Richard Voß
Römisches Fieber
Richard Voß

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31. Priscas letzte Aufzeichnungen und das Ende

Noch immer, immer nichts von seinem Leichnam! Aber sein armer toter Leib soll einen Grabstein erhalten, einen Denkstein. Ich setzte eine Ausstellung seiner Entwürfe sowie seiner letzten Arbeit ins Werk, die ein glänzendes Resultat hat. Ich lasse die Besucher eine halbe Lira Eintrittsgeld zahlen, lasse sie den Zweck der Sammlung wissen, und die Leute strömen hinzu. Die meisten kommen natürlich aus Neugierde und Lust an Sensation.

Seine Skizzen sollen einem deutschen Museum übergeben werden, worüber wir erst kürzlich unter seinen hinterlassenen Papieren eine Notiz entdeckten; aber seinen Leichenstein soll er durch mich empfangen. Der Stein soll auf den protestantischen Kirchhof kommen, wo ich einen gar schönen Platz fand: unweit vom Grabe von Goethes Sohn, unter einer alten absterbenden Zypresse, die gelbe Rosen durchranken. Das ist das letzte, was ich für ihn auf Erden noch tun kann. Ich bin es dem Manne schuldig, der in den Tod ging, weil er ohne mich nicht zu leben vermochte.

Anonym erhielt ich für sein Denkmal fünftausend Lire. Da ich zu wissen glaube, woher das Geld kommt, und da der Stein nicht mit Hilfe eines fürstlichen Almosens gesetzt werden soll, so übergab ich die große Summe einem Spital für arme Fieberkranke.

Ich darf den Stein nicht eher setzen lassen, als bis sein Tod durch seinen Leichnam erwiesen ward. Gemeinsam mit den Freunden beschloß ich nun, das schlichte Denkmal in dem Garten der Kolonie aufzustellen, wo es auch dann verbleiben soll, wenn der Leichnam gefunden wird. Wir entschieden uns für einen möglichst großen unbehauenen Travertinblock, mit der einfachen Inschrift: »Zum Gedächtnis des deutschen Bildhauers Karl Steffens.«

Wieder ein Brief von Artur. Er liebt mich noch immer, harrt und hofft noch immer. Sonst scheint es ihm gut zu gehen. Seine schöne Cousine läßt mich »schwesterlich« grüßen.

Ich bat ihn, mir nicht mehr zu schreiben. Sollte er es trotz meiner Bitte wieder tun, so werde ich seinen Brief nicht mehr lesen. Gott wird mir die Kraft geben. Denn ich darf nicht! Hörst du mich, Geliebter? Ich darf nicht, ich darf nicht! Deinetwillen darf ich nicht. Ich bin nicht das Mädchen, welches du, Leuchtender, dein Weib nennen sollst. Ich kann dich nicht glücklich machen – mit der Finsternis in mir, von der kein Schatten auf deinen Glanz fallen darf. In mir ist etwas krank, etwas zerstört für immerdar. Höre meinen Schmerzensschrei! Sei gütig, habe Mitleid und dringe nicht in mich; denn – ich darf nicht, ich darf nicht!

Ich kopiere fieberhaft fleißig und verkaufe mitunter einiges. Für mich selbst male ich längst nichts mehr. Wozu? Bald werde ich das empfangene Almosen zuückerstatten können. Es soll dann eine gute Stunde sein, eine echte Feierstunde. Daß ich danach Feierabend machen könnte? Aber der Himmel ist weniger barmherzig als bisweilen der Mensch. Steffens hat doch recht gehabt: der Hunger tut gar nicht sonderlich weh. Man gewöhnt sich daran. Das Fieber hilft mir hungern. Ich vertreibe es nicht, denn das Chinin ist viel zu teuer. Die Scharen von Armen, die auch das Fieber haben, kaufen sich gleichfalls kein Chinin, welches überdies in den kleinen römischen Apotheken stark mit Mehl gemischt sein soll. Nichts ist bezeichnender für die Zustände hier. Ich werde alt und häßlich, und auch sonst – – Meine Kleider sind aufgetragen. Ich glaube, ich sehe schäbig aus.

Was tut's?

Wenn ich kopiere, was ich tagtäglich tue, und wenn ich meine kurze Mittagspause mache, so führe ich jetzt auch etwas Eingewickeltes bei mir, das ich heimlich esse: so hungrig, so gierig. Ja, ja, so wird man allmählich. Aber: was tut's? Ich habe solche Sehnsucht hinaus, hinaus! Frascati, Rocca di Papa. Oh, war es schön! Die Campagna. Könnte, ach, könnte ich. Aber ich kann eben nicht.

Um hinauszugehen vor eines der Tore bin ich viel zu müde und matt; und vor dem Tor sind noch weit hinaus die häßlichen Mauern. Also bleibe ich in der Stadt. Es ist ja Rom. Bedenke doch: Rom!

Ich bin in Rom, komme jedoch nur in die Galerien, in denen ich gerade kopiere. Das Bild, vor dem ich gerade sitze, ist mein Rom.

*

Ich glaube, in meiner Kammer sieht es übel aus, übler als damals im Atelier Friedrikens. Wie war ich damals entsetzt! Und jetzt – – Man gewöhnt sich eben daran.

Was soll ich tun? Meine Wirtsleute lassen mich Hausen, solange ich meine Miete bezahle, und kümmern sich weiter nicht um mich. Und ich – Zu müde und matt, viel zu müde und matt. Auch zu gleichgültig.

Artur schrieb. Ich war stark und las nicht.

Als ich neulich nach Hause kam, fand ich meine Kammer aufgeräumt und sauber. Auf dem Tische stand ein Strauß weißer Rosen.

Friedrike hatte es getan. Ich schäme mich nicht einmal mehr.

Bisweilen begegne ich im Korso der Equipage der Fürstin Romanowska. Sie beugt sich dann jedesmal weit, weit vor und sieht nach mir in einer Weise, daß die Leute stehenbleiben und mich anstarren. Ich kümmere mich nicht um die wunderschöne Frau. Manchmal sitzt auch der Fürst im Wagen. Der elegante Mann hat die Augen eines Schwerkranken und wird gleichsam über Nacht alt.

Was es doch auf der Welt alles gibt! Und da spricht man noch von Romanen, die unmöglich sein sollen. Auf der Welt gibt es nichts, was unmöglich wäre. Das Leben schreibt Geschichten, im Vergleich zu denen die glühendsten Phantasien blasse Schatten sind.

Bald werde ich der Fürstin Romanowska einen Besuch machen können. Friedrike schenkte mir heute einen neuen Hut. Ich weinte.

Er schrieb wieder. Ich las wieder nicht – war wieder »stark«. Aber was meine Stärke mich kostet ... Nein! Auf mein Heldentum will ich nicht stolz sein.

Zum Glück habe ich häufig Fieber. Eine tiefe, sinnumhüllende, wohltuende Gleichgültigkeit kommt mehr und mehr über mich.

Heute sah ich ein Gespenst! Ich sah den Geist meines toten Verlobten. Ich sah seinen Geist in einer Marmorstatue, die der Commendatore Mario di Mariano in seinem Atelier ausstellte.

Ich für meine Person hätte nicht einen Schritt getan, um ein Werk des Herrn Mariano zu sehen, trotzdem ganz Rom davon spricht. Vor dem Atelier dieses gottbegnadeten Künstlers stehen den halben Tag über die Equipagen der schwarzen, weißen und grauen Aristokratie und aller vornehmen oder reichen Fremden. Friedrike schleppte Peter Paul und mich hin; denn ich bin jetzt wie Peter Paul: man muß mich gewaltsam von mir losreißen. Und die gute Friedrike möchte mich am liebsten als Zwillingsschwester ihres armen alten Peter Paul an ihr von Liebe, Sorge und Kummer überströmendes Herz nehmen und mich dort ganz stille ruhen lassen.

Also wir drei Schiffbrüchigen des Lebens begaben uns in das prächtige Gewölbe des berühmten Handelsmannes, und ich sah dort Karl Steffens' Gespenst, sah es mit diesen meinen Augen. Die Statue führt den Namen: »Der letzte Blick«. Sie stellt einen unbekleideten Jüngling dar. Es ist ein besiegter Krieger, der im Begriffe steht, sich in sein Schwert zu stürzen. Da sieht er noch einmal auf, und sein letzter Blick umfaßt die Schönheit der Welt, die der Besiegte heldenhaft verlassen will. Er zaudert! Einen Augenblick zaudert er, die düstere Schwelle zu überschreiten, die in das Reich der Schatten führt. Der Beschauer sieht nicht nur, wie es die lebensvolle Seele kalt überläuft; er fühlt es.

Die Sonne scheint, und der Sterbende ist noch so jung. Aber er wird es vollbringen – gleich im nächsten Augenblick! Ein Geschlagener und Besiegter darf nicht verweilen, wo die Sonne scheint.

Das Werk ist Geist von Karl Steffens' Geist, ist der Geist eines Toten! Ich mußte immer wieder und wieder den Namen des Künstlers lesen. In großen, schönen, römischen Lettern stand der Name tief eingegraben im Sockel. Er lautet nicht Karl Steffens, sondern: Mario di Manano.

Stehen die Toten wieder auf, oder verwirrt sich mein Geist?

Es muß wohl so sein, denn ich sah das Gespenst. Weder das schauende, staunende Publikum sah es, noch Friedrike oder Peter Paul. Nur ich, nur ich! Und seitdem ich's einmal sah, verfolgt es mich, schleicht es mir nach auf Schritt und Tritt, ist es jeden Tag in meiner Seele, in jedem Herzschlag, daß Grausen mich packt; denn ein Gestorbener ist wieder lebendig geworden.

Alle guten Geister loben den Herrn.

Hunger und Fieber.

Gott sei Dank! Gott sei Dank! Ich habe die ganze Summe beisammen, ich kann das Almosen zurückerstatten. Heute noch soll es geschehen. Wie wohl mir ist!

Ich war in der Villa Romanowski. Der Portier erkannte mich nicht wieder, trotz seiner guten Bekannten: des alten, grauen Münchner Regenmantels und des unmodernen Strohhuts. Ich sagte dem schönen Herrn in Weiß und Silber, daß ich die Signora Principessa zu sprechen wünschte. Er sollte nur melden: eine deutsche Malerin, die vor drei Jahren in der Galerie gemalt hätte, bäte, von der Frau Fürstin empfangen zu werden. Erst jetzt erkannte mich der Mann. Er sagte mir, der Fürst wäre nicht in Rom und die Frau Fürstin empfinge niemand. Doch bestand ich darauf, ich müßte Ihre Durchlaucht sprechen. Endlich ging der Leuchtende, aber das silberne Gitter ließ er geschlossen.

Im Garten blühten wieder die Azaleen, die Rhododendren und Rosen; es ist also wieder Frühling.

Wieder Frühling ...

Dann kam der Mann zurück. Er öffnete das Gitter, riß es vor mir auf, stand vor meinem alten, schäbigen Regenmantel und garstigen Strohhut entblößten Hauptes. Ich trat ein durch das strahlende Tor in das paradiesische Gefilde und mußte plötzlich denken: Hier könntest du nun zu Hause sein!

Schon vor der Villa kam mein ehemaliger Gönner, der junge Lakai, mir entgegen. Er war diesmal sehr höflich.

Sofort sollte er mich zu der Signora Principessa fühlen, obgleich die Signora Principessa nicht wohl war. Sie lag sogar zu Bett, wollte mich aber trotzdem empfangen.

Ich erinnerte mich der Stunde, wo die Fürstin mich auch empfing, trotzdem sie leidend war. Wenn sie damals gesprochen hätte! Nur ein einziges Wort, tief aus der Seele heraus; nur die beiden kleinen Worte: Habe Mitleid! Und das in einem Tone, der mir gesagt hätte, ihr Herz spräche und nicht nur ihre Lippen. Sie blieb stumm, und ich – Gott helfe mir, ich kann nicht anders.

Der Lakai führte mich zu ihr. Aber nicht in jenes märchenhafte Schlafgemach, sondern in einen Teil des königlichen Hauses, wo ich nie gewesen war. In einem Korridor blieb er vor einer kleinen Tür stehen, sah mich scheu an und flüsterte mir zu: »Hier wohnte der selige Don Benedetto. Sie liegt in dem Bette, darin er starb.«

Mich überlief ein Schauer. Dann ward die Tür geöffnet, und ich trat ein. Eine Zelle war's, eine Klause! Vier graue, öde Mauern und ein Boden aus Ziegelsteinen. An einer Wand das Bildnis des Gekreuzigten, in einer Ecke der Betschemel und darauf wiederum der gekreuzigte Gottessohn.

Ich sah das alles, mußte das alles sehen in dem Augenblick, als ich eintrat.

Sie, die in der Gewalt des Toten stand, lag in dem schmalen Bette unter dem weißen Linnen, und ich mußte sehen, wie schön sie war. Ich hatte sie nie so schön gesehen.

Sie hatte sich aufgerichtet, blickte mir entgegen und rief mir zu: »So kommst du doch zu mir? So hast du mir doch vergeben?«

Es waren nur Worte. Es waren Worte ohne Seele, ohne Wahrheit. Ich hörte sie an, als wären sie leerer Schall. Ich zog das Päcklein aus der Tasche, darin das Geld eingewickelt war, ging zu dem Betschemel, legte das Geld darauf, gerade unter das Bildnis des Gekreuzigten, und sagte:

»Hier ist Ihr Almosen zurück. Geben Sie es einer andern armen Waise.«

Da schrie sie laut auf. Der Schrei kam jedoch nicht aus ihrer Seele, ihre Seele hatte die Sprache noch immer nicht gefunden. Dann ging ich, und jetzt – wie wohl mir jetzt ist, wie wohl!

*

Wieder ein Jahr vorüber.

Ich bin so müde, so müde. Er schreibt nicht mehr, ist gut so. So ist es am besten. Ach, wie müde bin ich doch. Ich arbeite nicht mehr – kopiere nicht mehr. Ich bin zu müde. Das Ausruhen tut mir so wohl.

Mühte ich nur nicht mit einem Gespenst zusammen leben! Der Geist des Toten, der mir in jenem Atelier erschien, will und will nicht von mir weichen. Dabei darf ich seine Gegenwart keinem verraten. Man müßte mich ja für verrückt halten.

Niemand kann sich vorstellen, was ich bisweilen tue. Es ist zu verrückt. Ich begebe mich mitunter trotz aller meiner Müdigkeit auf den Bahnhof, zahle zwei Soldi für den Eintritt, gehe auf den Perron und sehe den Schnellzug abfahren, der über Florenz nach Deutschland dampft. Es hat direkte Wagen: Rom-Ala-München-Berlin.

Rom-München!

Ich betrachte den Wagen, betrachte die Passagiere, die direkt von Rom nach München reisen, und habe dabei allerlei Gedanken ...

Aber auch dafür ist es zu spät. Zu spät! Es ist ein Wort, dessen Klang das Herz wie ein Henkersbeil trifft. Zu spät! Das Wort ist ein Mörder, ein Meuchelmörder, der hinterrücks unser Lebensglück erschlägt. Zu spät! Es ist das Tor, durch welches jener, der alle Hoffnung hinter sich läßt, eingeht in den ewigen Schmerz.

Ein Brief von ihm! Nach einem Jahre wieder ein Brief. Es ist zu spät, und – ungelesen lege ich seinen Brief zu den übrigen.

Ich muß ausziehen; meine Kammer ist zu teuer. Welches Glück, daß Friederike und Peter Paul wieder ins Sabinergebirge gehen; denn ich hätte nicht den Mut, es ihnen zu sagen. Aber lieber in einer Höhle wohnen, als aus Not die Werke großer Künstler kopieren. Nur das nicht wieder, nie wieder!

Übrigens verdiene ich mir etwas. Ich bemale Vasen, Schalen, Briefbeschwerer und dergleichen Dinge. Es bringt wenig ein, aber genug für mich. Und es ist tausendmal besser als dieses jammervolle Nachstümpern und ängstliche Warten auf den Käufer. Auch kann ich meine elenden Schildereien wenigstens frei erfinden. Aber sobald die Freunde fort sind, muß ich mir eine Wohnung suchen, die billiger, viel billiger ist. Wird das möglich sein? Es muß!

Diese Briefe an Gismonda, diese Lügen sind solche Qual! Und ich muß obenein gut lügen. Denn es muß mir herrlich gehen. Aber diese frommen Lügen sind das einzige Gute, das ich auf Erden einer einsamen Menschenseele noch erweisen kann. So lüge und lüge ich denn. Am liebsten rührte ich die Feder so wenig an wie den Pinsel. Aber nur nicht daran denken, daß auch ich einmal eine Künstlerin war!

Der Leichenstein des Selbstmörders ist fertig und ward aufgestellt.

Ich konnte nicht mit dabei sein, da ich gerade starkes Fieber hatte.

Die Freunde vertraten mich; aber ich war froh, starkes Fieber gehabt zu haben. Seitdem ich seinen Geist umgehen sah, empfinde ich ein kaltes Grausen vor allem, was mich an seinen Tod erinnert.

Die Freunde erzählten mir ausführlich die Zeremonie. Alle in Rom anwesenden deutschen Künstler waren gegenwärtig, und die andern Nationalitäten schickten Lorbeerkränze. Es muß sehr feierlich gewesen sein, ein richtiges Totenamt. Auch der Commendatore Mario di Mariano ließ einen Kranz mit prächtiger Schleife und pathetischer Widmung niederlegen. Ein Kranz weißer Azaleen wurde geschickt. Wenn ich dabei gewesen wäre, ich hätte ...

Das hat Kampf gekostet, diese Trennung von den beiden besten Menschen, die mich nicht verlassen wollten. Es brauchte der Mühen und Listen, der Verstellung und der Lügen, um sie zur Abreise zu bewegen. Alles, was ich an Kraft noch besaß, wurde denn auch verzehrt, aber ich muß, muß allein sein. Meine Einsamkeit ist das Brot des Hungernden, das ich mir nicht stehlen lasse.

Ich schreibe nicht mehr an Gismonda. Zu müde, zu müde. Wenn ich doch kränker wäre! Aber mit dem bißchen Fieber, das ich habe, kann ich in Rom bleiben und hundert Jahre alt werden.

Ich wünschte, oh, ich wünschte – – Herrgott vergib mir; ich weiß nicht, was ich rede. Wer, wenn du meine Sehnsucht kenntest – – du kennst sie. Einmal muß ich doch hin und den Leichenstein des Ertrunkenen ansehen.

Sich selber getreu bleiben – als ob das so leicht wäre! Und wenn man es auch tausendfach sich selber gelobt. Eine einzige Untreue gegen uns selbst kann uns zermalmen; aber sie kann uns auch retten. Wäre ich in jener Stunde, als mir bei Blitz und Donner der Gott der Sistina erschien, treulos gegen mich selber gewesen, so könnte ich heute beide Arme ausstrecken und aufjauchzen: »Herr, Herr, sieh mich an, Herr, sieh dein glückliches Geschöpf!«

Und jetzt – – Wie meine todmüde, todwunde Seele ringen und ringen muß, um die glückselige Treulosigkeit nicht zu begehen. Es würde mich nur ein Wort kosten: »Komm!« Ein einziges Wort würde genügen, und ich könnte meine beiden Arme ausstrecken und aufjauchzen: »Herr, sieh mich an! Herr, sieh dein glückliches Geschöpf!« Es ist zu spät. Ich muß schweigen, muß mir selber die Treue bewahren – seinetwillen. Das ist mein einziger Trost.

Ich habe meine entsetzliche Kammer verlassen, wohne noch billiger, viel billiger, fast umsonst, und – wohne prächtig, wohne königlich. Das Haus soll nicht recht gesund sein. Es steht in einem übeln Ruf, gilt für verseucht. Was tut das? Jetzt habe ich bald seit zwei Jahren beständig das Fieber und starb davon noch immer nicht. Meine Wohnung liegt dem Kolosseum gegenüber, im letzten Stockwerk, ein großes Atelier mit zwei Terrassen. Wenn ich auf der Terrasse stehe, so scheine ich in der Luft zu schweben, und ich habe zu meinen Füßen die Herrlichkeit Roms.

Unten im Hause ist ein Bildhaueratelier; es führt auf einen kleinen Hof hinaus, der sogar während dieser Gluthitze voll von grünem Gras und Unkraut ist. Seit Jahren steht es leer. Es ist das Atelier, welches Steffens einstmals bewohnte. Ich fürchte mich jedoch nicht, preise mein gutes Geschick, daß ich so unerhört billig wohnen kann und daß die Freunde fern im Sabinergebirge sind. Sie hätten sonst ein Geschrei erhoben.

Die wenigen Leute, die das schöne Haus mit mir bewohnen, scheinen mir anders auszusehen als andre, und wenn wir Bewohner uns begegnen, so blicken wir uns eigentümlich an. Ich bilde es mir wenigstens ein.

Jetzt könnte ich malen: in meinem großen Atelier, auf meinen hohen, herrlichen Terrassen. Oh, wenn ich jetzt malen könnte! Ich könnte mir ein Modell kommen lassen; das schönste Modell, welches zu finden wäre, eine Art Maria von Rocca. Das Modell könnte ich zu jeder Tageszeit auf meinen Terrassen Akt stehen lassen: bei römischer Sommersonne, unter römischem Sonnenhimmel! Und malen könnte ich, malen; arbeiten, arbeiten ... Aber ich kann nicht. Selbst wenn ich das Modell bezahlen könnte, so kann ich nicht! Ich bin zu müde, viel zu müde. Als ich noch nicht so müde war, hätte ich den Kampf mit der Menschengestalt nochmals aufnehmen können, und ich hätte sie vielleicht doch noch bezwungen. Jetzt geht es nicht mehr.

Ich erhielt eine Bestellung! Die Beatrice Cenci soll ich kopieren. Ich wußte ja, daß es damit enden würde.

Gluten, Gluten! Schirokko, Schirokko! Ich atme feurigen Staub. Alles lodert und loht.

Vom Morgen bis Abend liege ich auf einer Art Ruhebett, welches mein Vorgänger zurückließ. Wenn ich mich regen muß, tun mir alle Glieder weh. Ich liege mit geschlossenen Augen, leide Flammenqualen und habe Visionen von deutschen grünen Wiesen, die voll bunter Blumen stehen; von deutschen tiefschattigen Wäldern, durch welche helle Bäche rauschen; von deutschen Sommermorgentagen ...

Aber dann abends, spät abends.

Wenn ich spät abends auf einer meiner Terrassen bin! Die eine liegt den Titusthermen zugewendet, die andre gegenüber dem Kolosseum, in dessen Getrümmer ich hineinblicke wie in einen Felsenkrater. Darüber Forum, Palatin und Kapitol, die Gärten des Janiculus und die Peterskuppel und gerade unter mir antike Ruinen mit den Zypressen von San Giovanni e Paolo – ein Königsblick von meinem Königssitz aus, auf dem Prisca Auzinger haust mit ihrem Fieber, ihrem Hunger und ihrer stolzen, reinen Treue gegen sich selbst. Wenn der Himmel im Feuer des Sonnenuntergangs steht, wenn die purpurne Nacht herabsinkt, die Sterne aufleuchten und der Brand des Tages allmählich erlischt – oh wie schön! wie schön! Feuchte Kühle steigt aus der Tiefe zu mir empor, die ich einschlürfe, einsauge. Die römische Sommernachtluft soll Gift sein. Wenn sie mich töten würde, so hätte ich einen königlichen Tod. Aber mir ist, als müßte ich noch etwas Wundersames erleben, bevor ich sterben, leise hinabgehen darf.

Etwas Wundersames erleben ... Wie kann ich das, da er mir nicht mehr schreibt? Er schreibt nicht mehr; aber vielleicht – vielleicht kommt er!

Gott, Herrgott, so ist das Herz deiner Menschen, so schufest du's, daß es selbst in der Hoffnungslosigkeit, in der Verzweiflung immer noch hofft; daß es hofft und hoffen muß bis zu seinem letzten Schlage. Ich wehre mich dagegen, ringe mit dem Versucher, nenne mich von Sinnen, will nicht hoffen und hoffe doch, hoffe immer noch – muß immer noch hoffen.

Was hoffe ich denn?

Ich erwarte ihn. Jeden Tag, jede Stunde erwarte ich ihn. Ich liege im Atelier und lausche auf seinen Schritt; ich stehe auf der Terrasse und schaue aus nach ihm. Sogar mitten in der Nacht. Ich muß noch etwas Wundersames, etwas Großes erleben, ehe ich sterben darf.

*

Lange schrieb ich nichts. Ich habe zum Schreiben keine Zeit. Ich muß auf ihn warten. Ich will kein Fieber mehr haben! Wenn er kommt, mich zu holen, muß ich gesund sein.

Die Beatrice Cenci werde ich nun doch kopieren. Von dem dafür verdienten Gelde werde ich mir ein neues Kleid kaufen, ein weißes Kleid. Und Blumen, weiße Blumen!

Meine Wohnung werde ich wunderschön sauber halten und jeden Tag mit weißen Blumen schmücken. Wenn er dann kommt, findet er mich in dem weißen Kleide. Still fasse ich ihn bei der Hand und führe ihn hinaus auf die Terrasse. Wir stehen hoch über Rom, wir schweben hoch über der Erde. Hand in Hand in die Lüfte erhoben, sage ich ihm, daß ich ihn liebe, daß ich auf ihn gewartet habe, daß ich leben will und glücklich sein, daß Glück etwas viel Schöneres und Heiligeres ist als Treue gegen sich selbst.

Dann gehe ich mit ihm nach Deutschland.

Er kommt nicht. Und ich warte.

Ich muß endlich eine fromme Pflicht erfüllen und Karl Steffens' Leichenstein besuchen. Es soll für mich ein Bußgang sein, denn ich habe gegen den um meinetwillen Gestorbenen viele schwere Gedankensünden begangen, vom ersten Augenblick an, als ich mich mit ihm verlobte: vom ersten Augenblick an brach ich ihm im Geiste die Treue.

Er hat sich gerächt.

Wenn Artur käme, um mich zu holen, während ich meinen Sühnegang tue? Ich finde jedoch nicht eher Ruhe.

Kein Geist, kein Geist! Was ich bei Mario di Mariano sah, war kein von den Toten Erstandener. Karl Steffens lebt! Ich sah ihn! Bei seinem Leichenstein sah ich ihn!

Als ich kam, stand er davor und las die Inschrift: ›Zum Gedächtnis an den deutschen Bildhauer Karl Steffens.‹ Er las sich seine Grabschrift mit lauter Stimme vor. Ich erkannte seine Stimme, rief ihn beim Namen, und da, ohne sich umzuwenden, floh er vor mir.

An seiner Stimme erkannte ich ihn, und ich erkannte ihn an seiner Flucht: er lebt! Er konnte nicht sterben! Er war zu feige!

Und ich? Allbarmherziger Gott, und ich – ich starb fast um ihn. Gott schütze meinen Verstand!

Jetzt rufe ich dich, Geliebter! Geliebter, komm! Hole mich! Ich bin erlöst und befreit. Hörst du? Erlöst und befreit! Komm, komm! Jetzt will ich leben und glücklich sein. Erlöst und befreit!

Seine Briefe will ich jetzt lesen. Ach, seine Briefe ...

Zu spät!

In seinem letzten Brief teilt er mir mit, daß er sich mit seiner Cousine verlobt hat – nachdem er lange, lange vergebens gewartet.

Es kam, wie es kommen mußte. Gut so. So ist es am besten. Vorbei, vorbei.

Wie müde ich bin! Ausruhen! ...

*

»Roma!«

In der großen Halle des Zentralbahnhofs riefen die Schaffner den Namen, der einen Wohllaut hat und zugleich solch stolzen, majestätischen Klang, wie kein andrer Städtename der Welt. Sogar die Beamten der Eisenbahn schienen den einzigen Namen mit einem pompösen Tonfall zu rufen.

Die Maschine eines spät am Nachmittag von Florenz einfahrenden Personenzuges hielt keuchend und zischend wie ein verendendes Ungetüm. Die Gepäckträger stürzten herbei, rissen die Wagentüre auf, die Passagiere drängten heraus, begrüßten Verwandte und Freunde, von denen sie erwartet wurden, riefen nach einem Facchino und eilten dem Ausgange zu, wo ihnen die Fahrkarten abgenommen wurden und sie ihr Gepäck von den städtischen Steuerbeamten visitieren lassen mußten.

Der zu allerletzt aussteigende Passagier war ein ältliches, winziges Frauenzimmerchen, auf das sonderlichste kostümiert und für die Reise ausstaffiert. Die kleine Dame rutschte auf das Trittbrett herab, wo sie nun stand und mit großer Anstrengung an umfangreichen Gepäckstücken zerrte, die sich in einem Wagen der dritten Klasse befanden und sämtlich »Handgepäck« waren. Ein Facchino wollte dem kleinen Geschöpf zu Hilfe kommen. Da wandte sich dieses bitterböse gegen den Mann und schrie ihn an, daß der Römer erschrocken zurückwich.

»Non, non, non!«

So rief das Persönchen mit einer schrillen Kinderstimme und riß dabei an einer gewaltigen Reisetasche, darauf in leuchtenden Farben Rosen und Vergißmeinnicht gestickt waren. Es schien entschlossen, sich dieses Gegenstands wie eines Wurfgeschosses zu bedienen, denn es hielt jeden von diesen braunen Kerlen für einen Feind, der es auf sein Eigentum, wohl gar auf sein Leben abgesehen hatte.

Endlich hatte die tapfere kleine Dame alle ihre Schachteln und Taschen glücklich auf dem Perron um sich her aufgebaut, stand jetzt mitten darunter und schaute sich hilflos um. Sie sah so sonderbar aus und zugleich so belustigend, daß einige Bahnbeamte sich um sie sammelten und sie wie ein Wundertier anstarrten. Wer ihr jedoch nahe kam, den schrie sie wild an: »Non, non, non!«

Mit diesem gellend ausgestoßenen Ruf empfing sie sogar die beiden baumlangen Carabinieri, die in ihrer ganzen Pracht und Würde auf dem Kampfplatz erschienen; denn sie hatte sich in jeder Hand mit einer Schachtel bewaffnet, um sie als Bombe dem an den Kopf zu schleudern, der ihr ans Leben wollte.

Und Prisca kam ihr noch immer nicht zu Hilfe!

Unbegreiflich, daß Prisca nicht da war, um sie bei ihrer Ankunft in der Räuberstadt zu empfangen. Sie hatte ihr doch Tag und Stunde genau geschrieben; denn da Prisca seit Monaten nichts hatte von sich hören lassen, keinen einzigen ihrer vielen flehentlichen Briefe beantwortete, so mußte sie schließlich selbst kommen. Sie kam, und keine Prisca war da!

Allerdings war sie einen vollen Tag später und mit einem ganz andern Zuge in Rom eingetroffen. Sie hatte unterwegs die seltsamsten Abenteuer erlebt, Abenteuer, die nur ihr zustoßen konnten, und es war ein Wunder, daß sie überhaupt eintraf. Aber Prisca konnte sich doch vorstellen, daß es für ein alleinstehendes älteres Frauenzimmer – noch dazu von ihrer Figur, kein Kinderspiel war, von München nach Rom zu reisen: dritter Klasse, im Personenzug! Sie führte ihr sämtliches Gepäck bei sich, mußte wohl sechsmal mit ihrem sämtlichen Gepäck den Wagen wechseln, ließ sich von keiner Menschenseele helfen und schrie jeden, der irgend etwas von ihr wollte, mit ihrem energischen » Non, non, non!« an. In Verona blieb sie einen halben Tag liegen und in Florenz auch; und geradezu erstaunlich war es, daß sie nicht irgendwo überhaupt liegen geblieben war.

Aber jetzt war sie glücklich da, und keine Prisca zu sehen. Nur rings um sie die grinsenden Gesichter dieser römischen Räuber und Mörder.

Gern hätte sie Priscas Freunden geschrieben, kannte sie jedoch nur unter ihren Vornamen Friedrike und Peter Paul, was für eine Adresse doch nicht ausreichend war. So wußte sie sich denn nicht anders zu helfen, als selbst die weite, schreckliche Reise anzutreten, fest entschlossen, ohne Prisca nicht zurückzukehren. Im Idyllenhäuschen war für ihre Ankunft jedes Winkelchen vorbereitet, und das herzogliche Menü des Festessens lag bereits auf dem gedeckten Tisch.

Das liebe, liebe München, das schöne, schöne Schwabing! Daß es Menschen gab, die in München und Schwabing lebten, die München und Schwabing verlassen konnten, um nach diesem abscheulichen Lande, diesem unangenehmen Rom zu gehen – der Heilige Vater möge dem Fräulein Gismonda Glocke die Lästerung verzeihen.

Da sie auf dem Bahnhofe, mitten auf dem Perron, doch nicht gut Hütten bauen konnte, so mußte endlich etwas mit ihr geschehen. Am liebsten hätte sie sich auf ihrem Gepäck niedergelassen und bitterlich geweint. Aber dieses klägliche Schauspiel wollte sie den hohnlachenden Römern denn doch nicht geben – was hätte dazu Seine Hoheit der höchstselige Herzog gesagt?!

Da also keine Prisca ihr zu Hilfe kam, mußte sie sich entschließen, ihren Standpunkt aufzugeben. Sie stellte ihre Verteidigungswaffen, die Hutschachteln, nieder, griff in ihre Tasche, daraus sie nach einiger Beschwerde ein Stück zerknitterten, beschriebenen Papiers hervorbrachte: Priscas Adresse. Mit diesem Scheine in der geballten Hand, ihre Schachteln krampfhaft unter den kleinen, mageren Armen haltend und die bestickte, bunte Reisetasche nach sich schleifend, strebte sie dem Ausgange zu, von einem Gefolge witzelnder und lachender Römer geleitet.

Nachdem ihr Billett abgegeben, fiel sie in die Hände erbarmungsloser Zollbeamter. Sie schrie zwar immerfort »Non, non, non!«, mußte jedoch trotzdem ihr sämtliches Gepäck hergeben, öffnen und vor ihren entsetzten Augen durchwühlen lassen.

Die Gute schien eine Ahnung von Priscas wahrem Zustand zu haben; denn sie hatte Mundvorräte mitgebracht, die für einen Monat ausgereicht hätten, und die sie in Kufstein sowohl wie in Ala unter beständigen wilden Non – non-Rufen glücklich durchgeschmuggelt hatte. An den Toren Roms ereilte sie ihr Geschick. Alles wurde entdeckt! Regensburger Würste, Prager Schinken, Nürnberger Lebkuchen, lauter Grüße und Genüsse der Heimat, die Prisca in der harten Fremde sich schmecken lassen sollte, lagen um die kleine, wehklagende Gestalt auf dem schmutzigen Boden herum, und das arme Glöcklein mußte zahlen, so gewaltig es auch Sturm läutete und sich mit dem einzigen, ihr bekannten Fremdworte wehrte, als ob sie keine Bewohnerin des lieblichen Schwabing, sondern eine römische Heldenjungfrau vom Kapital gewesen wäre. So öffnete sie denn jammernd den Barbaren ihr Portemonnaie. darin sich einiges für ihr hübsches deutsches Silbergeld unterwegs erhaltenes schmieriges italienisches Papiergeld befand. Die Unmenschen entnahmen ihr so viel, als der Zoll ausmachte, und sie durfte ihre richtig besteuerten Vorräte wieder einpacken. Endlich gelangte sie aber doch glücklich in einen Wagen, dessen Kutscher sie Priscas Adresse vor die Augen hielt. Der braune Mensch tat, als wäre es das gleichgültigste Ding von der Welt, daß er das Fräulein Gismonda Glocke aus Schwabing in Rom vom Bahnhof in die Via Ripetta Nr. 137 fahren sollte, wo Prisca Auzinger, die böse, böse – liebe, liebe Prisca Auzinger wohnte.

Es regnete in Strömen. Seit Monaten afrikanischer Gluten und sengenden Südwinds der erste Regen! Der Himmel Roms war so grau, als läge die Stadt der sieben welthistorischen Hügel an der Isar, die Luft Roms so feucht und kalt, als wehte sie um die Tannenwälder der bayrischen Alpen.

Gismonda warf einen bösen Blick auf die Mauermassen der Diokletianthermen, lehnte sich verächtlich im Wagen zurück und murmelte erbittert: »Das ist also Rom! Was das nun wohl ist? Darüber erheben die Menschen solches Geschrei! Ich habe es ja immer gesagt: Rom? Was ist Rom? Rom ist nichts!«

Die breite, häßliche Via Nazionale, die der Kutscher fuhr, flößte ihr aber doch einigen Respekt ein, so daß sie Rom von neuem eines gleichgültigen Blickes würdigte.

»Das wäre nun so weit ganz hübsch, obgleich gar kein Vergleich mit der Ludwigstraße. Aber um das zu sehen, braucht ein vernünftiger Mensch doch nicht nach Rom zu reisen. Und wo sind denn wohl die Altertümer, alle die scheußlichen Heidentempel und grauenhaften Heidengötter, die in Rom noch überall herumstehen sollen? ... Aber das Ärgste ist doch dieser Regen! Wer auf der Welt Regen schön findet, braucht doch wahrhaftig nur nach München zu kommen. Wo ist denn nun in Rom der ewig blaue Himmel, davon die Leute soviel Wesens machen? ... Rom, Rom! Die Menschen, die zu dir laufen, können mir leid tun ... Ach, und Prisca, du Sorgenkind! Und von hier absolut nicht wieder fort zu wollen? Ich versteh's nicht.«

Mit ihren Gedanken wieder bei Prisca und ihrem großen Kummer angelangt, vergaß sie das häßliche Rom nebst seinem grauen Regenhimmel und versenkte sich von neuem in ihre Sorge um ihre liebe, böse Lange ... Weshalb sie wohl seit Monaten keine einzige Zeile geschrieben hatte? Nicht einmal auf die Nachricht hin zu antworten, daß Gismonda nun wirklich Ernst mache und selbst komme. Als ob eine Reise nach Rom ein Ausflug auf die Rottmannshöhe wäre? Wenn sie krank geworden, konnte sie doch diese zweideutige Berlinerin, das Fräulein Friedrike, oder den verrückten Peter Paul schreiben lassen ... Aber sie wollte es ihr schon sagen!

Nein! Um den Hals wollte sie dem lieben, guten Wesen fallen; freuen wollte sie sich, ihre teure Lange endlich zurück zu haben; nicht wieder von sich lassen wollte sie den Flüchtling – nie wieder!

Durch Jahre hatte sie sich's überlegt: sie wollte Prisca in aller Form Rechtens adoptieren! Das Idyllenhäuschen sollte eine zweite Herrin erhalten; sämtliche gnädige Geschenke der höchstseligen Frau Herzogin: die chinesischen Teeservice, die Porträts der Herrschaften mit den eigenhändigen Unterschriften und alle herzoglichen Menüs sollten einstmals Prisca Auzingers Eigentum werden – unter einer einzigen Bedingung: fort aus Rom und nie, nie, nie wieder nach Rom zurück!

Die gute Gismonda schloß die Äuglein, um sich die schöne Szene vorzustellen, wenn sie Prisca ihre mütterliche Absicht mitteilte. Prisca würde unendlich gerührt sein, aber erst sie, Gismonda! Sie weinte bereits bei dem bloßen Gedanken an die herrliche, gefühlvolle Stunde, die sie bald, heute noch, erleben sollte.

Via Ripetta Nr. 137!

Der Wagen hielt, das Glöcklein fühlte sich von neuem hilflos. Aber das Bewußtsein der Nähe Priscas verlieh ihr Mut. Sie zog den rettenden Zettel wieder hervor, hielt ihn zu dem Kutscher empor, deutete energisch darauf und wies gebieterisch auf das hohe, häßliche Haus, davor sie hielten.

Der braune Römer begriff die schwierige Sachlage sofort. Er sprach etwas für Gismonda vollständig Unverständliches, nickte ihr beruhigend zu, nahm den Zettel, sprang vom Bock, ging ins Haus.

Klopfenden Herzens harrte das Glöcklein, jeden Augenblick erwartend, Prisca aus dem Hause laufen und auf den Wagen zustürzen zu sehen. Dabei horchte sie auf das ununterbrochene Klatschen des Regens auf das Straßenpflaster, auf das gellende Geschrei der Ausrufer und fühlte ihre Verachtung gegen Rom und das römische Volk mit jedem Augenblick wachsen. Um ihrem Zorn Luft zu machen und die Erwartung besser zu ertragen, sagte sie beständig halblaut vor sich hin:

»Eine eklige Stadt, eine eklige Stadt! Prisca, wie konntest du nur? O Prisca! ... Aber jetzt komm doch endlich! Ich sitze ja doch hier unten im Wagen, in dem ekligen Rom!«

Nach einer Weile kam – keine Prisca Auzinger, keine liebe, böse Lange, sondern der Kutscher kam wieder zurück. Er schüttelte gleichmütig seinen schwarzen Kopf, stieg gleichmütig wieder auf, wendete sein Roß und fuhr gleichmütig weiter. Gismonda schrie aus voller Kehle: »Non, non, non!« bis sie begriff, daß Prisca ausgezogen war, der Kutscher ihre neue Adresse wußte und sie praktischerweise dort hinfuhr.

Der Regen strömte heftiger und heftiger herab; der Himmel Roms wurde grauer und grauer. Es dämmerte, wurde schnell trostlos trübe und dunkel. Und die Fahrt dauerte endlos! Dabei trotz des Regens ein Getöse und Geschrei, daß Gismonda der Kopf schmerzte. Einmal schaute sie aus dem Wagen und gewahrte nichts als Trümmer und Ruinen. Sie wollte schon fragen, wann es denn in Rom so fürchterlich gebrannt hätte. Dann besann sie sich jedoch, daß sie die Frage mit ihrem einzigen Fremdworte schwer ausdrücken könnte und daß diese abscheulichen Mauerreste wahrscheinlich die römischen Altertümer wären – die weltberühmten Altertümer!

Diese Entdeckung empörte sie dermaßen, daß sie sich aus dem Wagen beugte und laut hinausrief: »Pfui!« Gerade fuhr sie am Trajansforum vorüber ...

Ein zweites Mal hielt der Wagen vor einem großen Hause, welches bei einbrechender Dunkelheit fast prächtig aussah. Gott sei Dank! Es mußte ihr gut gehen, da sie in solchem schönen Hause wohnte.

Der Kutscher sprang ab, nickte ihr zu und half ihr aussteigen. Gismonda, ohne sich um ihre Siebenfachen zu kümmern, wollte sogleich ins Haus eilen, als sie einen Schreckensruf ausstieß und voller Entsetzen stehen blieb.

Aus dem Hause traten ihr vier schwarze Gestalten entgegen, den Leib in eine lange Kutte gehüllt, eine Kapuze über das Haupt und wie eine Larve vor das Gesicht gezogen. Sie trugen auf ihren Schultern etwas Langes, Schmales, welches ein schwarzes Tuch bedeckte, darauf aus Streifen hellen Stoffes ein großes Kreuz geheftet war.

Mit dem langen, schmalen, schwarzverhängten Gegenstand auf ihren Schultern eilten die Vermummten fort, an Gismonda vorüber, in die leichenfarbene Dämmerung des Regenabends hinaus, so schnell, als müßten sie eine widerwärtige Last davonschleppen.

Der Kutscher rührte flüchtig an seinen Hut und murmelte gleichmütig:

» Un morto

Ein Toter ...


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