Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11

Judith Imhof ging an allen Gastspielabenden Lorms ins Theater. Sie ging aber nicht mit ihrem Mann und Crammon; die beiden störten sie; für Crammon hatte sie außerdem wenig Sympathie; wenn er ihr nicht gerade spaßhaft erschien, fand sie ihn unleidlich.

Sie nahm einen Platz im Parkett, und im Zwischenakt winkte sie gnädig und gelassen Crammon und Felix zu, die in einer Loge saßen. Um die Verwunderung der Bekannten kümmerte sie sich nicht. War jemand so vermessen, sie nach dem Grund ihres Alleinseins zu fragen, so antwortete sie: »Imhof mag es nicht, wenn einem andern etwas mißfällt, was ihn begeistert, und so gehen wir getrennte Wege.«

»Mißfällt Ihnen denn Lorm?« fragte der oder die Neugierige unfehlbar weiter. Worauf sie entgegnete: »Ich habe nicht viel übrig für ihn. Es ist wahr, er zwingt mir Interesse ab, doch das trag ich ihm nach. Ich begreife nicht, daß man so viel Aufhebens von ihm macht.«

Eines Tages wurde sie von einer Dame aus ihrem Kreis gefragt, ob sie sich in der Ehe glücklich fühle. »Ich weiß es nicht,« erwiderte sie lachend; »ich kann mir unter dem, was die Menschen Glück nennen, nichts Rechtes vorstellen.« Warum sie dann geheiratet habe? forschte die Dame. »Sehr einfach,« antwortete sie; »junges Mädchen zu sein, war mir ein so unerfreulicher Zustand, daß ich getrachtet habe, ihn so bald wie möglich zu beendigen.« So liebe sie also ihren Mann nicht? »Gott, Liebe,« versetzte sie, »Liebe. Mir scheint, mit dem Wort wird viel Unfug getrieben. Ich glaube, die meisten Leute flunkern bloß, wenn sie von Liebe reden, und legen sich nur deshalb so ins Zeug, weil keiner zugeben will, daß nichts dahinter steckt. Es ist wie mit des Königs neuen Kleidern im Märchen; alle tun ungeheuer wichtig und entzückt, derweil ist der König im jämmerlichsten Neglige.«

Ein andermal wurde sie gefragt, ob sie sich ein Kind wünsche. »Pfui!« rief sie aus, »ein Kind! Fraß für die Würmer.«

Als einst in Gesellschaft die Rede auf Schmerzempfindlichkeit kam, sagte sie, sie könne jede körperliche Marter erdulden, ohne mit der Wimper zu zucken. Es wurde bezweifelt. Sie verschaffte sich eine lange goldene Nadel und befahl einem Herrn, ihr die Nadel durch den ganzen Arm zu stechen. Als der Aufgeforderte sich erschrocken weigerte, ersuchte sie einen andern darum, der gröbere Nerven hatte, und der ihr willfahrte. Und wirklich regte sich kein Muskel in ihrem Gesicht. Das Blut ergoß sich in einem dicken Bach; sie lächelte.

Felix Imhof konnte bei geringem Anlaß weinen; manchmal schon bei Migräne. Dies verachtete sie an ihm.

Der Schauspieler ging ihr nahe. Sie wehrte sich vergeblich; er hielt sie im Bann, immer fester, immer unlösbarer. Sie grübelte. Waren es die Verwandlungen, die sie reizten?

Wie geschliffener Stahl, biegsam und elegant, war sein Körper, der den Vierzigjährigen zum Epheben machte. Wie Stahlschlag seine Stimme, in der die Worte als Funkengewirbel aufprasselten. Unter seinen Schritten wurde die Bretterbühne zur Palästra; da klebte nichts, da winselte und kroch nichts; alles war Anspannung, Fortgang, Verve, Rhythmus, Sturmtakt. Nichts innere Belastung, alles Fanfare. Sie gab Felix recht, als er sagte: »In diesem Menschen ist mehr Inhalt unsrer Zeit als in sämtlichen Journalen, Leitartikeln, Broschüren und dickleibigen Wälzern, die seit zwanzig Jahren die Druckerpresse verlassen haben. Er hat das Wort zum Herrscher gekrönt.«

Sie war ungeduldig nach der persönlichen Bekanntschaft mit Lorm. Crammon machte den Vermittler. Lorm kam ins Haus. Die Häßlichkeit seines Gesichts überraschte sie. Sie verübelte ihm die unbedeutende Stulpnase und die niedrige Stirn. Der Zauber wurde dadurch nicht gebrochen. Sie wollte es übersehen und übersah es. Es war eine Verwandlung mehr. Sie traute ihm unendliche zu.

Er zeigte sich als Feinschmecker mit Resten jener Gier, die Emporkömmlingen eigen ist. Tafelgenüsse verführten ihn zu Ausbrüchen lärmender Fröhlichkeit. Bei Sekt und Austern urteilte er wohlwollend über Feinde.

Er war so launenhaft, daß der Umgang mit ihm anstrengte. Ein Schatten veränderte seine Stimmung. Niemand trat ihm entgegen, und der Mangel an Widerstand hatte einen leeren Raum um ihn erzeugt, der beinahe wie Einsamkeit aussah. Er hielt es selbst für Einsamkeit und gefiel sich schmerzlich darin.

Er sprach nur in Monologen. Er hörte nur sich zu. Aber es lag Unschuld darin wie bei einem Wilden. Wenn andre redeten, verschwand er in einer Versenkung, und seine Augen bekamen einen Steinglanz, ohne daß der noch anwesende Teil von ihm an Artigkeit einbüßte. Doch hatte diese Artigkeit nicht selten etwas belastet Automatisches. Ergriff er dann wieder das Wort, so entzückte er durch Witz, Paradoxie und meisterhaft erzählte Anekdoten.

Unterhaltung mit Frauen vermied er. Schönheit und kokette Künste machten keinen Eindruck auf ihn. Wenn man ihn anschwärmte, wurde seine Miene höflich-aufmerksam und er dachte etwas Respektloses. Er erlebte keine Abenteuer, an seinen Namen hingen sich keine pikanten Gerüchte. Außerhalb des Theaters führte er das Leben eines Privatmannes von bescheidenen Gewohnheiten.

Mit kühlem Spürsinn tastete sich Judith an den Klippen seines Wesens entlang. Sie, die ohne allen Schwung war, vollkommen nüchtern, bloß Nützliches gewahrend, bloß an Zweckmäßiges denkend, von Jugend auf eingeschnürt in Formen und nichts anderes schätzend als Äußeres: Gewänder, Geschmeide, Prunk, Titel, Namen, war in einem Zeitraum von drei Tagen so von ihm besessen, daß sie mit Elektrizität geladen schien. Es war vornehmlich Äußeres, wovon sie fasziniert war: sein Auge, seine Stimme, sein Ruhm; aber es war auch ein Inneres: die Illusion vom Schauspieler.

Sie wußte, was sie tat; sie berechnete jeden Schritt.

Eines Tages klagte Lorm über die Ordnungslosigkeit in seiner Existenz, die heillose Verwirtschaftung seines Erworbenen. Es war bei Tisch; die andern gingen mit Redensarten darüber hinweg; Judith nahm das Thema auf, als es ihr später gelang, mit ihm allein zu sprechen. Sie ließ sich die Personen schildern, die er verantwortlich gemacht und drückte Zweifel an deren Vertrauenswürdigkeit aus. Sie verwarf Einrichtungen, die er getroffen, gab Ratschläge, die er billigte, warf ihm Versäumnisse vor, deren er sich schuldig bekannte. »Ich schwimme in Geld und ersticke in Schulden,« seufzte er; »in zwanzig Jahren werde ich ein alter Mann und ein armer Teufel sein.«

Ihre praktische Umsicht erfüllte ihn mit naiver Bewunderung. Er sagte: »Ich habe bisweilen gehört, daß es solche Frauen wie Sie geben soll, ich habe aber nie an ihre Existenz geglaubt. Ich weiß nur von leeren Ansprüchen und blümeranten Gefühlen.«

»Sie sind ungerecht,« versetzte sie lächelnd, »jede Frau hat ein Gebiet, wo sie sich bewährt; die Welt kümmert sich bloß nicht darum. Zur Welt stehen wir meistens in einem falschen Verhältnis.«

»Dies ist klug,« sagte Lorm befriedigt. Er war ein Geizhals im Lob.

Gern ließ er sich nun von ihr in Gespräche über seine kleinen Sorgen und Nöte ziehen. Er hatte ausführliche Verhöre zu bestehen, denen er sich geduldig unterwarf. Er brachte ihr die Rechnungen seiner Lieferanten. »Man beutet Ihre Unerfahrenheit aus; Sie werden betrogen,« war Judiths Urteil. Er war beschämt.

»Haben Sie Geld ausgeliehen?« fragte sie. Es verhielt sich so. Er hatte zahllosen Schmarotzern seit Jahr und Tag beträchtliche Summen geborgt. Judith zuckte die Achseln und bemerkte: »Sie hätten Ihr Geld ebensogut zum Fenster hinauswerfen können.«

Lorm antwortete: »Es ist so lästig, wenn sie kommen und bitten; ihre Gesichter sind mir unappetitlich; ich gebe ihnen, was sie verlangen, nur um sie loszuwerden.«

Dergestalt bewegten sich ihre Unterhaltungen ausschließlich im Kreis der gewöhnlichsten Alltagsdinge. Aber gerade dies und nichts andres entbehrte und brauchte Edgar Lorm. Es war für ihn so neu und so ergreifend wie für einen nach Poesie und Leidenschaft hungernden Bürger die Entdeckung einer schwärmerisch entrückten Seele.

Judith hatte einen Traum. Sie lag nackt bei einem großen, schlüpfrigen, eiskalten Fisch. Sie lag bei ihm, weil er ihr gefiel, und sie schmiegte sich eng an ihn an. Auf einmal aber begann sie, ihn zu schlagen, denn seine kühlen, feuchten, schlüpfrigen, silbern glänzenden und am Rücken opalisierenden Schuppen flößten ihr eine hexenhafte Wut ein. Sie schlug und schlug, bis ihr die Besinnung schwand und sie erschöpft aufwachte.

Man unternahm eines Nachmittags einen Ausflug ins Isartal: Crammon, Felix, ein junger Freund Imhofs, Lorm und Judith. In einem Wirtsgarten war Kaffee getrunken worden; der Rückweg führte durch den Wald, man ging paarweise, Lorm und Judith waren die letzten. »Ich habe meine goldene Tabatiere verloren,« sagte Lorm plötzlich, in die Tasche fassend, »ich muß das Stück Wegs noch einmal gehen. Im Ort drüben hatte ich sie noch.« Es war eine Kostbarkeit, auf die er besonderen Wert legte, ein Geschenk des Königs, dem er in seiner Jugend in überschwänglicher Freundschaft verbunden gewesen, und ihm unersetzlich als Erinnerungszeichen.

Judith nickte. »Ich werde hier warten,« antwortete sie; »den Weg dreimal zu machen, bin ich zu müde.«

Er entfernte sich, Judith blieb stehen, den Kopf an einen Baum gelehnt, und sann. Ihre Stirn faltete sich, ihr Auge blickte bohrend. Es war still im Wald; die Luft regte sich nicht, kein Vogel schrie, kein Tier ließ Zweige knistern. Die Zeit verging; keineswegs von Ungeduld getrieben, nur von ihren Gedanken, die heftig und bestimmt waren, verließ sie endlich ihren Platz und wanderte langsam in die Richtung, aus der Lorm kommen mußte. Als sie eine Weile gegangen war, sah sie im Moos etwas Goldenes blitzen. Es war die Tabatiere, und sie hob sie ruhig auf.

Lorm kam verstimmt zurück; er schwieg, und als er an ihrer Seite weiter schritt, reichte sie ihm die Dose auf der offenen Hand. Er machte eine Gebärde freudiger Überraschung, und sie mußte ihm berichten, wo sie die Tabatiere gefunden hatte.

Danach schien er eine Weile mit sich zu kämpfen. Auf einmal sagte er: »Mit Ihnen wäre das Leben leichter zu leben.«

Judith erwiderte lächelnd: »Sie sprechen davon wie von etwas Unerreichbarem.«

»Ich glaube, es ist unerreichbar,« murmelte er mit gesenktem Kopf.

»Wenn Sie an meine Ehe denken,« versetzte Judith, immerfort fächelnd, »so halte ich das Wort für übertrieben und den Ausweg für einfach.«

»Ich denke nicht an Ihre Ehe. Ich denke an Ihren Reichtum.«

»Wollen Sie sich deutlicher erklären?«

»Soll geschehen.« Er suchte mit den Blicken in der Runde und trat an einen Baum. »Sehen Sie den kleinen Käfer da? Sehen Sie, wie er sich plagt, um in die Höhe zu kommen? Er hat wahrscheinlich schon ein ganz anständiges Stück Arbeit geleistet heute. Seit Sonnenaufgang mag er schon krabbeln, und wenn er oben ist, hat er was vollbracht. Nehm ich ihn aber jetzt zwischen meine Finger und hebe ihn hinauf, dann ist ihm sogar der Pfad, den er sich selber gebahnt hat, nichts mehr wert. So ist das mit dem Käfer, und so ist es mit mir.«

Judith überlegte. »Vergleiche müssen hinken, das ist ihr Vorrecht,« sagte sie spöttisch. »Ich begreife nicht, daß man einen Menschen verwirft, bloß weil er nicht mit leeren Händen zu einem kommt. Ein lächerlicher Einfall.«

»Zwischen einer Hand, die leer ist, und einer, die über unermeßliche Schätze gebietet, ist ein Unterschied,« antwortete Lorm ernst. »Ich habe mich aus der Armut emporgedient. Sie ahnen nicht einmal, was das ist: Armut. Alles, was ich bin und habe, verdanke ich unmittelbar meinem Körper, meinem Kopf, meinem Gehirn. Sie sind von Geburt an und durch Geburt daran gewöhnt, die Körper, Köpfe und Gehirne andrer Menschen zu kaufen. Und wenn Sie noch tausendmal mehr Sinn und Auge für die Wirklichkeit und vernünftige Lebensführung hätten, als Sie haben, Sie wissen nichts und können nichts wissen von dem sittlichen und höchst achtunggebietenden Gesetz, das Leistung und Entgelt gegeneinander sichert. Ihre Hilfsmittel geben Ihnen immer die Macht, dieses Gesetz zu ignorieren und eine Willkür dafür zu schaffen. Ihr Reichtum wäre mir eine Lähmung, ein Hohn, ein Gespenst.«

Er sah sie mit zurückgeworfenem Kopf an.

»So ist also unser Fall hoffnungslos?« fragte Judith trotzig und blaß.

»Da ich nicht erwarten kann und darf, daß Sie verzichten und Millionen im Stich lassen, um sich einem Komödianten zuzugesellen, ist er allerdings hoffnungslos.«

»Gehen wir,« sagte Judith, ohne Farbe im Gesicht, »die andern werden uns vermissen. Ich will nicht Anlaß zum Gerede geben.«

Sie schritten rasch und stumm weiter. Der Wald öffnete sich, unter schwarzer Wolkenwand hing die glutbebende Sonnenkugel. In rasendem Zorn starrte Judith hinein. Zum erstenmal war ihr Wille an einen stärkeren Willen geraten. Vor Zorn füllten sich ihre Augen mit Nässe. Vor Zorn stieß sie ein Gelächter aus, das nichts Melodisches hatte. Als Lorm sie betroffen anschaute, wandte sie sich ab und biß die Zähne in die Lippe.

»Ich bin imstande und tus,« sprach sie im Zorn zu sich selbst. Dann wurde es trotziger Entschluß: ich tus, ich tus.

12

Wie er es erwartet hatte, fand Christian, als er mit Amadeus Voß nach Berlin kam, viele Menschen und viel Tumult um Eva. Kaum konnte er zu ihr dringen. »Ich bin müde, Eidolon,« rief sie ihm entgegen, »führ mich fort.«

Dann wieder, als sie sich aus einem Schwarm von Bedrängern gelöst hatte: »Wie gut, daß du da bist, Eidolon, ich habe mit Schmerzen auf dich gewartet. Morgen reisen wir.«

Aber die Abreise wurde von Tag zu Tag verschoben. Es war davon die Rede, daß sie in dem holländischen Seebad, das ihr nächstes Ziel war, allein und zurückgezogen leben wollte, doch Christian hatte bereits ein Dutzend Personen gesprochen, die dort Quartier bestellt hatten, und er zweifelte an dem Ernst ihrer Absichten. Die Menschen waren ihr unentbehrlich, und wenn sie schwieg, mußten wenigstens andre um sie reden; wenn sie ruhig lag, mußte Bewegung um sie sein.

Als sie vor ihm stand, durchdrang ihn der Wohlgeruch ihres Körpers wie ein Schrecken. Er blickte verwirrt vor sich nieder. Unter der Heftigkeit einer aufrauschenden Blutwelle verlor sein Pulsschlag den Rhythmus.

Er hatte ihr Gesicht vergessen, ebenso wie die erstaunliche Wahrheit ihrer Gebärde, ihr unmittelbares Wort, ihre Hingerissenheit und ihr Hingerissensein, ihre ganze machtvolle, zarte, blühende, blendende Gegenwart. Alles war ihr zu Willen, die Elemente sogar. Wenn sie auf die Straße trat, strahlte die Sonne reiner, war die Luft linder. Sie verwandelte das gehetzte Treiben um sich in einen gehorsam flutenden Strom.

Susanne sagte zu Christian: »Wir sollen hier tanzen; man macht uns Anträge; aber die Preußen gefallen uns nicht. Es sind engherzige Leute. Sie sparen ihr sauer verdientes Geld für Kanonen und Kasernen. Ich habe noch kein wirkliches Gesicht gesehen. Ein Mann sieht aus wie der andre, eine Frau wie die andre. Wahrscheinlich werden sie von Maschinen erzeugt, fünftausend im Tag, gleich ausgewachsen und fertig angezogen wie Jasons Geharnischte.«

»Eva selbst ist eine Deutsche,« wies Christian die Hämische zurecht.

»Bah, wenn der Genius aus dem Himmel verstoßen wird, stürzt er blind auf die Erde und kann sich sein Asyl nicht wählen. Wo ist Herr von Crammon?« unterbrach sie sich, »warum besucht er uns nicht? Und wen haben Sie statt seiner mitgebracht?« Sie deutete mit dem Kinn auf Amadeus Voß, der steif und befangen in einer Ecke stand; die großen Brillengläser machten ihn einem Uhu ähnlich. »Wer ist dieser?«

Wer ist dieser? fragten auch Wiguniewskis und des Marques Tavera verwunderte Miene. Amadeus Voß war bis zu einem peinigenden Grad Neuling. Der stiere Ausdruck seiner Züge hatte bisweilen etwas so Albernes, daß Christian sich seiner schämte und die andern über ihn lachten.

Voß trieb sich in den Straßen herum, zwängte sich durch Menschengewühl, stand vor Auslagen und den Spiegelglasscheiben der Kaffeehäuser, kaufte Zeitungen und Flugblätter, redete fremde Leute an, aber er vermochte nichts in sich zu beschwichtigen. Er sah nur immer das Gesicht der Tänzerin vor sich; aufreizend und geziert; die Bewegung, mit der sie eine Frucht zerschnitt, einen der Freunde begrüßte, zu einem sich beugte, mit der sie sich auf einen Stuhl niederließ oder von ihm erhob, mit der sie an einer Blume roch, alle Bewegungen der Lider, der Lippen, des Halses, der Schultern, der Hüften, der Beine. Er fand sie aufreizend und geziert, aber sie waren seinem Gehirn eingeätzt wie einer photographischen Platte.

Eines Abends betrat er Christians Zimmer, sandfahl.

»Wer ist eigentlich Eva Sorel?« fing er mit Ingrimm und Verbissenheit an. »Woher kommt sie? Wem gehört sie? Was sollen wir bei ihr? Erzählen Sie mir etwas über sie. Klären Sie mich auf.« Er warf sich in einen Sessel und starrte Christian an.

Da Christian schwieg, nicht gefaßt auf diese Sturzflut von Fragen, fuhr er fort: »Sie haben mich in eine neue Haut gesteckt, aber der alte Mensch krümmt sich darin. Ist es ein Maskenball, auf dem ich mich befinde? So sagen Sie mir wenigstens, was die Figuren vorstellen. Ich bin auch maskiert, aber schlecht, scheint es. Ich hoffe von Ihnen, daß Sie die Fehler an meiner Maskerade ausbessern.«

»Sie sind nicht schlechter maskiert als ich und als die übrigen, Amadeus,« antwortete Christian mit besänftigendem Lächeln.

Voß stützte den Kopf auf die Arme. »Also eine Tänzerin ist sie, eine Tänzerin,« murmelte er gedankenvoll. »Für mein Gefühl hatte das Wort und der Begriff von jeher etwas Unzüchtiges. Wie ist es möglich, damit andre Vorstellungen zu verbinden als solche, die einem die Schamröte in die Wangen treiben?« Er schaute jäh empor und fragte mit stechendem Blick: »Ist sie Ihre Geliebte?«

Christian erbleichte. »Was Sie aus dem Gleichgewicht bringt, Amadeus,« sagte er, »glaub ich zu verstehen. Aber da Sie nun einmal mit mir gegangen sind, müssen Sie auch bei mir aushalten. Ich weiß nicht, wie lange wir mit all diesen Leuten beisammen sein werden, auch wozu wir hier sind, kann ich Ihnen so genau nicht sagen. Über Eva Sorel fragen Sie mich nicht. Kein Wort von ihr, im Lob nicht und im Tadel nicht.«

Voß verstummte.

13

Christian, Amadeus Voß, Mr. Bradshaw, der Marques Tavera und Fürst Wiguniewski fuhren im Auto, Eva benutzte die Bahn.

Aber sie vertrug Eisenbahnfahrten ebenso schlecht wie lange Autofahrten. In der Nacht lag sie schlaflos auf dem Bett, eingehüllt in Seide, das Gesicht in seidene Kissen geschmiegt. Susanne kauerte vor ihr, reichte ihr bald eine Parfümflasche, bald ein Buch, bald eine Süßigkeit, bald ein Glas eisgekühlte Limonade. Ein Prickeln war in ihren Gliedern, das sie nicht ruhen ließ, auf ihrer Brust lag der Alp, ihre Stirn zuckte zwischen Denken und Phantasien, zwischen Wollen und Überdruß am Wollen. Der Gesang der Räder auf den Schienen zerschnitt ihre Nerven, das Vorbeigleiten der nie so schwarz gewesenen Nacht reizte wie ein ins Unendliche auseinandergeflossenes Wahngebilde; sie sah Landschaften, in denen Bosheit war, Wälder, die tückisch den Weg versperrten, verwunschene Häuser und verstörte Menschen.

»Die Zeit ist ein Quälgeist,« hauchte sie; »ich möchte, daß sie vor mir stünde, und ich könnte zusehen, wie man sie peitscht.«

Susanne neigte sich über sie und schaute sie aufmerksam an.

»Was erhoffst du eigentlich von ihm?« flüsterte sie auf einmal in zärtlichem Ton, »was bedeutet das Spiel mit ihm? Er ist der Banalste von allen. Ich habe aus seinem Mund noch nie ein Wort von Schliff und Geist gehört. Weiß er, was du bist? Nicht im Traum. Seine Träume sind gewiß so leer wie sein Kopf. Dein Tanzen gilt ihm ungefähr soviel wie einem mittleren Bürger die Sprünge einer Provinzballerine. Die Nationen liegen dir zu Füßen, während er sich zu seinem überheblichen Lächeln entschließt. Du hast der Welt eine neue Gattung Glück geschenkt, und dieser deutsche Selbstgewiß steht ahnungslos und ungebildet.«

Eva sagte: »Wenn es zu düster ist an der Nordsee, fahren wir ans Meer nach Süden.«

»Man möchte ihm in die Ohren schreien: Auf die Knie mit dir! Bete an!« ereiferte sich Susanne. »Doch eher käme die Vendomesäule ins Wanken. Warum wankt er nie? Ich habe ihm geschildert, wie wir in Rußland auf Händen getragen worden sind, was für ein Taumel das war, was für Feste, was für Eruptionen von Begeisterung. Er machte ein Gesicht dazu, als läse man ihm eine mäßig interessante Nachricht aus der Zeitung vor. Ich sprach vom Großfürsten; runzle nicht die Stirn, ich konnte nicht anders, ich wäre sonst erstickt. Der Dschingiskhan an der Kette, ein Schauspiel, bei dem jedes Herz höher schlägt; eine eiserne Barbarenseele zerschmolzen, das passiert nicht alle Tage. Fünfzig Millionen zitternde Sklaven, und das übrige nach dem Wort: Sonne stehe still zu Gideon und Mond im Tale Ajalon. Dichter könnten es nicht schöner dichten. Hättest du zugehört, wie ich ihm zu Leibe gerückt bin, du wärst erstaunt gewesen über mein Talent, Goldfäden auf Sackleinwand zu sticken. Vergebliche Mühe. Er blieb bei regelmäßigem Atem wie eine Uhr. Ein paarmal schien mir, er zucke zusammen, aber es war eine Fliege schuld, die ihn an der Nase kitzelte.«

»Ob die Toiletten aus Paris schon in Heyst sein werden?« fragte Eva. Das lange Oval ihres Gesichtes dehnte sich, die Lippen kniffen sich ein wenig ein, die weißen Zähne blitzten hervor wie frisch geschälte Mandeln.

»Warum hast du dich ihm verweigert?« fuhr Susanne fort; »was man besitzt, hat man schon besessen, aufgeschobene Lust wird Last. Sie sollen die Sprossen deiner Leiter sein, weiter nichts. Alle Seligkeit der Nächte für dich; beim ersten Hahnenschrei mögen sie sich trollen. Wodurch verdient gerade er einen Vorrang? Weil du die Laune hattest, ein Götzenbildchen aus ihm zu schnitzen? Wozu hast du ihn gerufen? Ich habe Angst. Du wirst eine Dummheit machen.«

Eva schwieg. Ihre Zungenspitze zeigte sich zwischen den Lippen, ihre Augen schlossen sich listig. Diese Miene zu verstehen glaubend, sagte Susanne: »Es ist wahr, er besitzt den wunderbaren Diamanten, um den du Tränen geweint hast; es ist wahr. Aber du brauchst nur zu befehlen, und man wird dir die Schuhe mit solchen Steinen garnieren.«

»Wann hätte ich je um einen Diamanten geweint, du Lügnerin?« fragte Eva gleichgültig. Sie richtete sich empor; ganz in durchsichtige, wehende, blütenleichte Stoffe gehüllt, glich sie einem Geist, der aus dem Nichts entstanden ist. »Wann hätte ich je um einen Diamanten geweint?« wiederholte sie und faßte Susannes Schulter an.

»Du hast es erzählt, mir selbst erzählt.«

»Ein besseres Argument hast du nicht?« Eva lachte; das Lachen war ihre sinnlichste Äußerung, wie das Lächeln ihre geistigste war.

Susanne faltete die Hände und sagte ergeben: »Volvedme del otro lado, que de este ya estoy tostado,« was ein spanischer Stoßseufzer war: Legt mich auf die andre Seite, denn auf dieser bin ich schon geröstet.

14

Das Haus, das Eva bewohnte, lag unfern vom Strand. Es war ein alter Herrensitz; Wilhelm von Oranien hatte es erbaut; bis vor wenigen Jahren hatte es der verstorbenen Herzogin von Leuchtenberg gehört.

In den von mächtigen Quadern umschlossenen Räumen fühlte sich Eva wohl. Bei Tag und Nacht vernahm sie das langgezogene Rauschen des Meeres. Sooft sie ein Buch aufschlug, um zu lesen, ließ sie es alsbald wieder sinken und lauschte.

Sie schritt durch die Zimmer mit den alten Möbeln und dunklen Gemälden, froh, sich selbst zu besitzen und ohne Qual den erwartend, der dann kam. Sie begrüßte ihn mit halbgeschlossenen Augen und mit dem Lächeln einer, die sich ergeben hat.

Susanne übte auf einem Klavier mit sordinierten Saiten. Wenn sie ihr Pensum beendigt hatte, verkroch sie sich und blieb verschwunden.

Christian und Amadeus Voß hatten sich in einer benachbarten Villa eingemietet, Voß im Erdgeschoß, Christian oben. Voß, da Christian ihn nicht forderte und hielt, ging am Morgen fort und kehrte am Abend, auch spät in der Nacht, zurück. Wo er gewesen war, was er gesehen und erlebt, darüber schwieg er.

»Einen Menschen wie mich, darf man nicht von der Kette nehmen,« sagte er am Morgen des dritten Tages zu Christian, während sie frühstückten. »Ich schlafe einen andern Schlaf, ich atme einen andern Atem. Meine Seele rast irgendwo herum, ich bin auf der Jagd nach ihr. Erst muß ich sie eingefangen haben, dann werd ich vielleicht wissen, was mit mir los ist.«

»Wir sind heute abend zum Souper bei Eva Sorel gebeten,« sagte Christian, ohne aufzublicken.

Voß machte eine ironische Verbeugung. »Dies Souper sieht für mich verdammt nach Gnadenbrot aus,« erwiderte er bissig. »Spür ich doch den Widerstand gegen mich und die Fremdheit in Fleisch und Knochen. Es ist eine ziemlich überflüssige Komödie. Was soll ich dort? Fast alle reden französisch. Ich bin ein Kleinstädter, ich bin ein Dörfler, und die Lächerlichkeit, die mir anhaftet, ist schlimmer, als wenn ich ein Mörder und Brandstifter wäre. Vielleicht entschließ ich mich zu Mord und Brandstiftung, um nicht mehr lächerlich zu sein; wer weiß.« Er öffnete den Mund zum Lachen, es kam aber kein Ton heraus.

»Mich wundert es, Amadeus, daß Sie mit Ihren Gedanken nicht von dem einen Punkt loskommen,« sagte Christian. »Glauben Sie wirklich, daß es ein so wichtiger Punkt ist, der allein den Ausschlag gibt? Niemand kümmert sich darum, ob Sie reich oder arm sind. Da Sie in meiner Gesellschaft auftreten, genießen Sie volle Gleichberechtigung, und es wäre einfach schlechter Ton, wenn irgendwer dagegen verstoßen würde. Die Gefühle, die Sie äußern, erzeugen Sie in sich selber, und, wie mir scheint, mit einer Art von Freude. Es macht Ihnen Freude, sich zu quälen, und dann rächen Sie sich an den andern. Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Offenheit nicht übel.«

Amadeus Voß grinste. »Man möchte Ihnen manchmal die Wange tätscheln wie ein Schulmeister,« antwortete er geduckt; »das haben Sie brav gemacht, Christian Wahnschaffe, möchte man sagen. Ja ja, es war entschieden brav; brav geladen, brav geschossen, bloß schlecht gezielt. Um mich zu treffen, müssen Sie besser zielen. Eines ist wahr, die Krankheit sitzt in mir; viel zu tief, als daß sie durch ein paar billige Weisheitssprüche zu heilen wäre. Wenn mir dieser russische Fürst oder dieser spanische Legationsrat die Hand reicht, ist mir zumute, als hätt ich Banknoten gefälscht und die Sache könnte jeden Moment entdeckt werden. Wenn diese Dame an mir vorübergeht, mit ihrem unbeschreiblichen Duft und dem Rauschen von Gewändern, da schwindelt mir, als hing ich sechshundert Meter hoch über einem Abgrund, und alles in mir krümmt sich und stöhnt vor Niedrigkeit und Zertretenheit. Es krümmt sich, es krümmt sich, wie soll ichs ändern? In diesem Zeichen bin ich nun einmal geboren. Es ist nicht meine Welt, es kann nicht meine werden. Die Unteren müssen verbluten, die Oberen finden es in der Ordnung so. Ich gehöre zu den Unteren, zu denen, welchen man zuruft: Poche nur, du trüber Geist, zu denen, die man riecht wie faules Fleisch, die man meidet, die mit ewig eiternder Wunde herumgehen; zu denen gehöre ich, das ist mein Gesetz, und darüber haben Sie keine Macht, dagegen hilft keine Übereinkunft. Es ist nicht meine Welt, Wahnschaffe, und wenn Sie nicht wollen, daß ich den Verstand verliere und Unheil anrichte, so führen Sie mich tunlichst bald wieder aus ihr heraus oder schicken Sie mich fort.«

Christian, mit den Fingerspitzen über die Stirn streichend, sagte: »Geduld, Amadeus. Ich glaube, es ist auch meine Welt nicht mehr. Lassen Sie mir noch ein wenig Zeit, ich muß mir das alles erst zurechtlegen.«

Vossens Blick war saugend auf Christians Hand und Lippen geheftet. Die Worte waren ruhig hingesprochen, beinahe kühl, dennoch war etwas schwer Ringendes in ihnen, ein Ausdruck, der Voß bezwang. »Daß man dieses Weib verläßt, wenn man einmal bei ihr ist, will mir nicht einleuchten,« murmelte er mit tückischem Lauern um den Mund; »es sei denn, sie setzt einen vor die Tür.«

Christian konnte sich einer Bewegung des Widerwillens nicht enthalten. »Auf heute abend also,« beendete er das Gespräch und ging.

Eine Stunde später sah Amadeus Voß Christian und Eva am Strand. Er kam von den Dünen her, sie gingen unten, über den Schaum der letzten Wellen. Er blieb stehen, deckte die Hand über die Brille und schaute aufs Meer hinaus, als gewahre er weit draußen ein Segel. Jene sahen ihn nicht. In einem Gleichschritt, wie ihn das bewährte Einverständnis der Körper verleiht, wanderten sie dahin. Nach einer Weile blieben auch sie stehen, eng beieinander, und waren wie zwei dunkle, schlanke Säulen ins Lichtgrau von Luft und Wasser geschnitten.

Voß warf sich in das klirrende Gras und wühlte die Stirn in den Sand. So lag er viele Stunden lang.

Es kam der Abend. Das große Ereignis war, daß Eva unter ihren Gästen mit dem Diamanten Ignifer im Haar erschien. Sie trug ihn in einem kunstvoll gearbeiteten Platingestell, und er leuchtete über ihrem Haupt, abgelöst und radial entbrannt, eine geisterhafte Flamme.

Sie fühlte ihn mit jedem Herzschlag; er war ein Teil von ihr, ihre Rechtfertigung, ihre Krone. Er war nicht mehr Schmuck; er war ein aufstrahlendes und alle sofort überzeugendes Sinnbild.

Einige Sekunden lang herrschte ein fast bestürztes Schweigen. Die schöne Beatrix Vanleer, eine belgische Bildhauerin, schrie vor Erstaunen und Bewunderung laut auf.

Da verschwand das zarttrunkene Lächeln aus Evas Gesicht, und ihre Augäpfel drehten sich in die Winkel. Ihr Blick war auf Amadeus Voß gefallen. Dessen Gesicht war bläulichweiß.

Der Mund war halb offen wie bei einem Blöden, der Kopf brutal vorgestreckt, die herabhängenden Arme zuckten. Er trat langsam näher, die Augen stier auf den unsäglich glühenden Edelstein gerichtet. Die rechts und links von ihm standen machten ihm erschrocken Platz. Eva wendete das Gesicht von ihm und wich zwei Schritte zurück; Susanne tauchte neben ihr auf und breitete schützend die Arme aus, im selben Moment ging Christian auf Amadeus Voß zu, ergriff ihn bei der Hand und zog den stumm Gehorchenden aus dem Kreis.

Christians Haltung und Miene hatten etwas unmittelbar Beruhigendes für alle Anwesenden, und es begann auch, wie wenn nichts geschehen wäre, ein lebhaftes und angeregtes Gespräch.

Voß und Christian standen auf dem steinernen Balkon. In tiefen Zügen atmete Voß die Salzluft ein. Er fragte heiser: »Ist das der Ignifer?«

Christian nickte. Er horchte gegen das Meer. Die Wogen donnerten wie von einem Berg stürzende Blöcke.

»Nun hab ich das Geschlecht begriffen,« murmelte Voß, und der Krampf in seinem Gesicht löste sich unter dem Einfluß von Christians Nähe. »Ich habe Mann und Weib begriffen. In diesem Diamanten sind eure Tränen und eure Schauder eingeschlossen, eure Wollust und eure Finsternis. Loskauf, Blendwerk, unseliges Blendwerk; Fetisch, verfluchter Fetisch! Wie ich eure Nächte spüre, Wahnschaffe, wie ich alles weiß und sehe von Ihnen und ihr, seit ich dies gleißende Mineral erblickt habe, das der Herr aus Schleim geschaffen hat wie mich und euch beide. Es ist ohne Schmerz; irdisch und ganz und gar ohne Schmerz, rein geglüht und gnadenlos. Mein Gott, mein Gott, und ich, und ich!«

Der ihm unverständliche Ausbruch erschütterte Christian. Seine Gewalt fegte den Unwillen hinweg, den die schamlose Beredsamkeit Vossens in ihm entfacht hatte. Er horchte gegen das Meer.

Voß raffte sich zusammen. Er trat an die Brüstung und sagte auffallend gefaßt: »Sie haben mir heute Geduld angeraten. Was wollten Sie damit? Es hat so allgemein und vieldeutig geklungen wie das meiste, was ich von Ihnen zu hören bekomme. Von Geduld zu reden, ist auf jeden Fall bequem. Es ist ein Luxus, den Sie sich gestatten, ein Luxus wie jeder andere, nur weniger kostspielig. Kein hassenwerteres und verächtlicheres Wort als Geduld. Es ist ein Lügenwort. Genau besehen, heißt es Feigheit, Trägheit. Was haben Sie denn vor?«

Christian gab keine Antwort, oder vielmehr, er nahm seine Antwort als gegeben an und stellte nach geraumer Weile und aus versunkenem Sinnen die Frage: »Glauben Sie, daß es etwas nützt?«

»Ich verstehe nicht . . .« sagte Voß und sah ihn an. »Was: nützen, wie: nützen?«

Aber Christian äußerte sich nicht weiter darüber.

Voß wollte nach Hause gehen, doch Christian bat ihn, zu bleiben. Sie kehrten zurück und gingen mit den andern in den Speisesaal.

15

Das Souper war zu Ende, die Tischgesellschaft begab sich in den Salon.

Die Unterhaltung wurde zuerst französisch geführt, dann, Mr. Bradshaw zuliebe, der diese Sprache nicht beherrschte, deutsch.

Der Amerikaner lenkte das Gespräch auf die aussterbenden Völkerschaften der neuen Welt und die Tragik ihres Untergangs. Von Eva aufgefordert, erzählte er ein Erlebnis, das er bei den Navajosindianern gehabt.

Der Stamm der Navajos hatte sich dem Christentum und den damit verbundenen Zivilisationsbestrebungen am längsten widersetzt. Um sie gefügig zu machen, verbot ihnen die Bundesregierung den Jahrtausende alten Yabe-Chi-Tanz, die feierlichste Übung ihres Kultus. Der Kommissär, der den Befehl auszuführen hatte und in dessen Begleitung sich Mr. Bradshaw befand, erteilte auf die flehentliche Bitte der Häuptlinge die Erlaubnis zur Abhaltung eines letzten Tanzes. Um Mitternacht, beim Schein der Lagerfeuer und Holzfackeln, traten die grellgeputzten und -bemalten Sänger und Tänzer auf. Die Sänger sangen ihre Lieder, die die Schicksale dreier Helden schilderten, welche in die Gewalt eines feindlichen Stammes geraten und durch den Gott Ya befreit worden sind. Der Gott lehrt sie, auf dem Blitz zu reiten; sie flüchten in die Höhle der Grizzlybären und von dort in das Reich der Schmetterlingskönigin. Die Tänze stellten die sagenhafte Begebenheit sinnlich dar. Während nun die Felsengebirge von den Gesängen widerhallten und die fratzenhaften Tänze in der Purpurglut sich zum Ausdruck der Verzweiflung steigerten, brach ein gewaltiges Unwetter los. Wolkenbrüche stürzten herab, die binnen einer Viertelstunde die ausgetrockneten Flußläufe mit brüllenden Fluten füllten; die Feuer verloschen, die Medizinmänner beteten mit erhobenen Armen, und die Sänger und Tänzer, im Glauben, der Gott sei ergrimmt, weil sie bereit gewesen waren, auf den heiligen Tanz zu verzichten, suchten in schmerzlicher Wildheit freiwillig den Tod in den rasenden Gewässern, die ihre Leichname hinunter in die Ebene trugen.

Als Mr. Bradshaw schwieg, sagte Eva: »Götter sind rachsüchtig; die friedlichsten noch verteidigen ihren Sitz.«

»Eine heidnische Anschauung das,« ließ sich scharf und herausfordernd die Stimme Amadeus Voß' vernehmen; »es gibt keine Götter. Götzen gibt es, allerdings, und Götzen soll man zerschlagen.« Er schaute sich trotzig um und fügte schleppend hinzu: »Denn der Herr sprach: es kann mich der Mensch nicht ansehen und dann noch leben.«

Man lächelte. Der Marques Tavera hatte nicht verstanden und wandte sich an Wiguniewski; dieser flüsterte ihm ein paar französische Worte zu, und nun lächelte auch der Marques, mitleidig und boshaft.

Voß erhob sich mit zerquältem Gesicht. Die Heiterkeit in allen Mienen war eine Züchtigung für ihn. Aus den glitzernden Brillengläsern schoß ein giftiger Blick in die Richtung, wo Eva saß, und verstört sagte er: »An der gleichen Stelle der Schrift heißt es auch: Lege deinen Schmuck ab, Volk Israel, und ich will sehen, was ich aus dir mache. Da ist kein Platz für Deutung.«

Er kann die Augen nicht entsühnen, dachte Christian und wich dem auf ihn gerichteten Blick Evas aus.

Amadeus Voß verließ die Gesellschaft. Auf der Straße rannte er mit den Händen an den Schläfen wie gehetzt. Der steife englische Hut war in den Nacken zurückgeschoben. In seinem Zimmer angelangt, öffnete er den Reisekoffer und nahm ein Paket Briefe heraus. Es waren die gestohlenen Briefe der unbekannten F. Er setzte sich zur Lampe und las mit gespannter Aufmerksamkeit und brennender Stirn. Es war nicht die erste Nacht, die er dieser Beschäftigung widmete.

Als Eva mit Christian allein war, fragte sie: »Warum bist du mit diesem Mann gekommen?«

Er hob sie lachend auf seine Arme und trug sie durch viele Räume, erst durch erhellte, dann durch dunkle.

»Das Meer schreit,« stammelte ihr Mund an seinem Ohr.

Er wünschte, alle andern Laute möchten sterben außer dem Donnern des Meeres und der sinnlich jungen Stimme an seinem Ohr. Er wünschte, er hätte damit die Unruhe ersticken können, die ihn mitten in Umarmungen überfiel und ihn, wenn das Bewußtsein wiederkehrte, nach neuen Umarmungen durstig machte.

Der heiße, schlanke Leib loderte an ihm empor, und er vernahm die Klage einer fremden Stimme: Was sollen wir tun?

»Warum bist du mit diesem Mann gekommen?« fragte Eva in tiefer Nacht, zwischen Schlaf und Schlaf, zwischen Umarmung und Umarmung, glühend und ermattet. »Ich ertrag ihn nicht. Seine Stirn ist immer naß von Schweiß. Er ist aus einer finstern Welt.«

Im Zimmer herrschte bläuliche Dämmerung, hervorgebracht von einem blauen Licht in blauer Schale, und vor den Fenstern war bläuliche Dunkelheit.

»Weshalb antwortest du nicht?« drängte sie und richtete sich auf, das bleiche Gesicht in einer braunen Wildnis von Haaren.

Er wußte keine Antwort. Er fürchtete das Ungenügende einer jeden wie auch den Widerspruch, den sie finden würde.

»Was ists mit diesem Voß, was ists mit dir, Lieber?« rief Eva, zog ihn an sich, klammerte sich an ihn und küßte seine Augen, als wolle sie sie austrinken.

»Ich will ihn bitten, deine Nähe zu meiden,« sagte Christian, und er sah auf einmal sich und Voß auf dem Bauernhof in Nettersheim, sah die knienden Knechte und Mägde, die alte, rostige Laterne, die tote Magd und den Schreiner, der das Maß zum Sarg nahm.

»Sag mir, was du an ihm hast,« flüsterte Eva; »plötzlich ist mir: ich spür dich nicht. Wo bist du, Lieber? Sprich mit mir, mein Freund.«

»Du hättest mich damals in Paris nehmen sollen,« sagte Christian leise und legte die Wange auf ihre Brust; »damals, als ich mit Crammon zu dir kam.«

»Sprich nur,« versetzte Eva hauchend, sehr bemüht, ihren Schrecken zu verbergen, »sprich nur.«

Ihre Augen glänzten feucht, ihre Haut glich weißleuchtendem Atlas; ihr Gesicht hatte im Zwielicht eine vergeistigte Magerkeit; die beherrschte Anmut der Gebärde unterwarf die Stunde; das Lächeln war tiefsinnig täuschendes Spiel; alles war Spiel, Spiegelung, Entrückung, unerwartete Zauberei. Christian schaute sie an.

»Erinnerst du dich an ein Wort, das du mir einmal sagtest?« sprach er. »Du sagtest, Liebe ist eine Kunst wie die Musik und die Poesie, und wer sie anders versteht, der findet keine Gnade. Hab ichs richtig behalten?«

»Sprich nur, sprich, mein Liebling.«

Er hielt sie in den Armen, und das Leben ihres Körpers, die Wärme, das Blutwissen und die ihm begegnende Bewegung erleichterten ihm die Rede. »Nun sieh,« fuhr er bedächtig fort und liebkoste ihre Hand, »ich habe Frauen nur genossen. Nur genossen, nichts weiter. Ich wußte nichts von Liebe, die Kunst ist. Ich habe es leicht gehabt mit ihnen. Sie beteten mich an, da war keine Mühe. Sie legten mir keine Hindernisse in den Weg, und ich bin über sie hinweggegangen. Man hat mir keine Aufgaben gestellt, sie waren froh, wenn ich nur mit ihnen zufrieden war. Aber du, Eva, du bist mit mir nicht zufrieden. Du siehst mich an und prüfst und läßt mich nicht aus den Augen. Du bleibst wachsam, ob wir auch noch so tief hinuntersinken, dorthin, wo man nicht mehr weiß und denkt; du bleibst wachsam, weil du mit mir nicht zufrieden bist. Ist das nun ein Irrtum, ein falsches Gefühl?«

»Es ist so spät in der Nacht,« sagte Eva, beugte den Kopf aufs Kissen zurück und schloß die Augen. Sie lauschte dem verlorenen Nachhall seiner Stimme und war vor Beklommenheit fast ohne Atem.

16

Es war in einer andern Nacht. Sie hatten viel gescherzt und einander heitere Dinge erzählt, und endlich waren sie müde geworden.

Da sah Christian in der Dunkelheit vor den Fenstern die Gestalt seines Vaters, daneben die Hündin Freia. Der Vater hatte den Schritt eines einsamen Mannes. Niemals war Christian diese Einsamkeit so augenscheinlich gewesen. Das Tier war sein einziger Gefährte. Er hatte Umschau gehalten nach einem andern Gefährten, doch keiner hatte ihn begleiten gewollt.

Wie ist das möglich? dachte Christian.

Seine Sinne verloren sich in eine Art von Halbschlummer, während er Evas schönen Körper hielt, der glatt und kühl wie Elfenbein war. In diesem Halbschlummer, oder was es war, tauchten sein Bruder, seine Schwester, seine Mutter auf, und um jeden von ihnen war dieselbe Einsamkeit und Verlassenheit.

Wie ist das möglich? dachte Christian, ihr Leben ist zum Ersticken voll von Menschen.

Aber ist denn nicht auch dein Leben zum Ersticken voll von Menschen, antwortete er sich, und fühlst du nicht auch diese Einsamkeit und Verlassenheit? Woher kommt das? Was ist schuld?

Nun senkte sich ein dunkler Gegenstand über ihn. Es war ein Mantel; ein nasser triefender Mantel. Gleichzeitig rief ihm jemand zu: Steh auf, Christian, steh auf! Er vermochte nicht aufzustehen, die elfenbeinernen Arme ließen ihn nicht los.

Auf einmal gewahrte er Lätizia. Sie fragte nur das eine Wort: warum? Es dünkte ihm, während er schlief oder vielleicht auch nicht schlief, daß er sich für Lätizia hätte entscheiden sollen, die verurteilt war, mit ihren Träumen (und nur von Träumen lebte sie, von Einbildungen und Fiktionen) das Opfer der gemeinen Wirklichkeit zu werden. Ihm dünkte, als spräche Lätizia, auf Eva weisend: Was willst du bei dieser? Sie weiß nichts von dir, sie lebt und webt für sich. Sie ist ehrgeizig, bei ihr kannst du nicht Hilfe finden in deinem Leiden. Denn nur um dein Leiden zu vergessen und zu betäuben, verschwendest du dich an sie.

Christian erstaunte darüber, daß Lätizia so weise war. Er war fast geneigt, ihre Weisheit zu belächeln. Gleichwohl wußte er nun, daß er litt. Es war ein Leiden von unergründlicher Beschaffenheit, das von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde größer wurde wie eine um sich fressende Wunde.

Sein Kopf lag auf der Schulter seiner Geliebten; ihre kleinen Brüste ragten aus violetten Schatten empor und hatten einen zitternden Kontur. Er fühlte ihre Schönheit durch und durch, ihre Seltsamkeit, ihre Leichtigkeit. Er fühlte, daß er sie mit allen Gedanken und bis in die letzten Adern liebte, aber daß er trotzdem keine Hilfe bei ihr finden konnte.

Abermals rief es: Steh auf, Christian, steh auf! Er vermochte nicht aufzustehen. Er liebte dieses Weib und fürchtete sich vor dem Leben ohne sie.

Die Morgendämmerung meldete sich schon, als ihm Eva das Gesicht zuwandte. »Wo bist du?« fragte sie; »wo schaust du hin?«

Er antwortete: »Ich bin bei dir.«

»Bis in deine letzten Gedanken?«

»Ich weiß nicht, ob bis in die letzten Gedanken. Ich kenne meine letzten Gedanken nicht.«

»Ich will dich aber ganz. Mit jedem Atemzug. Ich habe dich nicht ganz.«

»Und du,« fragte Christian ausweichend, »bist du denn ganz bei mir?«

Sie antwortete leidenschaftlich und mit herrschsüchtigem Lächeln, indem sie sich über ihn warf: »Du gehörst mir mehr, als ich dir gehöre.«

»Warum?«

»Erschrickst du? Bist du geizig mit dir? Ja, du gehörst mir mehr. Ich habe dich entzaubert. Ich habe deine steinerne Seele aufgeweicht.«

»Meine Seele aufgeweicht . . .« wiederholte Christian verwundert.

»Gewiß, Liebling, weißt du nicht, daß ich eine Zauberin bin? Ich habe Gewalt über den Fisch im Wasser, das Pferd auf der Erde, den Geier in der Luft und die unsichtbaren Daevas, wie es in der persischen Schrift heißt. Ich kann mit dir machen, was ich will, und du mußt dich fügen.«

»Das ist wahr,« bekannte Christian.

»Aber deine Seele schaut mich nicht an,« fuhr Eva, ihn umschlingend, fort, »es ist eine fremde Seele, eine dunkle, feindliche, unbekannte.«

»Vielleicht mißbrauchst du die Gewalt, die du über sie hast, und sie wehrt sich.«

»Sie soll gehorchen, nichts weiter.«

»Vielleicht ist sie deiner nicht ganz sicher.«

»Ich kann ihr nur die Sicherheit der Stunde geben. Die Stunde selbst liegt in ihrer Macht.«

»Was hast du vor?«

»Frag mich nicht. Laß mich nicht aus deinen Gedanken, nicht eine Sekunde lang aus deinem Gefühl, sonst haben wir uns verloren. Halt mich fest mit deiner ganzen Kraft.«

Christian antwortete: »Es kommt mir vor, als sollt ich wissen, was du meinst. Aber ich will es nicht wissen. Sieh mal, ich . . . du . . . es ist alles zu gering;« er schüttelte den Kopf, »alles zu gering.«

»Was willst du damit sagen: alles zu gering?« rief Eva erschrocken. Sie hatte beide Hände um seine Rechte gepreßt und sah gespannt in sein Gesicht.

»Alles zu gering,« beharrte Christian, als fände er keine andern Worte.

Er überdachte das Gehörte und Gesagte noch einmal mit der ihm eignen Skepsis und Hartnäckigkeit, dann stand er auf und sagte der Freundin gute Nacht.

17

Edgar Lorm spielte in Karlsruhe. Es war an einem Abend, wo er das Tempo gejagt und seinem Haß gegen Rolle, Stück, Partner und Publikum so deutlichen Ausdruck verliehen hatte, daß nach dem letzten Akt gezischt worden war.

»Ich bin ein armes Luder,« sagte er zu den Kollegen, mit denen er in einem Restaurant zur Nacht speiste. »Ein Komödiant ist ein armes Luder.« Er sah sie alle, die Reihe um, verächtlich an und schmatzte mit den Lippen.

»Man stand in besserem Einklang mit sich selbst in jenen Zeiten, da man unsereinen noch als Wäschedieb fürchtete und die kleinen Kinder mit unsern Namen schreckte. Findet ihr nicht? Oder ist euch wohl in euerm Stall?«

Die Runde schwieg ehrfürchtig, denn er war der berühmte Gast, der volle Häuser machte und vor dem der Direktor und die Rezensenten krochen.

Staub wirbelte in den Straßen, Sommerstaub, als er in sein Hotel ging. Wie öde mir ist, dachte er und schüttelte sich. Aber sein Schritt war leicht und frei wie der eines jungen Jägers.

Als er seinen Schlüssel in Empfang genommen hatte und sich zur Treppe wandte, stand plötzlich Judith Imhof vor ihm. Er zuckte auf und zurück.

»Ich bin bereit, arm zu sein,« sagte sie, fast ohne die Lippen zu bewegen.

»Sie haben hier Geschäfte, gnädige Frau?« fragte Lorm mit heller, kalter Stimme. »Jedenfalls erwarten Sie den Herrn Gemahl –?«

»Ich habe niemand erwartet als Sie und bin allein,« antwortete Judith, und ihre Augen blitzten.

Er besann sich mit verkniffenem Gesicht, das ihn alt und häßlich machte. Eine Gebärde lud sie ein, ihm zu folgen, und sie traten in das leere Lesezimmer. Eine einzige Flamme brannte über dem mit Zeitungen bedeckten Tisch. Sie ließen sich in zwei Ledersesseln nieder. Judith fingerte nervös an ihrem goldenen Handtäschchen. Sie war im Reisekleid und hatte ermüdete Züge.

»Vor allem: was ist noch zu verhindern an Tollheiten?« begann Lorm das Gespräch.

»Nichts,« erwiderte Judith frostig. »Wenn die Bedingung, die Sie gestellt haben, nur ein Abschreckungsmittel war und Sie sich feig von ihr lossagen im Moment, wo sie erfüllt wird, dann habe ich mich natürlich getäuscht, und ich habe hier nichts mehr zu suchen. Mich mit wohlmeinenden Reden zu verschonen, darf ich Sie ja um der Sache willen bitten, die mir ernst war.«

»Scharf, Frau Judith, und bitter, doch allzu ungestüm,« versetzte Lorm mit ruhiger Ironie. »Ich bin ein abgebrühter Mann, reichlich bei Jahren. und habe zuviel erlebt, um noch mit Romeohitze selbst die köstlichsten Überraschungen, die eine Frau für mich bereit hält, zu begrüßen. Lassen Sie uns über das, was Sie getan haben, wie zwei gute Freunde sprechen, und vertagen Sie das Urteil über mein Verhalten.«

Judith hatte an ihren Vater geschrieben und ihm mitgeteilt, er möge über die jährliche Rente, die er ihr bei ihrer Verheiratung ausgesetzt, anderweitig verfügen; sie habe den Entschluß gefaßt, sich von Felix Imhof scheiden zu lassen und folge einem Manne, dessen ausdrücklicher Wunsch es sei, daß sie auf ihr Vermögen verzichte. Zugleich hatte sie eine notariell beglaubigte Erklärung abgefaßt, die sie bei sich trug, um sie Lorm zu zeigen, und die sie dann erst an ihren Vater schicken wollte. So berichtete sie mit Gelassenheit. Felix hatte bei ihrer Abreise von ihrem Vorhaben noch nichts gewußt. Sie hatte einen Brief für ihn seinem Diener übergeben, das war alles. »Auseinandersetzungen in einer solchen Situation haben keinen Zweck,« sagte sie; »einem Mann, den man verläßt, die Gründe zu nennen, warum man ihn verläßt, das wäre so töricht, als wollte man den Zeiger auf dem Zifferblatt zurückdrehen, damit eine vergangene Stunde wiederkommt. Er weiß, wo ich bin und was ich will, das genügt. Im übrigen ist es keine Affäre für ihn; besser gesagt, es gibt so viele Affären in seinem Leben, daß eine mehr oder weniger nichts ausmacht.«

Lorm saß da, den Kopf weit vorgebeugt, das Kinn auf den Perlmuttergriff seines Stocks gestützt. Seine sorgfältig gescheitelten, noch ziemlich dichten, braunen Haare glänzten von Öl; seine Brauen waren zusammengezogen, in den Falten um die Nase und den zerarbeiteten Mund lag Freudlosigkeit.

Ein Kellner erschien in der Tür und verschwand wieder.

»Sie wissen nicht, was Sie auf sich nehmen wollen, Judith,« sagte Edgar Lorm und wippte leise mit den Füßen.

»So entdecken Sie es mir, daß ich mich danach einrichte,« entgegnete Judith leichtsinnig.

»Ich bin ein Komödiant,« sagte er beinahe drohend.

»Das weiß ich.«

Er legte den Stock auf den Tisch und verschränkte die Finger. »Ich bin ein Komödiant,« wiederholte er, und sein Gesicht wurde maskenhaft; »als solcher bin ich genötigt, die menschliche Natur in ihren extremsten Äußerungen vorzuführen. Das Bestechende beruht in einer auf den engsten Kreis projizierten Leidenschaftlichkeit und Konsequenz, die sich im wirklichen Leben niemals oder nur sehr selten finden. Es ereignet sich daher immer wieder, und diese Täuschung scheint ein verhängnisvolles Gesetz zu sein, daß man meine Person, diesen hier sitzenden Edgar Lorm, mit einem Rahmen umgibt, ungefähr so passend wie ein gotisches Kirchenfenster für eine Miniatur. Die weitere Folge ist, daß mir die Befestigungen und Vernietungen gegen die bürgerliche Existenz fehlen und alle Versuche, mich in ein harmonisches Verhältnis zu ihr zu bringen, kläglich scheitern. Ich zapple unter einer luftleeren Glasglocke. Was ich mache, ist aufgetriebener Schaum. Es soll Menschen mit einem Doppelleben geben; ich habe ein halbiertes, ein gevierteiltes, im Grunde ein erloschenes. Ich verabscheue diesen Beruf. Ich übe ihn aus, weil ich keinen andern habe. Ich möchte Bibliothekar sein, in Diensten eines großen Herrn, der mich ungeschoren ließe; oder Besitzer eines Meierhofs in einem Schweizer Tal. Ich rede nicht von dem, was beim Theater nebenher läuft, an Eklem und Abstoßendem; von dem Narrenzug der Lügen und Eitelkeiten. Auch müssen Sie nicht glauben, daß ich das übliche Klagelied des verwöhnten Mimen absingen will, das aus Selbstüberschätzung und koketter Sucht nach Widerspruch gebraut ist. Mein Leiden liegt etwas tiefer. Der Krankheitserreger, wenn ich so sagen darf, ist das Wort. Mein Leiden stammt vom Wort. Es hat einen mörderischen Vergiftungs- und Entseelungsprozeß in mir verursacht. Was für ein Wort? werden Sie fragen. Nun, das Wort zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mann und Weib, zwischen Freund und Freund, zwischen mir und der Welt. Dasselbe Wort, das zu äußern Ihnen natürlich ist, bei mir ist es schon durch alle Register der Sprache und alle Temperaturen des Geistes gegangen. Sie gebrauchen es wie der Bauer die Sense, wie der Schneider die Nadel, wie ein Soldat seine Waffe. Für mich ist es ein Requisit, ein Scheinding, eine Molluske, ein Schalleffekt, ein tausendfach veränderliches Etwas ohne Umriß und ohne Kern. Ich schreie es, flüstre es, stammle es, krächze es, flöte es, treibe es auf, fülle das sinnlose mit Sinn, werde vom erhabenen zu Boden gedrückt: seit fünfundzwanzig Jahren. Es hat mich zerrieben; es hat mir den Gaumen gesprengt und den Brustkasten ausgehöhlt. Es ist, wenn auch noch so wahr, zuletzt doch unwahr; für mich unwahr. Es tyrannisiert mich, es martert mich, es flackert durch Wände und erinnert an Ohnmacht und unbelohnte Hingabe; es verwandelt mich in eine hilflose Puppe. Kann ich je sprechen: ich liebe, ohne mich bis in die Eingeweide zu schämen? Was bedeutet es nicht alles dies: ich liebe! Was hat es mir nicht alles bedeuten müssen! Immer wieder sieht der vorschriftsmäßig beleuchtete Pappendeckel vom Zuschauerraum wie eine echte Krone aus. Ich bin, genau betrachtet, ein verzweifelter Mensch. Ich bin ein Mensch, der Schiffbruch gelitten hat am Wort. Es klingt wunderlich, aber es ist so. Vielleicht ist der Schauspieler der verzweifelte Mensch schlechthin.«

Judith sah ziemlich verständnislos drein. »Wir werden uns, vermute ich, einander mit Worten wenig quälen,« sagte sie, nur um etwas zu sagen.

Edgar Lorm fand aber die Bemerkung fein und nickte ihr dankbar zu. »Das wäre allerdings ein Zustand, aufs innigste zu wünschen,« entgegnete er in seiner prinzlichen Weise; »denn sehen Sie: Wort und Gefühl, das sind Geschwister. Was zu sagen mich widert, empfinde ich auch verfilzt und schmacklos. Man müßte stumm sein wie das Schicksal. Möglich, daß ich für die wirklichen Erlebnisse schon verdorben bin; ausgelaugt. Ich habe verdammt geringes Zutrauen zu mir und bemitleide die Hand, die sich meiner annimmt. Na, wie dem immer sei,« schloß er und schnellte elastisch auf, »auch ich bin bereit.«

Er streckte ihr die Rechte hin wie einem Kameraden. Entzückt von der Lebhaftigkeit und ritterlichen Anmut der Bewegung, schlug Judith lächelnd ein.

»Wo sind Sie abgestiegen?« fragte er.

»Hier im Hause.«

Unbefangen plaudernd begleitete er sie bis an ihr Zimmer.

18

Am andern Nachmittag erschien plötzlich Felix Imhof im Hotel. Er schickte Judith seine Karte und wartete in der Halle, das dünne Spazierstöckchen im Auf- und Abgehen nachlässig schlenkernd, die Negerlippen zum Pfeifen gespitzt, das Hirn beladen mit Gedanken an Geschäfte, Spekulationen, Kurszettel, hundert Beziehungen und hundert Verabredungen. Aber sooft er an dem großen Glasfenster vorüberkam, warf er neugierige und lachende Blicke auf die Straße, wo sich zwei Knaben balgten.

Bisweilen nur verfinsterte sich sein Gesicht, und ein Krampf überflog es.

Der Boy meldete, die gnädige Frau lasse bitten.

Judith empfing ihn verwundert. Er begann sofort mit Eifer auf sie einzureden. »Ich habe in Liverpool zu tun und wollte dich noch mal sehen,« sagte er. »Es sind so viele Leute gekommen, die Anliegen an dich hatten; du wurdest eingeladen, man hat telephoniert, die Modistin war da, es kamen Briefe, ich wußte mir nicht zu helfen. Ich kann doch nicht jedem auf die Nase binden: meine Frau hat sich soeben französisch empfohlen für immer. Da ist dies und jenes; du mußt mich informieren, sonst gibts Verwirrung.«

Sie sprachen eine Weile über die Belanglosigkeiten, von denen er behauptete, daß sie ihn hergeführt. »Heute morgen war ich noch in Audienz beim Regenten,« erzählte er; »er hat mir gestern den persönlichen Adel verliehen.«

Judith errötete und hatte den Ausdruck einer Hypnotisierten, die sich an den Wachzustand erinnert.

Felix Imhof beklopfte mit dem Stöckchen seine klassisch gebügelte Hose. »Verzeih die Kritik,« sagte er, »aber meines Erachtens war die Sache besser anzupacken, als wie du sie behandelt hast. So Knall und Fall das Weite zu suchen, nee, das war nicht das Richtige. Eigentlich ein bißchen unter dem Niveau. Eigentlich nicht ganz fair.«

»Unvermeidliches muß schnell geschehen,« erwiderte Judith achselzuckend; »übrigens hat ja deine Seelenruhe nicht besonders darunter gelitten, wie ich merke.«

»Bah, Seelenruhe; das kommt gar nicht in Frage.« Er stand, nach seiner Gewohnheit, mit gegrätschten Beinen, wiegte sich und betrachtete seine glänzenden Lackstiefel. »Seelenruhe, was hat das damit zu schaffen? Aber wir sind ja Leute von Kultur. Ich bin kein Tiger, ich bin kein Philister. Welche Menschlichkeit fände mich unzugänglich? Du kennst mich eben nicht. Was mich freilich nicht erstaunt, denn wie und wo und wann hätten wir uns kennenlernen sollen? Die Ehe gab uns keine Gelegenheit dazu. Wir müssen das nachholen. Gestatte mir, diesen Wunsch in mein neues Junggesellenleben hinüberzuretten. Versprich mir, daß du mich künftig nicht so planvoll meiden wirst wie während der acht Monate unsres Zusammenlebens.«

»Wenn dir daran liegt, mit Vergnügen, lieber Freund,« antwortete Judith gutgelaunt.

So schieden sie voneinander.

Eine Stunde später saß Felix Imhof im Eisenbahnzug. Er starrte mit hervorquellenden Augen in die Landschaft, bis es finster wurde. Ihn verlangte nach Gesprächen, nach Wortgefechten, nach Entladungen. Mit verzogener Stirn musterte er die fremden Menschen, die nichts von ihm wußten, nichts von seiner Fülle, seinen umwälzenden Ideen, seinen weitgreifenden Plänen.

In Düsseldorf verließ er den Zug. Er hatte sich in letzter Minute hiezu entschlossen. Sein Handgepäck gab er zur Aufbewahrung, dann ging er durch mitternächtig düstere, alte Straßen, mit gebauschtem Mantel, hager.

Vor einem uralten Gebäude blieb er stehen. In diesem hatte er seine Jugend verlebt. Alle Fenster waren schwarz. »Hallo, Junge!« schrie er zu einem Fenster hinauf, hinter welchem er einst geschlafen hatte. Es echote von den Mauern. »Hallo, Junge, du Ohnename, wo kommst du eigentlich her?« sprach er. Er pflegte oft von sich zu sagen: »Ich bin von dunkler Geburt wie Caspar Hauser.«

Aber ihn drückte kein Geheimnis, nicht einmal das der unbekannten Herkunft. Er war ein Geheimnisloser, ein Aufgerissener, ganz neunzehnhundertfünf.

Er betrat ein Haus, zu dem er den Weg wußte seit den Gymnasialzeiten. In einem Saal, dessen Wände mit verschmierten Spiegeln bedeckt waren, befanden sich fünfzehn bis zwanzig halbentkleidete Mädchen. Er setzte sich in Hut und Mantel ans Klavier und spielte dilettantenhaft rauschend.

»Mädels, ich habe einen Zorn in mir,« sagte er. Und die Mädchen trieben Schabernack mit ihm, indes er spielte. Sie hingen ihm einen purpurroten Schal um die Schultern und tanzten um ihn herum.

»Ich hab einen Zorn in mir, Mädels, ich muß ihn hinunterspülen,« sagte er und ließ Sekt auftragen, daß sich der Tisch bog.

Die Türen wurden versperrt. Die Mädchen jauchzten.

»Tut etwas, um meinen Gram zu mildern, Mädels,« forderte er sie auf, stellte ihrer ein halbes Dutzend in eine Reihe, befahl ihnen, den Mund zu öffnen und steckte jeder einen Hundertmarkschein, wie eine Zigarette gerollt, zwischen die Zähne. Sie erstickten ihn schier mit Liebkosungen.

Und er trank, bis er die Besinnung verlor.


 << zurück weiter >>