Jakob Wassermann
Christian Wahnschaffe
Jakob Wassermann

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Ruth und Johanna

1

Es war im Hotel Fratazza in San Martino di Castrozza, als Crammon und die Gräfin Brainitz einander nach Jahren wieder trafen.

Die Gräfin saß auf dem Balkon vor ihrem Zimmer, und während sie an einer slawonischen Bauerndecke stickte und bisweilen mit sattem Blick die Dolomitenblöcke des Gebirges, die Waldhänge und Wege durchstreifte, fuhr ein staubbedecktes Automobil am Portal vor, welchem zwei Herren und zwei Damen in der modischen Reiseverpuppung entstiegen. Die Herren entledigten sich ihrer Brillen und verhandelten mit dem Hoteldirektor.

»Sehen Sie doch mal hinunter, Stöhr,« wandte sich die Gräfin an ihre Gesellschafterin; »sehen Sie doch: der Dicke mit dem Schauspielergesicht, der kommt mir bekannt vor –« Da kehrte Crammon sein Gesicht nach oben und grüßte; die Gräfin stieß einen kleinen Schrei aus.

Abends, im Speisesaal, konnte Crammon nicht umhin, an den Tisch der Gräfin zu treten, sich nach ihrem Befinden, der Dauer ihres Aufenthalts und dergleichen mehr zu erkundigen; die Gräfin schnitt seine höflichen Floskeln derb ab und sagte: »Herr von Crammon, ich habe mit Ihnen ein Wort unter vier Augen zu sprechen. Ich bin froh, daß sich endlich die Gelegenheit findet, ich habe lang genug darauf gewartet. Wann paßt es Ihnen?«

»Ich bin Ihr gehorsamer Diener, Gräfin,« antwortete Crammon mit schlecht verhehltem Unmut; »ich werde mir erlauben, Ihnen morgen gegen elf meinen Besuch zu machen.«

Zehn Minuten nach elf des andern Tages ließ er sich bei der Gräfin melden. Trotz des energischen Tones, mit dem sie ihn zum Tete-a-tete gefordert hatte, empfand er weder Neugier noch Besorgnis.

Die Gräfin deutete auf einen Stuhl, setzte sich ihrem Gast gegenüber und nahm eine richterliche Miene an. Sie sagte: »Meine gute Schwester, deren Sie sich wohl erinnern dürften, Herr von Crammon, ist vor nunmehr anderthalb Jahren nach schwerem Leiden in eine bessere Welt abberufen worden. Ich durfte ihr die Augen zudrücken; in ihrer letzten Stunde hat sie mir gebeichtet.«

Die Teilnahme, welche Crammon zeigte, war von so unverschämter Nachlässigkeit, daß die Gräfin schneidend hinzufügte: »Meine Schwester Else, Herr von Crammon, die Mutter Lätizias. Was haben Sie mir darauf zu sagen?«

Crammon nickte versonnen. »Also ist sie auch von hinnen,« seufzte er; »die Gute! Das ist jetzt an die zwanzig Jahre her, Gräfin. Es war eine herrliche Zeit. Man war jung; was liegt nicht alles in dem Wort! Erinnern Sie mich nicht, Gräfin, erinnern Sie mich nicht. Auch das Schöne muß sterben, das Menschen und Götter bezwinget, nicht die eherne Brust rührt es des ewigen Zeus.«

»Lassen Sie doch die Poesie aus dem Spiel,« versetzte die Gräfin ärgerlich. »Sie werden mich nicht mehr hinters Licht führen wie damals. Damals hat es Ihnen behagt, und es war Ihnen bequem, die Maske des Verschwiegenen aufzusetzen, und eine gewisse Virtuosität darin ist Ihnen nicht abzusprechen. Aber ich will Ihnen etwas sagen. Man kann so diskret sein wie eine Mumie; das hindert nicht, daß es Situationen gibt, wo man einer Regung des Herzens zu folgen hat, sofern man nämlich mit dem Artikel Herz überhaupt versehen ist. Ein Räuspern würde genügen; ein Lippenverziehen; ein feuchter Schimmer in den Augen. Nichts von alledem war bei Ihnen der Fall. Statt dessen haben Sie es seelenruhig geschehen lassen, daß das beklagenswerte Wesen, Ihre Tochter, Ihr Fleisch und Blut, einem tobsüchtigen Verbrecher ausgeliefert wurde, einem Tiger in Menschengestalt.«

Gemessen und würdig antwortete Crammon: »Wollen Sie die Gnade haben, Gräfin, sich meine wohlgemeinte Warnung ins Gedächtnis zu rufen? Wie ich zu Ihnen kam, spät in der Nacht, gefoltert von meinem Gewissen, und Vorstellungen erhob, gewichtigen Einspruch erhob?«

»Ach was, Warnung; Münchhauseniaden haben Sie mir aufgetischt. Betrogen haben Sie mich.«

»Ein starker Ausdruck, Gräfin.«

»Von dem ich nicht ein Jota zurücknehme.«

»Schade. Na ja. Also das mit dem feuchten Schimmer in den Augen, das ging nicht, Gräfin, das ging absolut nicht, dazu fehlt mir das Talent. Die kleine Lätizia war mir ja recht sympathisch, sogar ungewöhnlich sympathisch, aber rein menschlich, sehen Sie. Vatergefühle dürfen Sie von mir nicht erwarten. Offen und ehrlich, Gräfin: Vatergefühle halte ich für Schwindel. Eine Mutter, das ist etwas, da spricht die Natur. Aber ein Vater ist ein mehr oder minder unglücklicher Zufall. Nehmen wir mal an, Sie hätten es gegen mich auf einen dramatischen Coup abgesehen. Die Tür dort öffnet sich und herein kommt ein junger Herr oder eine junge Dame, ausgerüstet mit den erforderlichen Dokumenten und Indizien; Sie werden zugeben, daß sich wider einen normalen Mann von dreiundvierzig Jahren Dokumente und Indizien wie Sand am Meer finden lassen; dieser junge Herr oder die junge Dame also offeriert sich mir als Sohn beziehungsweise Tochter; ja, glauben Sie, daß ich auf einmal gerührt sein würde? daß da auf einmal das Vatergefühl emporschießen würde, mir nichts, dir nichts, wie der Dotter, wenn man auf ein rohes Ei tritt? Im Gegenteil. Ich würde sagen: Mein Herr, beziehungsweise mein Fräulein, Ihre Bekanntschaft gereicht mir zur Ehre, in allem übrigen aber kann ich Ihnen vorläufig nicht dienen. Es wäre ja auch der Gipfel der Ungemütlichkeit, wenn man beständig darauf gefaßt sein müßte, daß einem zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alte unbezahlte Rechnungen in lebender Form präsentiert werden. Wo käme man da hin? Besitzt der Sprößling Takt, sei er nun männlichen oder weiblichen Geschlechts, so wird er sich einen solchen Schritt ohnedies reiflich überlegen und nicht durch unzeitgemäße Zudringlichkeit einem Mann lästig fallen, der gerade damit beschäftigt ist, die unterste Neige des Freudenbechers nach genießbaren Überbleibseln zu durchforschen. Die Entstehung der liebreizenden Lätizia, meine verehrte Gräfin, war mit so besonderen Umständen verknüpft und ging so offensichtlich unter Einmischung höherer Mächte vor sich, daß mein eigenes Zutun und meine unbedeutende Person daneben kaum in Betracht kam. Als ich das junge Mädchen kennenlernte, hatte ich ein Gefühl wie ein Wanderer, der einmal einen Kirschenkern an einer Wegstelle eingegraben hat, ohne sich viel dabei zu denken, und nach Jahren, da er wieder dieselbe Straße zieht, von einem Kirschbaum überrascht wird. Eine erfreuliche, aber auch eine natürliche Angelegenheit. Soll er deshalb ein unbescheidenes Triumphgeschrei ausstoßen? Soll er überall in der Nachbarschaft herumgehen und sagen: Mein Kirschbaum! seht mal, was für ein gewaltiger Bursche ich bin –? Oder soll er beim Eigentümer des betreffenden Grundstücks den Kirschbaum für sich beanspruchen, ihn entwurzeln, vielleicht gar bei Nacht und Nebel stehlen, um ihn irgendwohin zu befördern, er weiß selbst nicht wohin? Der Mann wäre doch ein Einfaltspinsel, Gräfin, ein Maniak, ein Phantast.«

»Ich habe nur wenig Gemüt bei Ihnen vermutet, Herr von Crammon,« antwortete die Gräfin erbittert, »aber so wenig doch nicht. Ich muß gestehen, da fehlen mir die Begriffe. Ist das nun die Anschauung von allen Männern, sagen Sie mir, oder sind Sie in dieser Beziehung ein Unikum? Es wäre tröstlicher für mich, wenn Sie ein Unikum wären, denn ich müßte ja sonst auf die Menschheit traurige Schlüsse ziehen.«

»Da sei Gott vor, gnädigste Gräfin, daß mich die Schuld träfe, ein so respektables Geistes- und Seelengleichgewicht wie das Ihre zu zerstören, da sei Gott vor,« versetzte Crammon mit Eifer. »Nehmen Sie mich ruhig für eine Ausnahme. Ich bin es. Die meisten Leute, die ich kenne, sind stolz auf ihre Erzeugnisse, ob es nun Gedichte sind oder neue Westenmoden oder eine bisher noch nicht dagewesene Art, eine Gansleber zuzubereiten. Sie können gar nicht genug kriegen an Autorenruhm; wenn man sie von weitem sieht, muß man schon anfangen, Komplimente zu drechseln, und das Verlogenste schlucken sie mit einer Gier hinunter, daß man sich für sie schämt. Aber kein Koch, kein Dichter und kein Schneider kann so von Urheberbewußtsein geschwellt sein wie ein landläufiger bürgerlicher Vater. Dagegen ist ein Büffel eine feinnervige Kreatur. Mein ganzer Haß gegen die Institution der Familie rührt davon her, daß mir mal einer, dessen Hahnreischaft notorisch war, auf die Frage, wie er denn bei seiner und seiner Gemahlin brünetten Beschaffenheit zu zwei so hochblonden Knaben komme, ganz frech antwortete, seine Vorfahren seien Normannen gewesen. Normannen, ich bitte Sie! Und der Bursche war ein Jude aus Prag. Normannen!«

Die Gräfin schüttelte den Kopf. »Sie erzählen wieder einmal Geschichten,« sagte sie, »und ich bin nicht für Geschichten, für die Ihrigen schon gar nicht. Sie lehnen also jede Verantwortung ab? Sie betrachten Lätizia als eine Fremde und verleugnen das süße Engelskind? Ist das der langen Rede kurzer Sinn?«

»Durchaus nicht, Gräfin. Ich bin zu jeder freundschaftlichen Annäherung bereit. Bloß darf man mich nicht festnageln und mir eine blümerante moralische Verpflichtung aufreden wollen. Meine Natur ist ihrer Hauptrichtung nach gelassen, aber in einem solchen Fall werde ich expeditiv. Doch versäumen wir die Zeit nicht mit Theorien; erzählen Sie mir, worin das Unglück der kleinen Lätizia besteht.«

Den Abscheu, den ihr Crammon einflößte, unterdrückend, berichtete die Gräfin, daß sie vor vier Wochen plötzlich ein Telegramm Lätizias aus Genua erhalten habe. Die Depesche habe gelautet: Schicke mir Geld oder komme selbst so rasch du kannst. Sie sei sofort hingefahren und habe das Kind in einer erbarmungswürdigen Lage angetroffen. Von allen Mitteln entblößt, derart, daß sie ihren Schmuck habe versetzen müssen, um nur das Leben im Hotel bestreiten zu können; von der argentinischen Amme, die sie herübergebracht, tyrannisiert und hintergangen; die Zwillinge leidend, das eine an einem Darmkatarrh, das andere an einer Augenentzündung –«

»Zwillinge, sagen Sie? Zwillinge?« unterbrach Crammon bestürzt.

»Jawohl, so ist es, Sie sind Großvater von Zwillingen,« erwiderte die Gräfin mit malitiöser Genugtuung.

»Wundersam sind die Fügungen des Herrn,« murmelte Crammon, und seine Augen wurden ein wenig blöde, »Großvater von Zwillingen . . . Das ist ein starkes Stück. Aber weiter, Gräfin. Die Sache sieht ja allerdings nicht humoristisch aus. Warum hat sie denn ihren Gatten verlassen? Und warum sind Sie nicht bei ihr geblieben?«

»Sie werden alles hören. Der Mensch hat sie mißhandelt, hat sich tätlich an ihr vergriffen. Sie ist unter eine Bande von Säufern, Räubern, Giftmischern, Pferdedieben, Fälschern und Ehrabschneidern geraten. Man hat ihr das Haus zum Kerker gemacht; man hat sie Hunger leiden lassen; man hat sie an Leib und Seele gequält und grausam bedroht; sie war ihres Lebens nicht sicher; wilde Tiere hat man abgerichtet, um sie zu schrecken; entsprungene Sträflinge wurden gedungen, die ihr auflauerten; Angst und Entsetzen brachten sie an den Rand des Grabes. Es war die Hölle. Ohne die Dazwischenkunft und edelmütige Hilfe eines deutschen Kapitäns, der ihr sein Schiff zur Heimreise anbot, wäre sie elend zugrunde gegangen. Leider hatte ich nicht Gelegenheit, dem selbstlosen Retter zu danken; er war, als ich nach Genua kam, bereits abgereist. Aber Lätizia hat mir seine Adresse gegeben, und ich werde ihm schreiben.«

»Sehr bedauerlich, das alles, und ich hatte auch nie etwas andres erwartet,« sagte Crammon. »Ich hatte es geahnt, und ich hatte es prophezeit. Dieser Stephan Gunderam war mir von Anfang an odios wie ein Schaubudenbesitzer mit einer Blechtrompete. Ich hätte dem Individuum nicht einmal meinen alten Regenschirm anvertraut, wieviel weniger dieses junge Mädchen, dem alle Welt so köstliche Eigenschaften nachrühmt. Trotzdem mißbillige ich ihre Flucht. Waren die Verhältnisse bezeugtermaßen unerträglich, so hätte sie den rechtlichen und gesetzlichen Weg einschlagen müssen. Die Ehe ist ein Sakrament. Erst hineinspringen, als wär's der garantierte siebente Himmel, und kaum, daß man die Unannehmlichkeit, die doch für einen Menschen mit der minimalsten Grütze am Tage lag, zu schmecken bekommen hat, davonlaufen und mit zwei unterstands- und sprachlosen Erdenbürgern übers große Wasser wieder nach Hause dampfen, das ist weder folgerichtig noch nutzbringend. Dem kann ich keinen Beifall zollen.«

Entrüstet erwiderte die Gräfin: »Also nach Ihrer Meinung hätte das Kind sich lieber sollen zu Tode foltern lassen?«

»Pardon, ich habe nur gesagt, was ich an ihrer Handlungsweise für falsch halte. Was sie hätte tun müssen, darüber steht mir kein Urteil zu. Den von der Kirche gesegneten Bund zu brechen und herd- und landflüchtig zu werden, halte ich für falsch. Es ist gottlos und führt zum Verderben. Und als Sie nun bei ihr waren, was geschah dann? Wozu hat sie sich entschlossen? Wo befindet sie sich jetzt?«

»In Paris.«

»In Paris? Ei! Zu welchem Ende denn?«

»Sie will sich erholen. Ich gönn es ihr. Sie braucht es.«

»Ich zweifle nicht, Gräfin, aber der Übergang scheint mir ein wenig unvermittelt. Und hat sie Ihre Gesellschaft geradezu verschmäht, oder haben Sie persönlich keine Vorliebe für Erholungsreisen nach Paris?«

Die Gräfin wurde verlegen. Sie runzelte die Brauen; ihre hochroten Bäckchen glänzten heiß. »Sie hatte im Hotel die Bekanntschaft eines Vicomte Seignan-Castreul gemacht,« erzählte sie stockend; »er war mit seiner Schwester dort. Sie luden Lätizia ein, sie solle mit ihnen nach Paris und dann auf ihr Schloß in der Bretagne kommen. Das Kind, in Tränen aufgelöst, sagte zu mir: Tante, ich möchte so gern, und ich kann doch nicht, ich habe ja keinen Pfennig Geld. Das zerriß mir das Herz, und ich raffte zusammen, was möglich war: fünftausend Franken im ganzen. Das liebe Geschöpf dankte mir innig und reiste mit dem Vicomte und der Vicomtesse ab, nachdem sie mir versprochen hatte, daß wir uns im Oktober in Baden-Baden treffen würden.«

»Und die Zwillinge, wo sind die unterdessen?«

»Die hat sie natürlich mitgenommen. Die Zwillinge, die argentinische Amme, eine englische Nurse und eine Zofe.«

»Ihre Generosität hoch in Ehren, Gräfin, aber der Vicomte samt der Vicomtesse gefällt mir nicht.«

Die Gräfin schluchzte plötzlich laut. »Mir auch nicht,« rief sie, das Gesicht in die Hände drückend, »mir ja auch nicht. Wenn nur da nicht wieder neues Unglück für das Kind daraus entspringt. Aber was sollt ich tun? Kann man ihr denn widerstehen? Ich war ja so froh, sie wieder zu haben; ich hatte das Gefühl, als wäre sie mir auferstanden. Nein, der Vicomte war mir nicht im mindesten sympathisch. Ein dämonischer Charakter.«

»Dämonische Charaktere sind immer Schwindler, Gräfin,« sagte Crammon trocken. »Ein anständiger Mensch ist nie dämonisch. Es ist überhaupt ein Schwindelwort.«

»Herr von Crammon,« erwiderte die Gräfin entschlossen, »von Ihnen erwarte ich aber jetzt, daß Sie sich als ein Charakter benehmen, ein Charakter im schönen Sinn des Wortes. Kommen Sie nach Baden-Baden, wenn Lätizia da ist. Kümmern Sie sich um die, die Ihnen die Nächste im Leben ist. Machen Sie Ihr Unrecht und Ihr Versäumnis wieder gut . . .«

»Um aller Heiligen willen, das nicht,« wehrte sich Crammon voll Schrecken; »Erkennungsszene, Rührung, Einander-in-die-Arme-Stürzen, Zerknirschung, Taschentuch; nur das nicht! Alles, was Sie wollen, nur das nicht.«

»Keine Ausreden, Herr von Crammon, es ist Ihre Pflicht!« Die Gräfin hatte sich erhoben und blickte majestätisch. Es half Crammon nichts, daß er sich wand und drehte, daß er bat und beschwor, die Gräfin entließ ihn erst, als er sein Ehrenwort gegeben hatte, daß er Ende Oktober, spätestens Anfang November in Baden-Baden sein werde.

Als die Gräfin allein war, schritt sie noch eine Weile pustend und erhitzt auf und ab, dann rief sie ihre Gesellschafterin. »Schicken Sie mir den Kellner, Stöhr,« ächzte sie, »mir ist schwach vor Hunger.«

Das Fräulein vollzog den Befehl.

2

Als Frau Richberta Wahnschaffe, während einer ihrer seltenen Ausfahrten, eines Tages im Elektromobil gegen Schwanheim fuhr, bemerkte sie am Eingang zum Poloplatz eine Gruppe von jungen Leuten; unter diesen war einer, der sie so lebhaft an Christian erinnerte, ein Schlanker, edel sich Bewegender, ihr ein so täuschendes Gefühl von Christians Nähe gab, daß sie dem Lenker zu halten gebot und mit matter Stimme ihre Begleitdame ersuchte, sie möchte hinübergehen und sich erkundigen, wer der junge Mensch sei.

Die Dame gehorchte; Frau Richberta, der Gruppe zugewandt, harrte regungslos. Man erteilte der Botin bereitwillig Auskunft; sie kam zurück und meldete: »Der Herr ist ein Engländer, Frau Geheimrat; er heißt Anthony Potter.«

»So; ach so,« sagte Frau Wahnschaffe; weiter nichts. Und ihr Interesse war geschwunden.

Am gleichen Abend wurde ihr ein Brief überreicht, der mit der Eilpost angelangt war. Sie erkannte Christians Handschrift. Vor ihren Augen tanzte alles durcheinander. Das erste, was sie lesen konnte, war der Name eines kleinen Frankfurter Hotels vom dritten Rang. Nach und nach festigte sich ihr Blick, und sie las: »Liebe Mutter, ich bitte dich, mir morgen im Lauf des Vormittags eine Unterredung zu gewähren. Heute ist es zu spät, als daß ich noch kommen könnte; ich bin den ganzen Tag gereist und daher zu müde. Wenn ich nichts weiter höre, bin ich um zehn Uhr draußen. Daß wir allein sein werden, hoffe ich zuversichtlich.«

Der einzige Gedanke der Frau war: Endlich. Sie sagte es laut vor sich hin: »Endlich«.

Sie schaute auf die Uhr: es war zehn. Noch zwölf Stunden! Wie sollte sie diese zwölf Stunden hinbringen? Das ganze vergangene Leben schien ihr kürzer zu sein als diese vor ihr liegenden zwölf Stunden.

Sie ging hinunter; ging durch die leeren Säle, in denen es dunkel war, durch die Marmorhalle mit den Wandsäulen, den riesigen Speisesaal mit den Spiegeln, in denen der Rest des Sommerabends verglomm; sie ging in den Park und hörte eine Nachtigall schlagen. Sterne blitzten auf, ein Brunnen rauschte, von weither tönte Musik. Zurückgekehrt, fand sie, daß erst fünfzig Minuten verflossen waren. Ein Ausdruck von Wut entstellte ihr kaltes und starres Gesicht. Sie erwog, ob sie nicht in die Stadt fahren solle, in das kleine Hotel dritten Ranges; sie verwarf den Plan wieder: er schlief ja, er war von der Reise ermüdet. Aber warum ist er dort? fragte sie sich, in dem geringen Hause, unter fremden und geringen Leuten?

Sie setzte sich in einen Lehnstuhl, und was nun in ihr vorging, war ein erbitterter Zweikampf mit der trägen Zeit, von jetzt bis Mitternacht, von Mitternacht bis zum ersten Grauen des Tages, vom ersten Grauen bis zum Frührot, vom Frührot zum erwachten Morgen, vom Morgen bis zur zehnten Stunde.

3

Wo Johanna Schöntag den Fuß hinsetzte, wurde ihr Liebe entgegengebracht. Auch die Verwandten, bei denen sie wohnte, behandelten sie mit zärtlicher Achtung. Sie gewann dadurch nicht in ihren eignen Augen, sie verlor. Ihre rabulistische Erwägung war: wenn ich diesen gefalle, was kann dann viel an mir sein?

Sie sagte: »Es gibt nichts Witzigeres als die Tatsache, daß ich in dieser Stadt lebe, in der alle Menschen so mutig ›Ich‹ sagen. Ich bin ja das direkte Gegenteil von Ich.«

Nichts war wert, getan zu werden, nicht einmal, was im Innersten täglich drängte: den Weg zu Christian zu suchen. Sie wartete auf den Zwang; der wollte nicht kommen. Sie verspielte sich. Da saß sie still in einer Ecke und ließ ihre klugen Augen über Gegenstände und Gesichter schweifen; und sie dachte: hätte der mit dem Vollbart die Nase von dem mit der Glatze, so sähe er vielleicht wie ein Mensch aus. Oder: warum sind sechs Rosetten an der Leiste über dem Türstock, warum nicht fünf, warum nicht sieben? Damit quälte sie sich; die falsch plazierte Nase und die Rosettenzahl wurden Weltverbesserungsprobleme; auf einmal lachte sie dann und errötete, wenn sich Blicke auf sie richteten.

Jede Nacht, bevor sie entschlummerte, fiel ihr Amadeus Voß ein und daß sie versprochen hatte, ihm zu schreiben. Morgen, dachte sie und ergriff die Flucht in den Schlaf. Sein Brief lastete in ihrem Gedächtnis als das Peinvollste, was ihr je geschehen. Bisweilen tauchten Worte daraus auf, die sie unruhig machten: z. B. das von der Sehnsucht des Schattens nach seinem Körper, für sie ein rätselhaftes und lockendes Wort. Alle Stimmen von außen warnten. Die Warnung erhöhte den Reiz. Man genoß die Furcht, indem man sie wachsen ließ. Eine lebhafte Verwirrung im ganzen, Ding im Spiegel von Spiegeln her. Endlich schrieb sie doch; der Pfeil schnellte von der Sehne.

Sie trafen sich am Kurfürstenplatz und gingen durch die Kastanienallee gegen Charlottenburg. Um die Zeit zu begrenzen, sagte Johanna, sie müsse in einer Stunde wieder zu Hause sein. Aber der Weg, den sie nahmen, raubte ihr die Hoffnung auf ein knapp befristetes Zusammensein; sie ergab sich. Um ihre Benommenheit zu verhehlen, glossierte sie Bäume, Häuser, Denkmäler, Tiere und Menschen; Voß bewahrte trockenen Ernst. Da wandte sie sich ungeduldig zu ihm: »Nun, Herr Hofmeister, wollen Sie sich nicht ein wenig mit dem artigen kleinen Schüler unterhalten, den Sie spazieren führen?«

Aber Voß hatte kein Verständnis für den bangen Humor in dieser Zurechtweisung. Er sagte: »Sie haben leichtes Spiel mit mir; Sie brauchen bloß zu spotten, und ich komme schon zu Fall. An so viel Schlüpfrigkeit muß ich mich erst gewöhnen. Es ist ein schlechtes Fluidum zwischen uns. Sie sehen mich immer so prüfend an, als hätte ich ein Loch im Ärmel oder einen Schmutzfleck auf dem Kragen. Ich hatte mir vorgenommen, mit Ihnen wie mit einem Kameraden zu reden. Es geht nicht. Sie sind eine junge Dame, und das ist etwas, wofür ich rettungslos verloren hin.«

Johanna antwortete sarkastisch, es beruhige sie immerhin, daß wenigstens ihre Person und Gegenwart ihm Rücksichten auferlegten, deren sie sich vorher nicht von ihm zu erfreuen gehabt. Voß stutzte und erriet, was sie im Sinn hatte, erst aus ihrer verächtlichen Miene. Er senkte den Kopf, schritt eine Weile schweigend, dann sammelte sich Erbitterung in seinem Gesicht. Johanna, geradeaus sehend, spürte die Gefahr; sie hätte sie von sich abwenden können; eine liebenswürdige Phrase, und er hätte sich nicht vorgewagt, das wußte sie. Aber sie verschmähte es, sie wollte ihm trotzen und sagte frech, sie sei durchaus nicht gekränkt darüber, daß sie ihn enttäusche, sie hätte in der Beziehung keine Ambition. Voß nahm auch dieses hin, duckte sich noch tiefer zum Angriff; da fragte Johanna in harmlosem Ton, ob er noch Christian Wahnschaffes Wohnung innehabe und, auch jetzt noch, Verwalter aller Briefangelegenheiten seines Freundes sei?

Nein, erwiderte Voß auffallend sachlich, er sei von dort ausgezogen, seine Mittel erlaubten ihm derartigen Aufwand nicht mehr; da ihm das mokante Lippenverziehen Johannas bewies, daß ihr die Verhältnisse nicht unbekannt waren, fügte er gelassen hinzu, er wolle lieber sagen, die Wahnschaffesche Geldquelle sei versiegt. Er hause in einer Studentenbude in der Ansbacher Straße und habe sich somit wieder in der Armut eingerichtet. So arm freilich finde er sich noch nicht, daß er sich das Vergnügen verweigern müsse, einen Gast zu empfangen. Ob er sie einladen dürfe, den Tee bei ihm zu nehmen. Weshalb sie darüber lache? Natürlich, er habe vergessen: junge Dame. Ob er sie dann wenigstens in einer Konditorei bewirten dürfe?

Alles das erregte Johannas Spott und Ungeduld.

Es war Sonntag, trübes Wetter; der Abend dunkelte bereits. Aus den Pavillons in Wirtsgärten rauschte Musik. Viele Soldaten begegneten ihnen, jeder mit seinem Mädchen. Johanna spannte den Schirm auf und ging müde. »Es regnet ja nicht,« sagte Voß. Sie antwortete: »Ich tu es bloß, damit ich nicht an den Regen zu denken brauche.« Der eigentliche Grund war, daß sie ihn vermittels des aufgespannten Schirmes ein bißchen weiter von sich weghalten konnte. »Wann treffen Sie Christian?« fragte sie plötzlich mit hoher Stimme, nach rechts hinüber, wo niemand war, »sehen Sie ihn oft?« Gleich bereute sie die Frage, mit der sie sich in den Augen des Lauernden eine Blöße gegeben zu haben glaubte.

Aber Voß hatte gar nicht gehört. »Sie tragen mir noch immer die Geschichte mit dem Brief nach,« fing er an; »können es nicht verzeihen, daß ich mich in Ihr Geheimnis eingeschlichen habe. Was ich Ihnen zum Ausgleich gegeben, das ahnen Sie nicht. Daß ich mein Innerstes vor Ihnen aufgerissen habe, daran verschwenden Sie keinen Gedanken. Es ist Ihnen wohl kaum klar geworden, daß alles, was ich Ihnen über Christian Wahnschaffe schrieb, Konfessionen über mich waren, wie sie selten ein Mensch dem andern macht. Auf Umwegen allerdings, aber was wissen Sie vom Umweg. Ich habe wahrscheinlich Ihre Fassungskraft und Ihren guten Willen überschätzt.«

»Wahrscheinlich,« gab Johanna zurück; »aber auch meine Gutmütigkeit; denn Sie sind wieder einmal hervorragend grob. Sie hätten ja recht mit dem, was Sie sagen, wenn Sie nicht eines außer acht ließen, nämlich, daß eine Basis von Sympathie da sein muß, wenn solche Forderungen erfüllt werden sollen.«

»Sympathie!« höhnte Voß; »damit locken Sie keinen Hund vom Ofen. Was Sie so heißen, ist bürgerliches Spülwasser. Lau, flau, grau. Zur echten wieder gehört so viel Aufmerksamkeit des Herzens, daß der, der sie empfindet, ihren Namen verschweigt, weil er zu gemein geworden ist. Ich habe ja nicht auf Sympathie gerechnet. Eine solche Distanz wie die von mir zu Ihnen läßt sich nicht durch ein Allerweltsbindemittel beseitigen. Ihre Kälte, Ihre Fremdheit, Ihre Ironie, glauben Sie, ich hätte nichts davon gewittert? Glauben Sie, ich bin der Dickhäuter, der unbekümmert in eine Rosenhecke hineinsteigt, weil er im voraus weiß, daß ihm die Stacheln nichts anhaben können? O nein, Fräulein. Jeder einzelne Dorn ritzt meine Haut. Ich sage Ihnen das nur, damit Sie künftig wissen, was Sie tun. Jeder einzelne Dorn ritzt schmerzhaft die Haut. Es war mir von Anfang an klar, und ich habe es doch auf mich genommen. Ich habe mich eingesetzt mit allem, so wie ich hier bin und stehe, habe mich zusammengerafft von oben bis unten und mich hingeworfen vor Sie, ohne zu überlegen, was daraus entstehen würde. Ich wollte mich einmal dem Fatum ganz und gar in die Hände geben.«

»Ich muß umkehren,« sagte Johanna und klappte ihren Schirm zu, »ich muß einen Wagen nehmen. Wo sind wir denn?«

»Ansbacher Straße, Ecke Augsburger Straße. Im dritten Hause dort, dritten Stock, wohne ich. Kommen Sie für eine Stunde zu mir. Lassen Sie es ein Zeichen sein, daß ich ein gleichgestellter Mensch in Ihren Augen bin. Sie können sich nicht vorstellen, was für mich davon abhängt. Es ist ein greulich ödes Loch, aber wenn Sie die Schwelle überschreiten, wird es für mich fortan ein Raum sein, in dem man atmen kann. Zu betteln ist meine Art sonst nicht; diesmal bettle ich. Der Argwohn, den Sie hegen, ist begründet: ja, ich habe es planmäßig betrieben, Sie so weit zu bringen; es war meine geheime Absicht, aber nicht erst seit heute, sondern seit Wochen, ich weiß gar nicht mehr, seit wie lange. Jedes andere Mißtrauen weise ich zurück.«

Er stammelte die Worte und zerhackte sie. Johanna sah hilflos zu Boden. Sie war zu schwach, der leidenschaftlichen Beredsamkeit des Menschen zu widerstehen, so abstoßend und beängstigend diese auch auf sie wirkte. Zudem lag eine gruselige Verlockung darin, sich vorzuwagen, ins Feuer zu langen, den Brand zu schüren, sich in Gefahr zu stürzen und zuzusehen, was geschah. Das Leben war so leer; man mußte etwas zu naschen, etwas zu erwarten, etwas zu fürchten haben. Näher an die Abgründe heran, die bittern Dünste schmecken, nur über die letzten Schranken nicht hinaus. Einstweilen Zeit zu gewinnen, war geboten. »Nicht heute,« sagte sie mit verschleiertem Ausdruck, »ein andermal. Nächste Woche. Nein, drängen Sie mich nicht. Vielleicht Ende dieser Woche. Vielleicht Freitag. Wozu es soll, ist mir zwar unklar, aber es mag sein, Freitag will ich kommen.«

»Abgemacht also; Freitag um die gleiche Stunde.« Er forderte ihre Hand; sie reichte sie zaghaft, fühlte sie voll Widerwillen umschlossen. Ihr Blick aber war fest, beinahe herausfordernd.

4

Als Christian eintrat, stand Frau Richberta säulenhaft in der Mitte des Zimmers. Ihre Arme waren unterhalb der Brust leicht verschränkt. Es ging eine Welle von Blässe über sie, die sie spürte wie etwas Nasses. Christian näherte sich ihr, sie wandte das Gesicht und schaute aus den Augenwinkeln zu ihm, versuchte zu sprechen, doch kamen ihre Lippen bloß zu nervösem Zucken. Christian verlor die Unbefangenheit, die aus seinem Nichtdenken stammte; was ihn hergeführt, erschien ihm auf einmal ungeheuerlich. Stumm blieb er stehen.

»Wirst du längere Zeit hier bleiben?« fragte Frau Richberta mit einer rauhen Kehlstimme; »ich denke doch. Ich habe dein Zimmer richten lassen. Du findest alles in bester Ordnung vor. Daß du die Nacht in einem Hotel verbracht hast, war eine übertriebene Rücksicht von dir. Kennst du deine Mutter nicht gut genug, um zu wissen, daß das Haus immer bereit ist, dich zu empfangen?«

»Es tut mir leid, Mutter,« antwortete Christian, »aber mein Aufenthalt ist nur nach Stunden bemessen. Ich kann und darf nicht bleiben. Ich muß mit dem Fünfuhrzug wieder nach Berlin zurück. Es tut mir leid.«

Jetzt drehte Frau Wahnschaffe das Gesicht Christian zu, mit solcher Langsamkeit, daß die Bewegung marionettenhaft wirkte. »Es tut dir leid; sieh da,« murmelte sie, »ich hätte kaum so viel erwartet. Aber alles ist gerichtet, Christian; dein Bett, die Schränke, alles ist instand. Du warst ja lange nicht da. Ich habe dich lange nicht gesehen. Laß mich nachdenken: anderthalb Jahre wenigstens. Pastor Werner hat mir von dir erzählt. Ich goutierte es nicht. Er war zwei, dreimal bei mir; ich konnte seine Berichte immer nur in kleinen Dosen anhören. Ich glaubte, der Mann habe Halluzinationen gehabt. Dabei drückte er sich immer sehr vorsichtig aus. Ich sagte: Unsinn, Herr Pastor, so etwas tut man doch nicht. Du weißt ja, Christian, in gewissen Dingen bin ich begriffsstutzig. Nun, wie siehst du aus, mein Sohn . . .? Du bist verändert. Kleidest du dich jetzt anders, sag mal? Warum kleidest du dich denn anders als früher? Sonderbar. Verkehrst du denn nicht mehr in guter Gesellschaft? Und was da der Pastor gefabelt hat von freiwilliger Armut, von Entbehrungen, die du auf dich nehmen willst, von . . . mein Gott, ich weiß nicht mehr wovon noch, sag mal, hat das wirklich einen ernsten Hintergrund? Ich verstehe es nämlich nicht.«

Christian sagte: »Möchtest du dich nicht ein wenig zu mir setzen, Mutter? Du stehst so da, man kann dabei nicht ordentlich sprechen.«

»Gut, Christian, setzen wir uns und sprich. Es ist nett von dir, daß du es so sagst.«

Sie nahmen auf dem Sofa nebeneinander Platz, und Christian fuhr fort: »Ich bin zweifellos in deiner Schuld, Mutter. Ich hätte nicht warten sollen, bis du durch Fremde erfährst, was ich beschlossen und getan habe. Ich sehe jetzt, daß das unsre Verständigung erschwert. Es ist so unangenehm und umständlich, über sich selbst zu reden; doch muß es vielleicht sein, denn was die andern Leute erzählen, ist meistens grundfalsch. Ich dachte manchmal daran, dir zu schreiben; es ging nicht; schon im Gedanken an das Schreiben wurde jedes Wort schief und unwahr. Ganz ohne Anlaß herzukommen und Erklärungen zu geben, fühlte ich kein Bedürfnis. Es schien mir, es müßte so viel Vertrauen vorrätig sein, daß ich mich und meine Handlungsweise nicht ausführlich zu rechtfertigen brauchte. Besser, dachte ich nur, ist Bruch und Loslösung, weil nicht gesprochen wurde, als unzeitiges Beschwatzen und dann doch Bruch und Loslösung, weil man nicht verstanden worden und zu viel Überflüssiges gesagt worden ist.«

»Du sprichst von Bruch und Loslösung,« erwiderte Frau Wahnschaffe starrblickend, »sprichst so, als drohte sie erst; seelenruhig, als wärs eine Strafe für Kinder und du längst damit im klaren. Gut, Christian, gut, Bruch und Loslösung möge sein, du wirst mich zu stolz finden, deinen Sinn und Entschluß zu beeinflussen; ich bin die Mutter nicht, die von ihrem Sohn Anhänglichkeit als Almosen nimmt, die Frau nicht, die in deine Welt greifen will, und der Mensch nicht, der um ein verweigertes Recht prozessiert. Was mir zusammenbricht, braucht dich nicht aufzuhalten, aber gib mir wenigstens ein Wort, an das ich mich klammern kann im Alleinsein und beständigen Grübeln und Fragen. Die Luft antwortet nicht, das eigne Hirn nicht, die Menschen nicht; erkläre du also, was du eigentlich tust und warum du es tust. Du bist nun da, endlich da, ich kann dich sehen und kann dich hören, erkläre also.«

Die eintönig und hohl hingesprochene Rede berührte Christian stark, minder durch das Ausgedrückte als durch Haltung und Gebärde der Mutter, den strengen, verlorenen Blick, durch das, was an Gram zu spüren war und an Kälte vorgetäuscht wurde. Das traf ihn und riß Verschlossenes auf. Er sagte: »Mutter, es ist nicht leicht, das Leben zu erklären, das man lebt, und die Ereignisse, die ihre Notwendigkeit von unbestimmter Zeit her in sich tragen. Wenn ich die ganze Vergangenheit durchsuche, kann ich doch nicht sagen, wo es begonnen hat, wann und womit. Wen das Licht blendet, der will an einen Ort, wo es dunkel ist; wer übersättigt ist, dem ekelt vor der Speise; wer sich nie an eine Sache hingegeben hat, der fühlt sich beschämt und möchte sich bewähren. Aber das erklärt das Wesentliche nicht. Sieh mal, Mutter: die Welt, wie ich sie nach und nach kennengelernt habe, ich meine die von Menschen stammenden Einrichtungen, darin liegt ein großes, dem gewöhnlichen Gedankengang unfaßbares Unrecht. Worin eigentlich dieses Unrecht besteht, kann ich nicht formulieren. Kein Mensch kann es einem sagen, nicht der glückliche, nicht der elende, nicht der gelehrte, nicht der simple. Es ist einfach da, und man begegnet ihm auf Schritt und Tritt. Es hilft nichts, darüber nachzudenken; man muß, wie ein Schwimmer, der seine Kleider von sich wirft, ins Element hinein und muß hinuntertauchen bis auf den untersten Grund, um zu erforschen, wo die Wurzel und der Ursprung ist. Danach kann einen eine Sehnsucht ergreifen, die alle andern Interessen und Bestrebungen verdrängt und einen nicht mehr los läßt. Es ist ein Gefühl, das ich dir nicht schildern kann, Mutter, auch nicht, wenn ich von jetzt bis in die Nacht zu dir reden würde. Es geht durch und durch, durch den ganzen Menschen, durch die ganze Existenz, und will man sich ihm entziehen, so wird es nur um so heftiger.«

Er erhob sich unter dem Druck einer neuartigen Erregung, die sich seiner bemächtigte, und fuhr etwas raschersprechend fort: »Nicht im Unterschied von arm und reich besteht das Unrecht. Nicht in der Willkür hier, im Erleiden dort. Nicht in dem. Sieh mal, wir alle sind in der Anschauung aufgewachsen, daß das Verbrechen seine Sühne findet, daß auf Schuld Strafe folgt, daß jede Tat ihren Lohn bereits in sich trägt, mit einem Wort, daß eine Gerechtigkeit vorhanden ist, die, wenn nicht vor unsern Augen, so doch über unsern Köpfen alles ausgleicht, ordnet und vergilt. Das aber ist nicht wahr. Ich glaube nicht an Gerechtigkeit. Es gibt keine Gerechtigkeit. Es ist nicht möglich, daß es eine gibt, sonst wäre das Leben, das die Menschen führen, nicht so wie es ist. Und wenn es nun keine Gerechtigkeit gibt, von der die Menschen gewohnt sind zu sprechen und auf die sie sich verlassen, wenn unter ihnen ein Unrecht geschieht, so muß im Leben der Menschen selbst die Quelle des Unrechts verborgen sein, und man muß ausfindig machen können, wo sie steckt. Man kann es aber nicht ausfindig machen von außen; man muß innen sein, innen und drunten. Siehst du, das ist es. Jetzt begreifst du vielleicht.«

Ein unermeßliches Erstaunen malte sich in den Zügen der Frau. Sie hatte dergleichen nie vernommen, noch war sie darauf gefaßt gewesen, es je zu vernehmen, am wenigsten von ihm, dem Schönen, Festtäglichen, aller Niedrigkeit Entrückten, als der er noch immer durch ihre abgekehrten Vorstellungen wandelte. Sie wollte antworten, ja glaubte schon zu antworten: Deines Amtes ist so etwas zuletzt, denn dafür bist du nicht geboren und kannst du nicht sein. Schon hatten die verzweifelten Worte ihr Gesicht mit Verzweiflung überdüstert, da sah sie ihn an und sah, daß er wohl entrückt war, aber nicht der Sphäre, die sie haßte, mied und für ihn fürchtete, sondern ihr, ihr selbst, ihrer Welt, seiner Welt, sich selbst. Sie sah einen fast Unbekannten in einem geistergleichen Schimmer; Ahnung umzuckte ihre gefrorene Seele; die Sehnsucht, von der er gesprochen, obschon ihr sogar im Worte fremd, war in der Ahnung drinnen; Angst vor völliger Einbuße seiner Liebe ließ Jahre hinter ihr als versäumte Jahre erscheinen; scheu sagte sie: »Du hast angedeutet, ein besonderer Anlaß habe dich hergeführt; was ist es denn?«

Christian setzte sich wieder. »Es ist etwas sehr Heikles,« entgegnete er. »Ich habe die Reise angetreten, ohne mir Rechenschaft zu geben, wie heikel es ist. Erst jetzt wird es mir bewußt. Deine Perlenschnur ist die Ursache, weshalb ich komme. Das Weib, das ich zu mir genommen habe, Karen Engelschall, du weißt ja von ihr, wünscht sich deine Perlenschnur, Mutter. Und ich, ich habe versprochen, sie ihr zu bringen. Eines ist so seltsam wie das andre. Wenn man es so rundweg sagt, klingt es wie Sinnesverwirrung.« Er lächelte; er lachte; doch sein Gesicht war bleich geworden.

Frau Wahnschaffe sprach nur seinen Namen aus: »Christian.« Sonst nichts; leise, gedehnt, tonlos, mit lang hingezischtem S.

Christian fuhr fort: »Ich sagte, ich hätte sie zu mir genommen . . . das ist aber nicht die richtige Bezeichnung. Es war ja geradezu ein kritischer Moment für mich, als ich sie fand. Viele haben sich gewundert, daß ich ihr nicht eine angenehme, luxuriöse Existenz geschaffen habe, als es noch in meiner Macht stand. Aber damit hätte ich nichts erreicht. Ich hätte den Zweck ganz und gar verfehlt. Und sie selbst war ja weit entfernt davon, es zu verlangen. Wären ihre Angehörigen nicht, die sie beständig hetzen und aufstacheln, so würde sie sich ganz zufrieden fühlen. Man schwatzt ihr zu viel vor. Natürlich versteht sie nicht, was ich will; oft betrachtet sie mich wie einen Feind; soll man darüber erstaunen, nach einem solchen Leben? Mutter, du kannst mir getrost glauben, wenn ich dir versichere, ein solches Leben kann durch alle Perlen der Welt nicht vergessen gemacht werden.«

Er sprach unzusammenhängend und äußerst nervös; die Finger spielten umeinander, die Stirne faltete, entfaltete sich, das Gesagte und zu Sagende peinigte ihn, der eben erst gewonnene Eindruck in das Ungeheuerliche seines Begehrens, die eben erst emporgetauchte Möglichkeit, daß er damit abgewiesen werden könne, jagte ihm das Blut zum Herzen. Da Frau Richberta laut und regungslos blieb und ein greisenhafter Verfall ihrer Züge im Lauf von wenigen Minuten vor sich ging, trieb ihn der Schrecken wieder zu Worten. »Eine Ausgestoßene, eine Verachtete, das ist sie freilich, oder war es vielmehr, aber darüber zu rechten, ist nicht erlaubt. Durch Zufall ist ihr dein Bild mit der Perlenkette in die Hand gekommen. Vielleicht war ihr, als stündest du in Person vor ihr, und da empfand sie, was Ausgestoßensein und Verachtetsein ist. Du und sie: das durfte vielleicht nicht sein. Und die Perlen an dir, die konnten in ihren Augen alles ausgleichen, das packte sie wie Wahnsinn. Übrigens will sie die Kette nicht behalten, und ich würde auch nicht zugeben, daß sie sie behält. Ich bürge dafür, insofern dir eine Bürgschaft ohne andere Unterlagen als mein Wort etwas gilt. Ich liefere dir die Perlen wieder ab, und du magst selbst die Frist bestimmen, nach der es zu geschehen hat. Nur darfst du mich in dieser Verlegenheit nicht im Stich lassen.«

»Du törichter Sohn,« sagte Frau Wahnschaffe tiefaufatmend.

Christian schaute zu Boden.

»Du törichter Sohn,« sagte Frau Richberta abermals, und ihre Lippen bebten.

»Warum sagst du das?« flüsterte Christian betroffen.

Frau Richberta erhob sich und winkte ihm mit matter Geste; er folgte ihr in das Schlafgemach. Sie nahm aus einer Schatulle einen Schlüssel und öffnete damit die wuchtige Stahltür des in die Mauer gebauten Tresors. Er enthielt ihren Juwelenschatz: Diademe, Agraffen, Armbänder, Broschen, Spangen, Ringe, Nadeln und Edelsteingehänge. Sie griff nach der Perlenkette, und als sie sie in der Hand hielt, schleifte das untere Ende der Schnur den Boden. Die Perlen waren von beinahe vollkommener Gleichmäßigkeit und seltener Größe. Frau Richberta sagte: »Diese Perlen, Christian, sind für mich mehr gewesen, als gewöhnlich Schmuck für eine Frau ist. Dein Vater hat sie mir nach deiner Geburt geschenkt. Ich trug sie stets im Gefühl eines Dankes, der sich um dich bewegte. Ich schäme mich nicht, es zu gestehen. Innerhalb des Ringes, auf den sie gereiht sind, standen nur wir beide, du und ich. Seitdem du so wunderliche Wege gingst, habe ich sie nicht mehr berührt und angeschaut; ich glaube, sie sind krank geworden; sie sind so gelb, und einige haben keinen Glanz. Dachtest du im Ernst, ich könnte dir etwas verweigern, worum du bittest, sei es, was es sei? Es ist wahr, deine Wege sind allzu wunderlich für mich. Das Hirn verschwimmt mir zu Nebel, wenn ichs fassen will; ich bin wie blind und lahm. Heute hat eine Stimme für dich gesprochen; ich will sie nicht verlieren; sonst klagten sie nur. In mir schaudert alles, doch fang ich wieder an, dich zu sehen. Wenn du bittest, muß ich geben, und du mußt es wissen und weißt es auch; wüßtest dus nicht, wärst du nicht gekommen. So nimm.« Sie wandte sich ab, und während sich ihr Gesicht krampfhaft zusammenzog, reichte sie ihm mit ausgestrecktem Arm die Perlenkette. »Dein Vater darf es nie erfahren,« murmelte sie. »Wenn du die Perlen wiederbringen willst, dann bring sie womöglich selber; für wen sie bestimmt sind, will ich nicht denken, tu mit ihnen, als wären sie dein Eigentum.«

Eigentum; Christian lauschte dem Wort nach; es drang nicht in ihn ein, es fiel vor ihm nieder und versank wie ein Stein im Wasser. Es hatte seinen Sinn für ihn verloren. Auch schaute er die Perlen an, als ob sie Spielzeug seien; gleichgültig; verwundert, daß er sich deswegen so bemüht, so viel deswegen hatte reden müssen. Ihre Kostbarkeit, der Millionenwert, war ihm kein Bewußtsein mehr, sondern nur Erinnerung an Gehörtes. Darum empfand er den Besitz oder die Überlassung nicht als Bürde; die Art, wie er die Kette in eine Schachtel verpackte, die Frau Richberta hervorgesucht, hatte etwas zerstreut Geschäftsmäßiges und sein Dank eine Förmlichkeit, die das Vergessen aller Hindernisse bewies, die er am Anfang aufgetürmt gesehen.

Er blieb noch eine Stunde bei der Mutter, sprach aber nur wenig, und die Umgebung, die Zimmer mit ihrem Reichtum, die Luft des Hauses, die Stille, die Feierlichkeit, die Trägheit, die Leerheit und Entlegenheit, all das schien ihn zu beunruhigen. Frau Richberta merkte es nicht; sie redete, schwieg, redete, schwieg, und in ihren Augen irrte die Angst vor der vergehenden Zeit; als Christian aufstand, um sich zu verabschieden, wurde ihr Gesicht fahl, nur mit höchster Anstrengung beherrschte sie sich; dann aber, allein, griff sie nach einem Halt, umklammerte eine der geschnitzten Säulen an ihrem Bett, tat einen Schrei – und plötzlich lächelte sie.

Es konnte ein Wahn sein, der das Lächeln erzeugte, es konnte eine mit Blitzgewalt aufgeflammte Erkenntnis sein.

5

Nach seiner Rückkehr aus Afrika war Felix Imhof ein nahezu ruinierter Mann. Mißglückte Minenspekulationen hatten den größten Teil seines Vermögens verschlungen. Doch seiner Haltung tat dies keine Einbuße.

Steter Aufenthalt in Luft und Sonne hatte ihm die Haut schwärzlich gebräunt. Seine Freunde aus der Boheme nannten ihn den Abessinierfürsten. Er war noch hagerer geworden, seine Augen quollen noch gieriger aus den Höhlen, sein Lachen und Reden war noch lärmender, sein Lebenstempo noch überstürzter. Fragte man ihn nach seinem Befinden, so antwortete er: »Für zwei Jahre habe ich noch Puste, dann heißts: Zieh Kitt, Junge.«

Er hatte eine Wohnung in München und eine in Berlin, aber seine verwickelten und zahlreichen Geschäfte führten ihn jede Woche in eine andre Stadt.

Politische Freunde beredeten ihn, sich an der Gründung einer großen linksliberalen Zeitung zu beteiligen. Er sagte zu. Das Schlagwort vom Theater der Massen tauchte auf; er setzte einen Ehrgeiz darein, unter denen genannt zu werden, die für die neue Heilsidee wirkten. In dem von ihm finanzierten Verlag veranstaltete er eine Ausgabe klassischer Dichter und Schriftsteller, die durch erlesene Wahl und geschmackvollen Prunk Epoche machte. Er erhielt täglich zwanzig bis dreißig Telegramme, verschickte fünfzig bis sechzig, beschäftigte drei Schreibmaschinendamen und litt darunter, daß man das Telephon entbehren mußte, während man im Auto oder im Schnellzug saß. Er entdeckte die Eignung eines verschollenen Quattrocentisten für den modernen Kunstmarkt und trieb mit Hilfe literarischer Reklame die Preise für die früher wenig beachteten Bilder zu schwindelhafter Höhe. Bei einer Emission amerikanischer Werte gewann er viermalhunderttausend Mark; gleich hernach verlor er doppelt so viel bei einem Einkauf rumänischen Holzes.

Im Dampfbad entwarf er die Skizze zu einem komischen Heldengedicht; nachts zwischen drei und fünf diktierte er abwechselnd die Übersetzung eines Romans von Lesage und einen nationalökonomischen Essay; er unterhielt einen schriftlichen Meinungsaustausch mit dem Haupt einer theosophischen Vereinigung, zechte wie ein Korpsstudent, gab Geld mit vollen Händen aus, unterstützte junge Talente, war beständig auf der Fährte nach neuen Erfindungen und machte förmlich Jagd auf Leute, die mit dergleichen umgingen, Ingenieure, Luftschiffer, Chemiker. Eines seiner kühnsten Projekte war die Fundierung einer Aktiengesellschaft, die die verborgenen Kohlenlager der Antarktis ausbeuten sollte. Den Zweiflern versicherte er, daß es sich dabei um Milliardengewinn handle und die Schwierigkeiten belanglos seien.

Eines Tages lernte er einen Techniker namens Schlehdorn kennen, ein nicht ganz vertrauenswürdiges Individuum, dessen Herabgekommenheit er gutmütig übersah. Wie beiläufig erwähnte der Mann des Übelstands, unter welchem die deutsche Schiffahrt leide, indem alle Gläser für die Fensterverschalungen aus Belgien und Frankreich bezogen werden müßten, da das Verfahren zu ihrer Herstellung streng bewahrtes Geheimnis einiger dortiger Fabriken sei. Wem es gelinge, es sich zu verschaffen, der sei für sein Leben geborgen. Imhof schnappte nach dem Köder. Er ließ sich von dem Mann über die Wege und Möglichkeiten unterrichten, vereinbarte eine Chiffernschrift für Depeschen mit ihm und gab reichlich Geld. Die Telegramme lauteten hoffnungsvoll; allerdings verlangte Schlehdorn immer größere Beträge; er erklärte es mit der Notwendigkeit, Personen von Einfluß bestechen zu müssen; doch Imhof enthielt sich des Argwohns; er wollte sehen, wohin das Unternehmen führte. Da bekam er ein Telegramm Schlehdorns, worin er aufgefordert wurde, sofort mit fünfzigtausend Franken nach Andenne zu kommen, das Geschäft sei so gut wie perfekt. Er steckte fünfzigtausend Franken und seinen Revolver zu sich und reiste. Schlehdorn erwartete ihn, es war spät abends, und geleitete ihn in ein verdächtig aussehendes Gasthaus. Das Zimmer lag am Ende eines langen Flurs, und als er es betrat, wußte Imhof, woran er war. Er hatte sich noch nicht recht darin umgesehen, als zwei elegant gekleidete Herren mit Aktentaschen erschienen. Man setzte sich um den runden Tisch; Schlehdorn legte Papiere vor sich hin und blickte einen seiner Komplizen bedeutend an, der gerade die Aktentasche öffnen wollte, als Imhof aufsprang, sich mit dem Rücken gegen die Wand stellte, seinen Revolver zog und kaltblütig sagte: »Meine Herren, geben Sie sich keine Mühe; der Kaufschilling erliegt bei meinem Brüsseler Bankier, das Manöver ist zu simpel, das Lokal zu verräterisch. Keine Hand rührt sich! Sonst können Sie sich morgen beim Schneider das Loch im Anzug flicken lassen.« Diese Entschlossenheit rettete ihn. Die drei Burschen sahen eingeschüchtert zu, wie er nach seinem Reisekoffer griff und sich entfernte. Natürlich suchten sie dann auch ihrerseits mit großer Schnelligkeit das Weite.

Dieses Erlebnis, das er scherzhaft einen Ausflug in die Kolportage nannte, übte eine lähmende Nachwirkung auf Imhof. Durch einen für seine inneren Spannungen geringfügigen Anlaß wurden Erscheinungen von Überdruß und Müdigkeit ausgelöst, die sich häuften und in der Folge bemerkbar wurden. Sein Zynismus steigerte sich zur Wildheit, um plötzlich ins Sentimentale umzubrechen. »Gebt mir ein Gärtchen, zwei Stübchen, einen Hund und eine Kuh, und ich pfeife auf die große Hure Babylon,« perorierte er verlogen. Eine heftige Krankheit warf ihn nieder; theatralisch traf er letzte Verfügungen, rief Freunde herbei zu letzten Gesprächen. Als er genesen war, gab er ein Fest, von dem drei Wochen lang ganz München sprach und das ihn sechstausend Mark kostete.

Bei diesem Fest lernte er Sybil Scharnitzer kennen und verliebte sich in sie. Es war wie eine Explosion. Er gebärdete sich wie ein Verrückter; er sagte, für dieses Frauenzimmer sei er zu jedem Verbrechen fähig. Man fragte Sybil, wie er ihr gefalle; lakonisch antwortete sie: »I don't like niggers.«

Das Wort wurde ihm hinterbracht, dreimal; von dreien, die es gehört. Der Stachel fuhr tief. In der Nacht stellte er sich vor den Spiegel, lachte bitter und zerschlug das Glas mit der Faust, die dann blutete.

Sybils Bild verfolgte ihn. Er ging überall hin, wo er sicher war, sie zu treffen. In des Mädchens Gegenwart wurde er zum Knaben, verlor die Sprache, errötete, erblaßte, machte sich zum Gespött der Zeugen. Eines Abends wagte er es, in scheuester Art von seinem Gefühl zu ihr zu reden. Sie sah ihn kalt an. Der Blick sagte: »I don't like niggers.« Hart, selbstisch, verbohrt, amerikanisch.

»I don't like niggers.« Das Wort wurde seine Erinnye. Als er vier Wochen später in Geschäften nach Paris fuhr, sah er in einem Kabarett eine junge Negerin, die einen Schlangentanz vorführte. Es reizte ihn rachsüchtig, sich ihr zu nähern. Galt die Rache nicht dem unempfindlichen Wesen, das ihn ohne Gnade zurückgestoßen, so richtete sie sich gegen ihn selbst. Es war die trotzige Wut der Lüste. Er prahlte mit der Beziehung zu der Schwarzen, zeigte sich öffentlich mit ihr. Was ihn dann weitertrieb, von Ausschweifung zu Ausschweifung, war die Angst vor dem leeren Raum, der Übergriff an der Grenze, wo die innerste Natur Schicksalserfüllung verlangt.

Und das Schicksal erfüllte sich.


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