Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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Eh der Silberstrick reißt

1

Das Fräulein von Einsiedel nahm die zärtliche Tändelei mit Crammon ernst. Als Crammon dies merkte, wurde er kalt und war darauf bedacht, sich die drohende Unbequemlichkeit vom Halse zu schaffen.

Sie schickte ihm durch ihre Jungfer dringliche kleine Briefchen; er beantwortete sie nicht. Sie ersuchte ihn um ein Stelldichein, er versprach zu kommen und kam nicht. Vorwurfsvoll fragte sie nach dem Grund; er schlug die Augen nieder und antwortete betrübt: »Ich habe mich in der Stunde geirrt, liebe Freundin. Mein Geist ist seit einiger Zeit in einem Zustand von Abwesenheit. In der Frühe wache ich manchmal auf und denke, es ist noch Abend. Ich setze mich zu Tisch und vergesse zu essen. Ich brauche eine Kur, ich muß einen Arzt konsultieren. Haben Sie Nachsicht mit mir, Elise.«

Aber Elise wollte nicht verstehen. Sie gehörte, nach Crammons bedauerndem Tadel, zu denen, die aus einem Kuß und aus einer Nacht alle Folgerungen ziehen, welche einem Mann unter Umständen lästig fallen.

Crammon sagte zu sich selbst: »Sei robust, Bernhard Gervasius. Laß dich von deiner angeborenen Delikatesse nicht zum Schwächling machen. Hier ist eine Mausefalle, der Speck riecht meilenweit. So ein hübsches und gutes Kind und so verblendet! Als ob nicht ein kurzes Vergnügen einem langen Jammer vorzuziehen wäre.«

Und er packte für alle Fälle seine Koffer.

2

Crammon hatte erfahren, wo Christian an Judiths Polterabend hingegangen und wer sein Begleiter gewesen war. Der Chauffeur hatte geplaudert, darauf hatte Crammon in seiner brüderlichen Besorgnis Nachforschungen gehalten, und die unbestimmten Gerüchte, die bis nach Wahnschaffeburg gedrungen waren, hatten sich bestätigt.

Eines Morgens, sie waren in Christiansruh alle beide, trat Crammon in Christians Zimmer und sagte: »Ich muß endlich reden. Der Kummer nagt an mir. Schäm dich, Christian. Schäm dich deiner Heimlichkeit. Gesellst dich zu landesflüchtigen Aufwieglern und Bombenschleuderern und verwirrst armes unschuldiges Volk durch hirnlose Generosität. Wohin soll das führen?«

Christian lächelte und schwieg.

»Wie kannst du dich nur so bloßstellen!« rief Crammon, »dich, deine Familie, deine Freunde! Ein Wort im Vertrauen, lieber Schatz: wenn du dir etwa einbildest, du hättest dem Weibe aus ihrem Jammer geholfen, zu dem dich der russische Desperado geschleppt hat, befindest du dich auf dem Holzweg. Die Illusion kann ich dir glücklicherweise rauben.«

»Hast du etwas über sie gehört?« erkundigte sich Christian mit überraschender Gleichgültigkeit in Ton und Miene.

Crammon dehnte sich aus und erzählte saftig breit: »Allerdings. Ich war sogar mit der hohen Polizei in Verhandlung und habe dir Unannehmlichkeiten erspart. Die Frau hätte verhaftet und das Geld konfisziert werden sollen. Dies habe ich zum Glück verhindert. Denn obgleich ich der Meinung bin, daß Ordnung sein muß im Staate, so halt ich es doch nicht für wünschenswert, daß die Obrigkeit ihre Nase in unsere Privatangelegenheiten steckt. Sie soll ihre Pflicht tun, daß es uns wohlergehe auf Erden, mehr wird nicht von ihr verlangt. Soviel hievon. Über deinen Schützling kann ich dir wenig Erfreuliches mitteilen. Das Gelichter dort in dem Haus war außer Rand und Band über den Goldregen. Sie sind alle um sie herumgelegen und haben gebettelt, und einige haben gestohlen, und es gab Streit, und einer stieß einem ein Messer in die Gedärme, und die rabiate Frau schlug mit der Ofenschaufel um sich, und die Wache mußte einschreiten. Dann ist die Frau in ein anderes Quartier gezogen, hat allerlei Krimskrams gekauft, Möbel, Betten, Kleider, Küchengeschirr und sogar eine Schwarzwälderuhr. So eine Schwarzwälderuhr, mußt du wissen, ist ein Greuel. Es kommt immerfort ein Kuckuck heraus und schreit. Ich bin einmal bei Leuten zu Gast gewesen, die hatten drei von der Sorte; kaum war ich eingeschlafen, so krächzte das Vieh. Zum Verrücktwerden; dabei ganz reizende Menschen sonst. Was das Krollsche Eheweib betrifft, so ist seit deiner Schenkung kein Funken Verstand mehr in ihr. Das Geld hat sie in einer Schatulle, die trägt sie Tag und Nacht mit herum und läßt sie nicht aus den Augen. Sie spielt in der Lotterie, kauft sich Zehnpfennigromane, die Kinder verludern genau so wie früher, das Hauswesen verkommt genau so wie früher, bloß daß der scheußliche Kuckuck dazu brüllt. Was hast du also geleistet? Wo ist der Segen? Das Volk verträgt keine plötzlichen Glücksfälle. Du kennst das Volk nicht, du weißt nichts von ihm, also laß es ungeschoren.«

Christian schaute durchs Fenster in den bewölkten Himmel. Dann kehrte sein Blick zu Crammon zurück. Er sah, wie wenn er es noch nie gesehen hätte, daß Crammon ziemlich fette Wangen und ein in weiches Fleisch gebettetes Kinn mit einem Grübchen besaß. Er konnte sich nicht entschließen, ihm zu antworten. Er lächelte und schlug die Beine übereinander.

Die schönen Beine, dachte Crammon mit einem Seufzer, die prachtvollen Beine.

3

Ein paar Tage später kam Crammon wieder, um Christian auf den Zahn zu fühlen.

»Du gefällst mir nicht, mein Lieber,« fing er an, »ich müßte lügen, wenn ich sagen sollte, daß du mir gefällst. Heute ist es eine Woche, daß wir uns auf dieser Villegiatur mopsen. Zugegeben, es ist ein reizender Landaufenthalt, im Frühling und im Sommer, in lustiger Gesellschaft, wenn man Feste im Park feiern kann und die Städte vor Langweile sieden. Aber jetzt, mitten im Winter, ohne Orgien, ohne Turbulenz, ohne Damen, was für einen Zweck hat es? Warum verkriechst du dich? Warum läßt du den Kopf hängen? Worauf wartest du? Was hast du vor?«

»Du fragst so viel, Bernhard,« erwiderte Christian; »du solltest nicht so viel fragen. Es ist hier so gut wie anderswo. Sag mir einen Ort, wo es besser ist.«

Crammon schöpfte Hoffnung, und im Vorgefühl gemeinsamer Genüsse verklärten sich seine Mienen. »Einen Ort, wo es besser ist? Mein Engel, jedes Eisenbahnkupee ist besser. Das schmierige Antichambre der Madame Simchowitz in Mannheim ist besser. Immerhin, wir können uns einigen. Ich unterbreite dir einen exzellenten Plan. Zunächst Palermo; Conca d'oro, der Monte Pellegrino, Sizilianerinnen auf dem Kirchgang, lüstern hinter Tugendschleiern äugend. Von dort machen wir einen süßen Abstecher nach Neapel. Magnet: Fräulein Ivonne. Die schwärzesten Haare, die weißesten Zähne, die vollendetsten kleinen Füße Europas; die Gegenden dazwischen – sublim. Hierauf depeschieren wir an Prosper Madruzzi, der im Palazzo venezia Trübsal bläst und nur darauf wartet, uns in die erlauchten Zirkel der römischen Hochwelt einzuführen. Da hat man nur mit Contessas, Marchesas und Principessas zu tun; die Originale aller fünf Kontinente wimmeln durcheinander wie in einem wunderbaren Irrenhaus; fischblütige Amerikanerinnen treiben Unfug mit heißblütigen Lazzaronis, die märchenhafte Namen und geschmacklose Seidenstrümpfe haben; jede Hundehütte erhebt Anspruch, eine Kuriosität zu sein, vor jedem Steinhaufen kannst du deine Bildung bereichern, und auf Schritt und Tritt stolperst du über gigantische Meisterwerke der Kunst.«

Christian schüttelte den Kopf. »Es lockt mich nicht,« sagte er.

»Also einen andern Vorschlag,« fuhr Crammon fort; »geh mit mir nach Wien. Es ist das eine Stadt, die deine Beachtung verdient. Hast du schon einmal vom Messias gehört? Der Messias ist eine Persönlichkeit, mit welcher die Juden ihre Zeitrechnung abzuschließen gedenken, und wenn er kommt, begrüßen sie ihn mit Zimbeln und Schalmeien. So wird ein Fremder von Distinktion in Wien empfangen. Wer sich ein bißchen geheimnisvoll gibt, mit Trinkgeldern nicht kargt und hie und da einem, der zu vertraulich wird, einen Nasenstüber versetzt, vor dem liegt die Gesellschaft auf dem Bauch. Es herrscht eine angenehme Sorte Schlamperei, die alles erlaubt, was verboten ist. Die Weiblichkeit ohne Konkurrenz; das Rindfleisch bei Sacher unvergleichlich; der Walzer, wo immer ein Musikant und eine Geige sich zusammentun, elektrisierend; eine Fahrt zum Lusthäuschen, ich bitte, ausdrücklich Lusthäuschen, ein Traum. Wahrhaftig, ich sehne mich. Ich sehne mich nach der schmeichelnden Luft, nach Backhühnern und Rahmstrudel, nach meinem Retiro mit den Möbeln aus der Maria-Theresia-Zeit und nach meinen beiden lieben Damen. Raff dich auf und komm mit.«

Christian schüttelte den Kopf. »Nichts für mich,« sagte er.

Da stieg die Röte der Entrüstung in Crammons Gesicht, und seine Augen blitzten. »Nichts für dich? Schön. Den Harem des Großsultans kann ich dir nicht zur Verfügung stellen, die Gärten des Propheten auch nicht. So überlass ich dich denn deinem Schicksal und zieh von dannen.«

Christian lachte, denn er glaubte nicht daran. Aber am andern Tag nahm Crammon mit allen Merkmalen tiefen Grames Abschied und reiste.

4

Christian blieb in Christiansruh. Es trat starker Schneefall ein; das Jahr ging zu Ende.

Er nahm keine Besuche an; Briefe und Aufforderungen von Freunden beantwortete er nicht. Das Weihnachtsfest hätte er bei den Eltern in Wahnschaffeburg verbringen sollen; er ließ sich entschuldigen.

Da Christiansruh, seit er majorenn geworden, völlig in seinen Besitz übergegangen war, befanden sich dort alle Kunstgegenstände die ihm gehörten, die Plastiken, Bilder, Miniaturen und die Dosensammlung. Er war spezieller Liebhaber von Dosen.

Die Händler schickten ihm ihre Kataloge; wenn bedeutende Auktionen stattfanden, hatte er seinen Vertrauensmann dabei. Diesem gab er die Aufträge telegraphisch, und es kam dann: ein Becher aus Bergkristall, ein Service aus echtem Meißner, eine Kohlenzeichnung von Van Gogh. Besah er das Erworbene, so war er enttäuscht. Es war nicht so selten und nicht so kostbar, wie er erwartet hatte.

So kaufte er eine Bibel aus dem sechzehnten Jahrhundert, auf Pergament gedruckt, mit farbigen Initialen innen und silbernen Beschlägen am Deckel. Sie hatte vierzehntausend Mark gekostet und enthielt das Exlibris des Kurfürsten August von Sachsen. Er durchblätterte sie neugierig, ohne der Worte zu achten, die ihm fremd waren und nichts besagten. Nur das Bewußtsein der Seltenheit und Kostbarkeit ergötzte ihn; aber er wünschte sich Selteneres und Kostbareres als dieses Buch.

Jeden Morgen fütterte er die Vögel. Mit einem Körbchen voll Brosamen trat er aus dem Portal, und sie flogen von allen Seiten herbei, da sie ihn und seine Stunde kannten. Sie waren hungrig, und er schaute zu, wie sie emsig pickten. Hierbei vergaß er, was er sich wünschte.

Einmal ging er in Jagdausrüstung fort und schoß einen Hasen. Als das Tier mit gebrochenen Augen vor ihm lag, konnte er es nicht anrühren. Er, der schon so viele Tiere gejagt und getötet hatte, verspürte Abneigung gegen dieses Tun und ließ die Beute liegen, um die er bald die Raben schreien hörte.

Die meisten Wege führten ihn durchs Dorf, das eine Viertelstunde vom Christiansruher Park entfernt lag. Am Ende des Dorfes stand an der Landstraße das Försterhaus. Einige Male war ihm dort am Fenster das Gesicht eines jungen Menschen aufgefallen. Er glaubte sich der Züge zu erinnern; es mußte Amadeus sein, der Sohn des Försters Voß. Als sechsjähriger Knabe war er bisweilen in das Försterhaus gekommen; Christiansruh war erst später gebaut worden, und sein Vater hatte hier eine Jagd gepachtet und sich, jeweils ein paar Tage nur, im Försterhaus einquartiert. Da war Amadeus Christians Spielgefährte gewesen.

Das Gesicht, welches ihm nun diese Kinderzeit zurückrief, war entfärbt und hohlwangig; es hatte dünne, gerade Lippen, und der Kopf war von schlichtem, weißblondem Haar bedeckt. Die stark geschliffenen Gläser einer Brille ließen es wegen der Lichtreflexe augenlos erscheinen.

Christian wunderte sich, daß der junge Mensch Tag für Tag stundenlang am Fenster saß und unbeweglich durch die Scheiben auf die Straße starrte. Ein Geheimnis rührte ihn deutlich an; eine Kraft aus der Tiefe langte nach ihm.

Eines Tages begegnete ihm der Schulze am Parktor. Grüßend blieb Christian stehen. »Lebt der Förster Voß noch?« fragte er.

»Nein, der Förster ist vor drei Jahren gestorben,« antwortete der Schulze. »Aber seine Witwe wohnt noch im Hause; man hat ihr zwei Stuben überlassen; der jetzige Förster ist unverheiratet, und die Frau stört ihn nicht. Sie erkundigen sich wohl des Amadeus halber, der jetzt plötzlich da ist, kein Mensch weiß, warum –?«

»Was ist's mit ihm?« forschte Christian.

»Er war zum Geistlichen bestimmt und kam aufs katholische Seminar nach Bamberg. Man hat immer nur das Beste über ihn gehört, seine Lehrer lobten ihn über den grünen Klee. Stipendien wurden ihm verschafft, und man dachte wunder was aus ihm werden würde. Im vorigen Winter wurde er von seinen Oberen für eine Hofmeisterstelle an den Bankdirektor und Geheimrat Ribbeck empfohlen. Sie werden den Namen wohl gehört haben; ein großes Tier, der Geheimrat. Die zwei Knaben, die Voß erziehen sollte, leben auf Halbertsroda, einem Gut in Oberfranken; die Eltern waren nur selten bei ihren Kindern. Soll übrigens eine unglückliche Ehe sein. Alles schien in schönster Ordnung, und man dachte, dem Amadeus gehe nichts ab, bei seinen natürlichen Gaben und mit solchen Beschützern. Auf einmal kommt er mit Sack und Pack hier an, rührt sich nicht aus der Stube, kümmert sich um keine Seele, schaut in kein Buch, fällt seiner alten Mutter zur Last, und wenn man ihn anreden will, knurrt er wie ein böser Hund. Es müssen sich dort in Halbertsroda tolle Sachen ereignet haben. Näheres ist nicht zu erfahren, nur hin und wieder brodelt was auf, ein Gerücht oder ein Verdacht, als obs mit der Geheimrätin was gegeben hätte.«

»Hatte der Förster nicht noch einen Sohn?« unterbrach Christian den Geschwätzigen. Es war die dämmernde Erinnerung an ein Kindererlebnis in ihm erwacht.

»Ganz recht,« sagte der Schulze, »er hatte noch einen Sohn. Dietrich hieß er und war taubstumm.«

»Ja, er war taubstumm,« sagte Christian.

»Er ist mit vierzehn Jahren verstorben,« fuhr der Schulze fort. »Eines unaufgeklärten Todes eigentlich. Am Abend des Sedanfestes war es, da ging er hinaus, um sich die Scheiterbrände anzusehen, und am andern Morgen fanden wir seine Leiche im Fischteich.«

»War er ertrunken?«

»Er muß wohl ertrunken sein,« antwortete der Schulze.

Christian nickte ihm zu und ging langsam durchs Tor dem Hause entgegen.

5

Lätizia war mit ihrem Mann im Opernhaus zu Buenos Aires. Man gab eine Operette, die schal war wie die Tümpel der Pampas.

In der Nachbarloge saß ein hübscher junger Mann, und Lätizia konnte nicht umhin, seine huldigenden Blicke bisweilen zu bemerken. Da fühlte sie sich hart am Arm gepackt. Es war Stephan, der ihr wortlos befahl, ihm zu folgen.

Draußen im verdunkelten Korridor näherte er sein bläulich-weißes Gesicht ihrem Ohr und zischte: »Blinzelst du noch ein einziges Mal zu dem Laffen hinüber, so stoß ich dir meinen Dolch in die Brust. Richte dich danach. Hierzulande macht man in solchen Fällen kurzen Prozeß.«

Sie traten wieder in die Loge. Stephan lächelte mit glitzernden Zähnen wie ein Torero und steckte ein Stück Schokolade in den Mund. Lätizia sah ihn von der Seite an und dachte neugierig darüber nach, ob er wirklich einen Dolch bei sich trug.

Als sie in der Nacht auf die Estanzia zurückfuhren, erdrückte sie Stephan beinahe mit seinen Liebkosungen. Sie wehrte ihn ab und bat: »Zeig mir den Dolch, Stephan; gib ihn mir, ich will ihn sehen.«

»Was für einen Dolch, du Närrin?« fragte er verwundert.

»Den Dolch, den du mir ins Herz stoßen wolltest.«

»Laß das nur sein,« entgegnete er dumpf; »jetzt ist nicht die Zeit, von Mord und Dolch zu reden.«

Aber Lätizia bestand eigensinnig darauf, sie wolle den Dolch sehen. Da ließ er von ihr und verfiel in düsteres Schweigen.

Und Lätizia sah, daß sie mit ihm spielen konnte. Sein düsteres Schweigen schreckte sie nicht mehr, der große Schädel nicht auf seinem Stiernacken, der lippenlose Mund nicht, das entfärbte Gesicht nicht, die außerordentlich kleinen Hände bei solcher Kraft nicht. Sie wußte, daß sie mit ihm spielen konnte.

Große Glühwürmer flogen durch die Luft und saßen allenthalben im Gras. Als der Wagen vor der Villa hielt, deutete Lätizia mit Rufen des Entzückens um sich. Es war ein Funkenregen; die leuchtenden Tiere umschwirrten die Fenster, das Dach, die Pflanzengewinde und waren sogar in den Flur gedrungen.

Lätizia blieb vor der finsteren Stiege stehen, betrachtete das phosphorische Geflimmer und fragte ängstlich, mit einer kaum vernehmlichen Selbstverspottung in der tiefen Stimme: »Sag, Stephan, mein Lieber, können sie nicht das Haus in Brand setzen?«

Der Neger Scipio, der mit der Lampe aus einer Tür trat, hörte es und grinste.

6

Am Dreikönigstag kam Randolph von Stettner mit mehreren Freunden nach Christiansruh. Sie hatten telephonisch angefragt, und Christian hatte Gesellschaft so lange entbehrt, daß er sie gern aufnahm und bewirtete. Randolph zu sehen, war ihm stets angenehm. In seiner Begleitung fanden sich zwei Kameraden, ein Baron Forbach und ein Hauptmann von Griesingen, ferner ein junger Privatdozent, Doktor Leonrod, der bei den Bonner Husaren sein Jahr abdiente und ebenfalls in Uniform war. Christian kannte ihn von den Kommersabenden der Borussen her.

Es gab ein köstliches Mahl, und danach gab es köstliche Zigarren und Schnäpse.

»Ich sehe zu meiner Beruhigung, daß du die Leiblichkeit noch nicht verachtest,« sagte Randolph von Stettner zu Christian.

Hauptmann von Griesingen seufzte: »Wer könnte sie verachten, da sie uns so hart zusetzt und so verführerisch umgaukelt. Was ist nicht alles begehrenswert! Frauen, Pferde, Weine; Macht, Ruhm, Geld und Liebe. Ein Juwelenhändler in Frankfurt, David Markuse, hat jetzt einen Diamanten erworben und bietet ihn zum Kauf an, der über eine halbe Million kosten soll. Danach gelüstet mich zwar nicht, aber die Dinge sind doch da und werden besessen und geben Glück.«

»Es ist der Diamant Ignifer,« bemerkte Doktor Leonrod, »ein wahrer Abenteurer unter den Edelsteinen.«

»Ignifer, ein Name, der einem Diamanten ansteht,« sagte Randolph von Stettner; »aber warum sprechen Sie mit soviel Beziehung von ihm? Was unterscheidet ihn von seinesgleichen, die Höhe des Preises ausgenommen? Hat er so ungewöhnliche Schicksale gehabt?«

»Durchaus,« antwortete Doktor Leonrod, »durchaus ungewöhnliche. Ich weiß zufällig Genaueres über ihn, da ich mich, in meiner Eigenschaft als Mineraloge, manchmal auch für Edelsteine interessiere.«

»Also erzählen Sie!« riefen die jungen Offiziere.

»Der Käufer des Ignifer würde nicht wenig Mut beweisen,« fing Doktor Leonrod an; »denn der Stein ist von Verhängnis umwittert. Seine erste Besitzerin war nachweislich Madame de Montespan; sie ist gleich hernach von ihrem Herrn verstoßen worden. Dann war er Eigentum der Königin Marie Antoinette. Er wog damals fünfundneunzig Karat. Während der Revolution wurde er gestohlen und kam, entzweigespalten, erst fünfzig Jahre später wieder zum Vorschein; er wog nur noch sechzig Karat. Es erwarb ihn ein Engländer, Thomas Horst, der durch Mord endete. Die Erben verkauften ihn nach Amerika; die Dame, die ihn trug, eine Mrs. Melmcoast, wurde auf einem Ball von einem Tobsüchtigen erdrosselt. Darauf kaufte ihn ein Fürst Alexander Tschernitscheff, brachte ihn nach Rußland und lieh ihn seiner Geliebten, einer Schauspielerin. Sie wurde von einem andern Liebhaber auf offener Szene erschossen, der Fürst selbst fiel durch die Kugel eines Nihilisten. Nun gelangte der Stein nach Paris, und der Sultan Abdul Hamid ließ ihn für seine Favoritin kaufen. Die Favoritin wurde vergiftet, das Ende des Sultans ist bekannt. Nach der türkischen Revolution wanderte der Ignifer wieder nach Westen, dann abermals nach Osten, denn der neue Besitzer, Tavernier war sein Name, reiste nach Indien und kam bei einem Schiffbruch in der Nähe von Singapore ums Leben. Man glaubte eine Zeitlang, daß der Diamant mit ihm verlorengegangen sei. Es war ein Irrtum; der Stein war in einem Bankhaus in Kalkutta deponiert, und jetzt ist er wieder in Europa und wieder feil.«

»Er muß einen bösen Geist beherbergen,« sagte Randolph von Stettner, »und ich gestehe, es verlangt mich nicht nach ihm. Ich bin ja nichts weniger als abergläubisch, sind aber die Tatsachen so aufdringlich, wie in diesem Fall, dann wird die erleuchtetste Skepsis zuschanden.«

»Was tut das, wenn der Stein schön ist, wenn er unvergleichlich schön ist!« sagte Christian mit einem trotzigen und in sich gekehrten Ausdruck. Er blieb wortkarg, auch als sich die Unterhaltung andern Gegenständen zuwandte.

Am nächsten Mittag befahl er, daß das Auto vorfahre. Er fuhr nach Frankfurt in die Hochstraße, wo das Geschäft des Juwelenhändlers David Markuse war.

7

Herr Markuse kannte Christian.

Ignifer war in einem Kassenschrank verwahrt, der in einem feuer- und einbruchssicheren Gewölbe stand. Herr Markuse nahm ihn aus einem schwierig zu öffnenden Behälter, legte ihn auf die grüne Bespannung des Tischs und trat zurück, indem er Christian ansah.

Christian blickte stumm in das konzentrierte Strahlenfeuerwerk. Sein Gedanke war: Da ist das Seltenste und Kostbarste; Selteneres und Kostbareres gibt es nicht. Daß er den Diamanten haben müsse, beschloß er sogleich.

Die Farbe des Steins war etwas zitronengelblich. Er war als reich facettierte Briolette geschliffen. In einem Viertel der Höhe war eine Rille eingearbeitet, so daß ihn eine Frau an einer Schnur oder dünnen Kette am Hals tragen konnte.

Herr Markuse hob ihn auf ein weißes Blatt und behauchte ihn. »Er ist vom zweiten Wasser,« sagte er, »aber er hat weder Asche, noch Rost, noch Knoten. Sie sehen keine Adern an ihm, keine Sprünge und Cracks; keine Federn, Wolken und Körner und nicht die Spur von Stroh. Er ist ein Wunder der Natur.«

Fünfhundertfünfzigtausend Mark war der Preis. Christian stellte sein Anerbieten dagegen. Herr Markuse sah auf die Uhr. »Ich war einer Dame im Wort geblieben,« erklärte er; »die Zeit ist jedoch um.« Sie einigten sich auf fünfhundertzwanzigtausend Mark. Die Hälfte sollte bar, der Rest in zwei verschieden befristeten Wechseln bezahlt werden. »Der Name Wahnschaffe ist genügende Garantie,« sagte der Händler.

Christian wog den Diamanten in der Hand und legte ihn wieder hin.

David Markuse lächelte. »Bei meinem Geschäft lernt man Menschen beurteilen,« sagte er ohne Vertraulichkeit. »Sie kaufen in einer tieferen Absicht, die Ihnen vielleicht selbst nicht bekannt ist. Die Seele des Diamanten hat Sie verführt. Denn der Diamant hat eine Seele.«

»Meinen Sie wirklich?« Christian wunderte sich.

»Ich weiß es. Es gibt Menschen, die alle Scham verlieren, wenn sie so eines Steins ansichtig werden. Die Nasenflügel beben, die Wangen werden fahl, die Finger greifen unsicher, die Pupillen vergrößern sich, jede Bewegung ist ein Selbstverrat. Andre wieder werden eingeschüchtert oder betäubt oder traurig. Man gewinnt merkwürdige Einblicke. Masken fallen. Der Diamant macht die Menschen durchsichtig.«

Die indiskrete Wendung des Gesprächs mißfiel Christian. Aber er hatte schon oft die Wahrnehmung gemacht, daß etwas in seinem Wesen sein mußte, das andre zur Mitteilsamkeit und zu Eröffnungen aufforderte. Er erhob sich und versprach, am Abend wiederzukommen.

»Die Dame, von der ich sprach, war gestern hier,« fuhr Herr Markuse fort, ihn zur Tür begleitend; »eine wunderbare Dame. Als sie hereinkam, dachte ich: Geht man so? Ist es möglich, so zu gehen? Nun, ich erfuhr bald, daß sie eine berühmte Tänzerin ist. Sie wohnte im Palasthotel und hatte, auf der Reise von Paris nach Rußland, einen Tag Aufenthalt genommen, um den Ignifer zu sehen. Ich zeigte ihr den Diamanten. Sie stand wenigstens fünf Minuten regungslos, und ihr Gesicht hatte dabei einen Ausdruck – wäre es nicht ein großer Teil meines Vermögens, ich hätte sie gebeten, das Juwel zu behalten. Solche Momente sind freilich nicht eben häufig in diesem Beruf. Sie wollte heute wiederkommen, aber, wie gesagt, die Zeit ist um.«

»Und Sie wissen nicht ihren Namen?« fragte Christian befangen.

»Doch; Eva Sorel ist der Name. Haben Sie von ihr gehört?«

Das Blut schoß Christian ins Gesicht. Er ließ die Klinke los, die er gefaßt hielt. »Eva Sorel ist hier?« murmelte er. Rasch nahm er sich wieder zusammen und öffnete die Tür zu einem leeren Zimmer, dessen Fußboden ein roter Teppich bedeckte, während an den Wänden Ebenholzschränke standen. Fast zu gleicher Zeit wurde die gegenüberliegende Tür aufgerissen, und an der Spitze einer Gruppe von vier Herren trat Eva Sorel auf die Schwelle.

Christian blieb stehen.

»Eidolon!« rief Eva aus. Sie faltete die Hände mit jener nur ihr allein eignen enthusiastischen und beglückten Gebärde.

8

Die Herren, die mit ihr waren, kannte Christian nicht. Gesichtsschnitt und Kleidung bezeichneten sie als Fremde. An überraschende Vorgänge im täglichen Leben der Tänzerin gewöhnt, betrachteten sie Christian mit kühler Neugier.

Eva war in grauem Maulwurfspelz von Kopf bis zu den Füßen. An der Pelzkappe war eine Agraffe mit einem vollendet schönen Rubin und einer Reiherfeder befestigt. Unter der Kappe quoll das honigfarbene Haar in seiner Fülle hervor. Das Gesicht war von der Winterluft aufs zarteste gerötet.

Mit ein paar stürmischen Schritten stand sie vor Christian, und ihre weißbehandschuhten Hände griffen nach seinen beiden. Ihr großflammender Blick scheuchte Bewußtsein, Freude, Gegenwartsgefühl ins Innerste. Auf seinen Zügen malte sich Furcht. Wie ein Spielball, den man schleudert, fand er sich wehrlos und wartete auf das Ziel.

»Du hast den Ignifer gekauft?« war ihr erstes Wort. Da er schwieg, wandte sie sich mit einem Aufziehen der Brauen an David Markuse.

Der Juwelenhändler verneigte sich und sagte: »Ich glaubte nicht mehr auf Sie rechnen zu dürfen, Madame. Es tut mir herzlich leid.«

»Es ist wahr, ich habe zu lange gezaudert,« antwortete Eva in ihrem melodischen Deutsch von merkbar fremdem Tonfall. Sich wieder zu Christian kehrend, fuhr sie fort: »Vielleicht macht es keinen Unterschied, Eidolon, ob du ihn hast oder ob ich ihn habe. Er ist wie ein Herz, das der Ehrgeiz in Kristall verwandelt hat. Aber du bist ja nicht ehrgeizig; wärst du es, so hätten wir uns hier getroffen wie zwei Vögel, die vom Gewitter in das nämliche Felsenloch gewirbelt werden. Die Kostbarkeit macht mir fast ein Gespenst aus ihm, und schenken dürfte ihn mir keiner, der nicht weiß, was er bedeutet. Und wer sollte wissen? Sie schenken Ware, das ist alles.«

David Markuse schaute sie voll Bewunderung an und nickte.

»Es heißt, daß er Unglück über die bringt, die ihn besitzen,« sagte Christian leise.

»Willst du dich an ihm versuchen, Eidolon, und es auf eine Probe ankommen lassen? Den Dämon herausfordern, der etwas gegen dich vermag? Vielleicht rächt er sich nur an Unwürdigen, die ihn erschlichen haben. Auch mich hat er gelockt. Sein Name hat mich neidisch gemacht; als ich ihn hielt, war er wie der Nabel des Buddha; man kann die Gedanken nicht mehr von ihm reißen, wenn man ihn gesehen hat.«

Da sie merkte, daß die Gegenwart von Zeugen Christian befangen machte, faßte sie ihn am Arm und zog ihn in eine Fensternische hinter Gardinen.

»Sicher bringt er Unglück über Menschen,« wiederholte Christian mechanisch. »Wie kann ich ihn behalten, da Sie, Eva, sich ihn gewünscht haben?«

»Behalt ihn nur und entzaubre ihn,« versetzte Eva und lachte. Da er ernst blieb, leistete sie für das Lachen Abbitte durch eine Geste, mit der sie gleichsam etwas Leichtes aus der Hand warf. Sie betrachtete ihn schweigend. In dem scharfen Schneelicht am Fenster waren ihre Augen grün wie Malachit. »Was tust du?« fragte sie, »du blickst so einsam.«

»Ich lebe seit einiger Zeit ziemlich allein,« antwortete Christian, dessen Äußerungen immer trocken und präzis waren; »auch Crammon hat mich verlassen.«

»Iwan Becker hat mir von dir geschrieben,« sagte Eva mit gedämpfter Stimme. »Den Brief hab ich geküßt. Ich hab ihn auf meiner Brust getragen und die Worte manchmal vor mich hin gestammelt. Gibt es eine Auferweckung? Kann die Seele aus der Finsternis herauswachsen wie eine Blume aus der Wurzel? Aber da stehst du und rührst dich nicht, Hochmütiger! Sprich, die Zeit ist kurz.«

»Wozu sprechen?« wehrte Christian ab.

Obgleich sein Blick unsehend starr blieb, entging es ihm nicht, daß Evas Gesicht verändert war. Ein neuer Zug von Strenge lag darin; gesteigerter Wille durchdrang die Muskulatur bis in das Heben und Senken der langen Wimpern. Erfahrung von Menschen und Dingen hatte ihm Leuchtkraft verliehen; die unbegrenzte Herrschaft über sie einen Hauch von Fürstlichkeit.

»Ich hatte nicht vergessen, daß du in dieser Stadt wohnst,« begann sie wieder, »aber in den gehetzten Stunden war für dich kein Platz. Sie zählen meine Schritte und lauern auf das Ende von meinem Schlaf. Ein Gefängnis sollt ich mir verlangen oder einen selbstlosen Freund, der mich zwingt, sparsam mit mir zu sein. Als ich in Lissabon war, schenkte mir die Königin einen herrlichen großen Hund, der mir so ergeben war, daß ich es in allen Gliedern spürte; eine Woche darauf lag er vergiftet an der Gartenpforte. Ich hätte Trauer um ihn tragen mögen. Wie stumm und wachsam er war, und wie er lieben konnte.« Sie zog frierend die Schultern hinauf, ließ sie wieder fallen, und mit Hast in der Stimme fuhr sie fort: »Ich werde dich rufen. Wirst du kommen, wenn ich dich rufe? Wirst du bereit sein?«

»Ich werde kommen,« antwortete Christian einfach, aber sein Herz klopfte.

»Fühlst du noch für mich? Unverändert? Unveränderlich?« Ihr Blick hatte ein unbeschreibliches Empor, und der vom Geiste her bewegte Körper schlüpfte aus einer Hülle.

Er beugte nur das Haupt.

»Und wie steht es mit der Cortesia?« Sie trat näher, so nah, daß Christian ihren Atem roch. »Er lächelt,« rief sie, und ihre Lippen wichen von den Zähnen, »statt ein einziges Mal in die Knie zu sinken und zu rasen oder zu jubeln, lächelt er! Gib acht, du mit deinem Lächeln, daß ich nicht Lust bekomme, es auszulöschen.« Sie riß von der Rechten den Handschuh und reichte Christian die entblößte Hand, die er gehorsam mit den Lippen berührte. »So gilt es, Eidolon,« sagte sie heiter und mit einem Ausdruck von Verführung, »und du bist bereit. Messieurs,« wandte sie sich, aus der Nische tretend, an die Herren ihres Geleits, die sich, je zu zweien, flüsternd unterhielten, nous sommes bien pressés

Sie grüßte den Juwelenhändler mit einem kleinen Neigen der Reiherfeder, und die vier Herren ließen die Flinkschreitende an sich vorüber, um ihr geräuschlos und ehrerbietig zu folgen.

9

Als Christian durchs Dorf ging und Amadeus Voß am Fenster sah, blieb er stehen.

Voß erhob sich plötzlich und öffnete das Fenster, worauf Christian sich näherte.

Es war Tauwetter; von den Dachrinnen tropfte das Wasser. Christian empfand die leichtbewegte, nasse Luft als etwas Wehtuendes.

Vossens Augen hinter den starkgeschliffenen Gläsern glitzerten gelb. »Wir sollten uns kennen,« sagte er. »Obzwar, es ist lange her, seit wir draußen im Hag mitsammen Brombeeren pflückten. Sehr lange.« Er kicherte ein wenig.

Christian hatte beschlossen, das Gespräch auf Amadeus' taubstummen Bruder zu bringen. Da lag ein Geschehnis im Nebel der Vergangenheit, worüber er sich keine Klarheit verschaffen konnte, soviel er auch grübelte.

»Man zerbricht sich wohl den Kopf über mich?« fragte Voß im Ton eines Menschen, der wissen möchte, was andre über ihn sprechen; »ich bin, scheint mir, ein Stein des Anstoßes. Finden Sie nicht?«

»Ich maße mir kein Urteil an,« erwiderte Christian ablehnend.

»Mit welcher Miene Sie das sagen,« murmelte Voß und schaute Christian von oben bis unten an; »wie hochmütig Sie sind. Warum sind Sie stehengeblieben, wenn nicht aus Neugier?«

Christian zuckte die Achseln. »Erinnern Sie sich an eine Geschichte, die damals passiert ist, als ich hier im Försterhaus mit meinem Vater wohnte?« fragte er sanft und höflich.

»Was für eine Geschichte? Ich weiß von nichts. Oder warten Sie – meinen Sie vielleicht die Geschichte mit dem Schwein? Als da drüben im Wirtshaus das Schwein geschlachtet wurde, und ich –«

»Ganz richtig, die Geschichte mit dem Schwein war es,« sagte Christian, matt lächelnd. Kaum hatte er es ausgesprochen, so traten Schauplatz und Handlung mit ungemeiner Deutlichkeit vor seinen Geist.

Er war mit Amadeus und dem taubstummen Dietrich unterm Tor gestanden. Da hatte das Schwein angefangen zu schreien. Im selben Moment reckte Amadeus die Arme empor und hielt sie konvulsivisch zitternd in die Luft. Das gellende, minutenlang dauernde Todesgeschrei des Tieres war auch für Christian neu und schaurig, und es lockte ihn an den Ort, von wo es kam. Er lief hin und sah das blitzende Messer, den erhobenen, dann sinkenden Arm des Schlächters, das Zappeln der kurzen borstigen Beine und den Körper des Opfers, der sich zuckend hin und her drehte. Amadeus, Schaum vor den Lippen, war ihm nachgetaumelt, und hindeutend röchelte er: »Das Blut!« Und Christian sah das Blut auf der Erde, das Blut am Messer, das Blut auf der weißen Schürze des Mannes. Was dann weiter geschehen war, wußte er nicht mehr. Amadeus Voß aber wußte es.

Er sagte: »Ich wurde von einem fürchterlichen Krampf befallen, als das Schwein schrie. Viele Stunden lag ich steif wie ein Stock. Meine Eltern waren in Sorge, denn solche Zufälle hatten sich bei mir nie gezeigt. Was Ihnen vorschwebt, ist wahrscheinlich die Art und Weise, wie Sie mich in meiner Zerrüttung aufzumuntern oder zu beschämen trachteten. Sie stiegen in die Blutlache und stampften darin herum, daß das Blut aufspritzte. Mein taubstummer Bruder merkte aber, daß dadurch meine Aufregung nur vermehrt wurde; er stammelte und hob bittend die Hände gegen Sie, während bereits meine Mutter aus dem Haus stürzte. Da schlugen Sie ihn mit der Faust ins Gesicht.«

»Es ist wahr, ich schlug ihn mit der Faust ins Gesicht,« sagte Christian, der erblaßt war.

»Warum nur? Warum haben Sie ihn geschlagen? Seit jener Zeit sind wir ja nie mehr zusammen gewesen, haben uns nur von fern gesehen, das heißt ich Sie, nicht Sie mich. Sie waren viel zu vornehm, gingen immer mit Ihrem Engländer spazieren. Warum haben Sie Dietrich geschlagen? Er hatte ja eine stille Verehrung für Sie, ist Ihnen überall nachgelaufen, entsinnen Sie sich nicht? Oft haben wir darüber gelacht. Seit dem Tag war er verändert, auffallend sogar.«

»Ich glaube, ich habe ihn gehaßt,« antwortete Christian sinnend. »Ich habe ihn gehaßt, weil er nicht hören und nicht sprechen konnte. Ich hielt es für Bosheit.«

»Seltsam. Für Bosheit hielten Sie das? Seltsam.«

Sie schwiegen beide. Christian faßte nach seinem Hut und schickte sich an zu gehen. Da sagte Voß, indem er die Arme auf das Sims stufte und sich aus dem Fenster beugte: »In der Zeitung steht, daß Sie einen Diamanten für mehr als eine halbe Million Mark gekauft haben. Ist das richtig?«

»Es ist richtig,« entgegnete Christian.

»Einen einzigen Diamanten für mehr als eine halbe Million? Ich dachte, es ist Journalistenlatein. Könnt ich den Diamanten einmal sehen, würden Sie ihn mir zeigen?« Sein Gesicht hatte etwas so Aufgerissenes und Lechzendes, zugleich auch Hohnvolles, daß Christian stutzte.

»Gern, wenn Sie zu mir hinaufkommen wollen,« antwortete er, beschloß aber, sich verleugnen zu lassen, wenn Voß wirklich kommen sollte.

Das Geheimnis rührte ihn an, die Tiefe tat sich auf, ein Arm langte nach ihm.

10

In einer Nacht erwachte Lätizia und vernahm schlürfende, rennende Schritte, Atem von Gehetzten, Wispern und heisere Flüche, bald nah, bald ferner. Sie richtete sich empor und lauschte. Ihr Schlafgemach war gegen das Freie offen, die Tür führte zu dem Rundaltan, der das ganze Stockwerk des Hauses umgab.

Da näherten sich die eiligen Schritte; sie sah Gestalten, die sich von der Dunkelheit dunkler abhoben und schnell vorüberhuschten: eine, zwei, drei, nach kurzer Weile eine vierte. Sie ängstigte sich, aber rufen mochte sie nicht. Stephan, der im Nebenzimmer lag, aus dem Schlaf zu stören, war ein Wagnis für sie wie für jeden; er konnte dann brüllen wie ein Stier und in Zuckungen verfallen wie ein Hampelmann.

Lätizia lachte und schauderte bei dem Gedanken.

Sie bekämpfte ihre Furcht, stand auf, warf ein Nachtgewand um und trat beherzt auf den Altan. In diesem Augenblick zerteilten sich dichte Wolken vor dem Mond. Durch das unvermutete Licht in Bestürzung versetzt, hielten die vier Gestalten in ihrem Lauf inne, purzelten gegeneinander und sahen sich keuchend an.

Lätizia sah vor sich den alten Gottlieb Gunderam und seine drei Söhne, Riccardo, Paolo und Demetrios, die Brüder ihres Mannes. Es herrschte zwischen Vater und Söhnen ein unstillbares Mißtrauen. Sie belauerten und bezichtigten einander. Wenn bares Geld im Hause war, getraute sich der Alte nicht zu Bett, und jeder von den Brüdern verdächtigte den andern, daß er den Vater berauben wolle. Lätizia wußte davon. Aber daß sie in ihrer stummen Wut und Tücke einander in der Nacht jagten, einander um den Altan des Hauses jagten, jeder Verfolger und zugleich Verfolgter, voll Angst vor dem, der hinter ihm, voll Haß gegen den, der vor ihm lief, das war ihr neu. Sie lachte und schauderte.

Der Alte schlich zuerst hinweg. Er schlurfte in sein Zimmer und warf sich in Kleidern aufs Bett. Neben der Bettstatt standen zwei große Reisekoffer, bepackt und verschlossen. Sie standen seit zwanzig Jahren da. Seit zwanzig Jahren faßte er täglich den Entschluß, abzureisen, sich in das Familienhaus in Buenos Aires zu flüchten oder gar in die Staaten, wenn ihm des Haders mit seinem Weibe und später mit den Söhnen zuviel wurde. Er hatte sich niemals auch nur eine Stunde Wegs von der Estanzia entfernt. Aber die Koffer standen bereit.

Geduckt und still verließen auch die Brüder den Altan. Während Lätizia am Geländer stehend in den Mond schaute, hörte sie die rasselnden Töne eines Grammophons. Riccardo hatte das Instrument unlängst in der Stadt gekauft, und es kam oft vor, daß er es mitten in der Nacht ankurbelte.

Lätizia machte ein paar Schritte und spähte in das Zimmer, wo die drei Brüder mit finstern Gesichtern um den Tisch saßen und Poker spielten. Das Grammophon quiekte einen ordinären Walzer aus seinem Messingrachen.

Da lachte Lätizia und schauderte.


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