit einem Blick, der leidenschaftlich fragte. Sein Gemüt war schrecklich bewegt.

Niels Heinrich ging wirklich nur bis zur Tür. Dort drehte er sich um, mit einer verkniffenen, spähenden Miene, langte scheinbar gleichgültig in seine Tasche und zog einen kleinen Revolver hervor. Mit der einen Hand hielt er ihn, mit den Fingern der andern spielte er am Hahn und an der Sicherung: Scheinbar gleichgültig und wie um sich zu zerstreuen.

Christian beachtete das perfide Spiel mit der Waffe nicht; er sah es kaum. Er stand in der Mitte des Zimmers, und in der unhemmbaren Erregung, von der er gepackt war, preßte er die Rechte auf die Augen. Er sagte: »Ich habe es vielleicht nur geträumt, daß sie sich freiwillig entschlossen hat, zu sterben. Mord, ja, es war Mord, aber sie hat ihre Einwilligung dazu gegeben. Diese letzten Stunden von ihr! Sie müssen unerhört gewesen sein, das Letzte der Welt; kein Gefühl kommt dahin. Schritt für Schritt; und dann hat sie selbst um das Ende gebeten. Ich habe es vielleicht nur geträumt, aber es ist, als hätte ichs gesehen . . .«

Er brach ab, denn ein scharfer, peitschenartiger Knall erschallte. Ein Schuß war losgegangen. Einer der Stühle am Tisch erzitterte. Die Kugel war in das Stuhlbein gefahren; aber sie hatte auch Niels Heinrichs Handrücken gestreift, und aus der Wunde, die einem Schnitt glich, strömte Blut. Er fluchte erbost und schüttelte sich.

»Sie haben sich verletzt!« rief Christian teilnehmend und trat auf ihn zu. Doch lauschten beide noch; wie Verschworene lauschten sie gegen die Tür. Die Dazwischenkunft eines Dritten schien jedem von ihnen unerwünscht. Obgleich die Detonation gering gewesen, war sie in den Nachbarwohnungen gehört worden; Türen wurden aufgerissen; man vernahm fragende, schimpfende, ängstliche Stimmen, und nach einigen Minuten wurde es wieder still. Die Leute waren an allerlei Alarm gewöhnt und beruhigten sich schnell.

Niels Heinrich wickelte sein nicht ganz sauberes Sacktuch um die blutende Hand; indessen war Christian ins Nebenzimmer geeilt und brachte Wasser im Krug und ein reines Tuch. Er wusch die Wunde und verband sie kunstgerecht. Dabei verfuhr er mit solcher Zartheit und Sorgfalt, daß ihn Niels Heinrich mit angestrengt gerunzelter Stirn und einer düsteren Scheu betrachtete. Dergleichen war ihm, bei einem Mann wenigstens, noch niemals untergekommen. Er ließ es sich gefallen: verächtlich, der Verachtung nicht recht sicher; er konnte nicht umhin, es sich gefallen zu lassen.

»Es hätte schlimmer ausgehen können,« murmelte Christian, als er fertig war.

Niels Heinrich antwortete nicht, und nun entstand ein ziemlich langes, merkwürdiges Schweigen.

»Nanu, was solls denn also?« stieß Niels Heinrich barsch hervor, denn er spürte die schreckliche Bedeutung dieses Schweigens.

Christian stützte die Hände auf die Stuhllehne und schaute Niels Heinrich an. Er war bleich und kämpfte um das Wort. »Wichtig wäre es, festzustellen, wo sich Michael während der ganzen Zeit versteckt gehalten hat, in der er verschwunden war,« begann er; und er sprach anders als vorher, hintastender, forschender, bebender, ungewisser, so als richte er während des Redens beständig Fragen an sich selbst; »es wäre äußerst wichtig. Michael ist Ruths Bruder; Sie werden gehört haben, daß er sechs Tage lang absolut unauffindbar war. Sooft ihn der Kommissär oder der Untersuchungsrichter darüber vernehmen will, bekommt er einen hysterischen Anfall. Man hat sich entschlossen, einstweilen zu verzichten, und überwacht ihn streng. Aber er rührt sich nicht aus der Stube und gibt keinen Laut von sich. Die Gerichtsärzte schütteln den Kopf; niemand weiß Rat. Es hängt alles davon ab, daß man ihn endlich zum Sprechen veranlaßt; es würde sicherlich Licht in das Geheimnis bringen; aber, wie gesagt, es wäre schon viel gewonnen, wenn man erfahren könnte, wo er sich versteckt gehalten hat.«

Niels Heinrich starrte finster bestürzt. Der Mensch wurde ihm immer fürchterlicher. In seinen Augen zuckte Fluchterwägung. »Wie soll ick denn dat wissen?« knurrte er; »det is mir überhaupt ejal. Wie soll ick denn dat wissen? Ick sagte Ihnen ja schon, wat jeht mir denn das an?« Er griff wieder zur Mundart, als schütze ihn die.

»Ich dachte nur, daß man Ihnen vielleicht Gerüchte zugetragen hat, daß vielleicht Leute in der Gegend der Heinzenschen Wohnung etwas bemerkt oder gehört haben. Entsinnen Sie sich nicht?«

Die Frage war so ernst und mahnend, beinahe flehend, daß Niels Heinrich, statt dem Antrieb zum Zorn nachzugeben, aufhorchte, auf die Stimme horchte und das Aussehen eines mit Stricken Gefesselten hatte. Und da entsann er sich wirklich einer Kunde von solcher Art, die zu ihm gedrungen war. Es gab in seinem Bekanntenkreis eine Dirne namens Molly Gutkind; man hieß sie, wegen ihres fetten Leibes und der weißen Haut, die kleine Made. Sie war noch sehr jung, kaum siebzehn. Vor ein paar Tagen hatte man ihm erzählt, die kleine Made habe ziemlich lange Zeit einen Jungen bei sich beherbergt, habe ihn angelegentlich vor jedermann verborgen und sei überhaupt seitdem wie ausgewechselt; vorher munter und sorglos, sei sie nun melancholisch und gehe nicht mehr auf die Straße.

Man hatte ihm dies mitgeteilt, wie man ihn von allen Vorfällen in der Dirnen und Zuhälterwelt unterrichtet; er hatte der Sache keine Beachtung geschenkt und sie aus dem Sinn verloren. Nun tauchte sie auf und paßte her; er witterte es, daß sie herpaßte, aber das Gefühl seiner Wehrlosigkeit gegen den Menschen wuchs dadurch, und außerdem war ihm, als schaue der Mensch in ihn hinein, als entreiße er ihm nicht nur Verschwiegenes und Verhehltes, sondern auch Vergessenes. Der Geschichte mußte nachgegangen werden; sie mußte in aller Heimlichkeit ergründet und geprüft werden. Um etwas zu sagen und sich loszureißen, murmelte er widerwillig, er wolle zusehen, was sich machen lasse, aber auf ihn rechnen solle der Herr mitnichten, zum Spionieren sei er nicht der richtige Mann. Er ging zur Tür, schief, schleifend, mit unentschlossenem, welkem Ausdruck; er rieb die Finger aneinander, die feucht geworden waren, zündete eine Zigarette an, fröstelte in der Kälte, die ihm vom Flur entgegenschlug und stülpte den Kragen seines gelben Überziehers hoch.

Christian geleitete ihn artig bis zur Schwelle. Er sagte leise: »Ich hoffe, Sie bald zu sehen. Ich erwarte Sie.«

Auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock blieb Niels Heinrich stehen und meckerte sinnlos in die Luft hinein.


 << zurück weiter >>