Richard Voß
Römisches Fieber
Richard Voß

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26. Peter Paul kommt zurück

Als Fräulein Friedrike blumenbeladen an dem Teich der Villa Falconieri endlich erschien, traten ihr die Verlobten entgegen. Sie sagten es ihr gleich: Steffens mit dem Ausdruck eines Glückes, das, einmal errungen, nicht wieder genommen werden kann; Prisca wie jemand, der einen großen Entschluß gefaßt hat, dessen Erfüllung fortan das Leben ausmachen wird. Sie waren kein jubelndes Brautpaar, aber zwei Menschen, deren Seelen eine Weihe empfangen hatten. Fräulein Friedrike sagte kein Wort. Sie lies ihren Pompadour fallen, setzte sich mitten auf den Weg und begann bitterlich zu weinen. Als Prisca sie wieder glücklich auf die Beine gebracht hatte, schluchzte sie, bald den einen, bald den andern umarmend:

»Und Peter Paul muß in Berlin sein! Habt euch nur um Gottes willen auch so lieb, wie wir uns liebhaben, werdet als Mann und Frau doch auch nur so glücklich, wie wir beide als alte ewige Brautleute sind. Kinder, ach Kinder, welche Freude habt ihr Peter Paul und mir heute gemacht. Und daß ihr euch gerade in Frascati verlobt habt, gerade in der Villa Falconieri – es ist zu nett von euch! Es ist überhaupt zu schön auf der Welt. Nur daß Peter Paul nicht mit dabei ist!«

Dann weinte sie wieder ein Stücklein, worauf sie von neuem in Entzücken geriet, bald Steffens, bald Prisca dankend, als hätten diese sich nur deshalb verlobt, um der guten Friedrike und dem besten Peter Paul eine Freude zu machen und das Picknick auf Tuskulum besonders herrlich zu beschließen. Dann schlug Fräulein Friedrike vor, ein Verlobungsmahl zu halten, womit das Brautpaar einverstanden war. Steffens bestand darauf, dieses Festessen bei seiner ehemaligen Wirtin, jener vortrefflichen Sora Rosa abzuhalten, die, wie er vernommen hatte, seit einigen Jahren in Frascati eine bescheidene kleine Trattorie hielt. Die gute Frau sollte erfahren, um was für ein Pranzo es sich handelte, das zusammenzustellen Fräulein Friedrike sich vorbehielt. Sie verhieß ein Menü ganz à Ia Frascatana!

Bei der Popularität, deren sich Sora Rosa erfreute, war die Trattorie sofort erkundet. Von einem Schwarm von Gassenjungen begleitet – nach Fräulein Friedrikens Erklärung bestand selbst dieses Gesindel in Italien aus raffaelschen Cherubim, erreichte das Trio das volkstümliche Speisehaus. Es lag in der Nähe des Marktplatzes, war eine Art von saubergehaltener Grotte, besah jedoch eine kleine Pergola, die wie ein rebenumrankter Vogelkäfig über der alten braunen Stadtmauer hing und in der ein König hätte tafeln können, so majestätisch war der Blick aus der grünen Laube auf Land und Gebirge, auf Rom und die Meeresküste.

Sora Rosa erkannte den Signor Carlo sofort und begrüßte ihn mit einer Lebhaftigkeit und zugleich einer Anmut, wie sie nur den Kindern jenes glücklichen Südens zu Gebot steht. Dabei vermied sie mit dem Takt ihres Volkes jede Bemerkung über die Umstände, unter denen sich Steffens damals in ihrem Hause befunden, jede Frage, weshalb er sich so viele Jahre nicht hatte sehen lassen.

Tora Rosa war eine schöne Matrone, in deren braunem Gesicht die Augen von jugendlichem Feuer funkelten, mit schlicht gescheiteltem, dichtem grauem Haar, das prachtvoll gewesen sein mußte.

Sogleich ward die ganze Familie zusammengerufen, die drei Töchter: Cristina, Vittoria, Dionisia, der Ehemann der Ältesten, Vincenzo, und deren Kinder. Es gab einen Aufstand, und es war eine Freude, als wäre ein verlorener Sohn zurückgekehrt. Und als die guten Leute gar erfuhren, daß eine Verlobung stattgefunden hatte und daß in ihrer Pergola das Verlobungsmahl abgehalten werden sollte!

Wiederum hatte das triumphierende Fräulein Friedrike recht.

»Meine teure Prisca, so etwas kannst du eben nur hier erleben! Denn ich nenne dich du, und Peter Paul muß dich auch duzen! Und wir wollen so fröhlich sein, als ob er bei uns wäre und euch seinen Segen gäbe.« Dann bezwang sie ihre Rührung und entfernte sich, um mit Sora Rosa eine geheime Beratung zu halten, von der sie sehr befriedigt zurückkehrte.

»Diese Sora Rosa ist eine prachtvolle Person! Erster Gang: Gnochi con salsa pomi d'oro. Zweiter Gang: Capretetto alla cacciatore; dritter Gang: Piscelli con precciutto; vierter Gang: Pollo arrosto und als Dolce gebackenen süßen Ricotto, Früchte und Käse. Was sagt ihr dazu?«

Dann wurde in der Pergola von der gesamten Familie der Tisch gedeckt und von Fräulein Friedrike mit Lorbeerzweigen und Rosen bestreut.

»Römische Rosen und Lorbeer, liebe Prisca, bester Steffens! Mögen sie durch euer junges Leben duften und glühen: ruhmvolle Künstlererfolge und leuchtendes Menschenglück! Und möchten der Rosen noch mehr als des Lorbeers sein! Denn Glück ist doch das Schönste im Leben, vielleicht auch das Höchste.«

›Vielleicht auch das Seltenste,‹ mußte Prisca denken. ›Wenn ich nur glücklich machen kann!‹

Als könnte man glücklich machen, ohne nicht auch zugleich glücklich zu sein, liebe, törichte Prisca.

Dann ward alles sehr festlich. Himmel und Erde bedeckten sich mit Sonnenuntergangsgluten, denen veilchenblaue Dämmerung folgte. Dem Wogenschlag eines märchenhaften Ozeans entstieg der Soracte wie ein Zaubereiland; am Horizont flammten die Lichter Roms auf, und über dem Meere lag ein ganz unirdischer Glanz. Die Welt war so feierlich schön, daß Prisca nicht verstand, wie ein Menschenherz nicht sich selbst überreden, nicht aufgehen konnte in einem Gefühl, das größer war als das eigne Geschick.

Von Peter Paul waren noch immer keine Nachrichten eingelaufen, die etwas Entscheidendes über das Schicksal des großen Bildes gebracht hätten. Jeden Vor- und Nachmittag, wenn die deutsche Post kommen mußte, stieg Fräulein Friedrike im Sonnenbrand den Berg hinunter und erwartete bei der Porta del Popolo den Postboten. Diese Gänge hielt sie selbst vor Prisca so ängstlich verborgen, als befände sie sich in ihren alten Tagen auf heimlichen Liebeswegen.

Was in dreißig Jahren nicht geschehen war, das begab sich jetzt: Signorina Rica las deutsche Zeitungen. Es kostete sie einen Kampf, aber sie überwand ihren Widerwillen gegen das mit deutschen Worten bedruckte Papier und las. Auch das vollbrachte sie in tiefster Heimlichkeit. Zur Mittagsstunde, wo wenigstens keine Fremden, keine Deutschen das Café Aragno besuchten, erschien jetzt regelmäßig Tag für Tag in diesem berühmten römischen Lokal ein altmodisches ältliches Dämchen in Hellem, großgeblumtem Sommerkleid mit einem gewaltigen schwarzen Pompadour, forderte eine »Bibita« und das »Berliner Tageblatt«, das Italienische so sprechend, daß die Kellner auch ohne das Tageblatt und ohne den Pompadour – nur deutsche ältliche Damen führten diesen Artikel mit sich, beim ersten Ton die »Tedesca« erkannten.

Mit der Limonade und dem Tageblatt setzte sich Fräulein Friedrike in den einsamsten und hintersten Winkel und studierte die Berliner Kunstnachrichten, jeden Augenblick erwartend, den Namen Peter Paul Enderlins und die »Vision des Nero« zu lesen – mit fetten Lettern gedruckt. Aber sie fand nichts. Tag für Tag ging sie dem Postboten bis zur Porta del Popolo entgegen; Mittag für Mittag saß sie im Café Aragno und las; aber von Peter Paul und seinem großen Bild las sie nichts. Am ersten Juli sollte die Ausstellung eröffnet werden. Bereits zählte man den zwanzigsten Juni, und immer noch blieb die Zeitung über das größte Kunstereignis des Jahres stumm. Auch Priscas Sorge wuchs mit jedem Tage. Waren die Verlobten beisammen, so sprachen sie nicht von sich und der Zukunft, sondern von der Gegenwart und dem Schicksal der Freunde. Nur wenn man des Abends vor Friedrikens Atelier sich vereinigte, machten sie Pläne, jedoch mehr um die Freundin von ihren schweren Gedanken abzuziehen.

Zum Herbst wollten sie heiraten: in Rom, und in Rom wollten sie bleiben; in der Kolonie vor der Porta del Popolo, wo zum Winter eines der Häuschen frei ward. Doch behielt Steffens sein Atelier. Gegen Nahrungssorge würde die Arbeitslust beider sie schützen, denn arbeiten wollten sie, arbeiten! Überdies hatte die Ausstellung des einen einzigen Tages Steffens so bekannt gemacht, daß von Kunsthändlern und Liebhabern Anfragen einliefen. Er brauchte nur ein neues Werk zu schaffen, und es war so gut wie verkauft. Daß der Commendatore Mario di Mariano sich von neuem an Steffens gewendet und diesem nicht glänzende Anerbieten gemacht hatte, erfuhr nur Prisca. Keiner sprach es aus, aber beide dachten es: die dunkelste Zeit in Steffens Leben war jene Periode, in der er für den Namen und den Ruhm eines andern gearbeitet hatte.

Auch jetzt arbeiteten beide; Steffens voller Jugendkraft und Feuereifer an einem Prometheus, der das geraubte himmlische Feuer über seinem Haupte schwingt; Prisca dagegen mit einer ihr ganz fremden Unlust, die sie der beginnenden Hitze zuschrieb, ihrem Verlobten und Friedriken ängstlich zu verbergen suchte und gern sich selbst abgeleugnet hätte. Steffens hatte ihr geraten, sich an die menschliche Gestalt zu wagen, und so malte sie denn einen weiblichen Akt. Ihr Modell war herrlich, aber die Arbeit fiel ihr schwer, schien über ihre Kräfte zu gehen; doch sie ließ nicht ab, sich stets von neuem zu versuchen. Dazu kam jene seltsame Erschlaffung.

Jedenfalls wirkte die Verlobung auf Steffens ganz anders als auf sie. Ihn belebte das Glück wie ein Wundermittel, während es ihr die Kraft entzog. Auch quälte es sie, daß sie in München noch immer nichts verkauft hatte, was sie ihrem Bräutigam verschwieg. Nicht aus gekränkter Künstlereitelkeit, sondern weil sie fürchtete, er möchte ihren Mißerfolg seinem Einfluß zuschreiben und unter ihrer Enttäuschung schwerer leiden als sie selbst. Was mochte Baron Artur wohl gemeint haben, als er bei ihrem neulichen ernsthaften Gespräch äußerte: jetzt befürchte er von Steffens gewalttätiger Persönlichkeit auf ihre Begabung keine verderbliche Wirkung mehr. Warum jetzt nicht mehr? ... Weil er erkannt hatte, daß sie Steffens liebte und weil es für die Frau eine natürliche Sache war dem geliebten Mann sich anzuschmiegen und unterzuordnen? Aber auch in der Kunst? ... Das mußte Steffens neuer Freund wohl meinen, was von keinem allzu großen Glauben an die freie künstlerische Persönlichkeit der Frau zeugte.

Steffens hatte ihm seine Verlobung mitgeteilt und Baron Artur Prisca einige freundliche Worte geschrieben. Warum schrieb er wohl, da er sie doch täglich sprechen konnte?

Ungefähr eine Woche nach dem Picknick auf Tuskulum kam Prisca eines Abends von Friedrike zurück. Der Tag war ein glühendheißer gewesen, und trotz offener Fenster und Türe wollte die Schwüle aus dem Zimmer nicht weichen. Prisca blieb daher noch im Garten, den Johanniswürmer in solcher Menge durchschwärmten, daß Büsche und Blumen in einem Regen von tanzenden Funken standen.

Da vernahm sie am Eingang des Gartens Schritte; sie klangen wie die eines sehr müden, sehr erschöpften Wanderers, schleichend und schleppend. Der späte Ankömmling bog von dem breiten Wege ab und kam den schmalen Gang zu ihrem Atelier herauf.

Wer konnte so spät zu ihr wollen? Und mit solchen schleichenden, schleppenden Schritten?

»Peter Paul!«

Sie rief seinen Namen und lief ihm entgegen. Fast wäre sie dem alten Mann um den Hals gefallen, denn sie wußte ja, was ihn so todmüde machte: die Trostlosigkeit! Der Glaube eines Lebens zerstört.

»Ach, Peter Paul! Lieber, lieber Peter Paul!«

Er stand vor ihr. Von dem Funkengewimmel ringsum fiel ein fahler Glanz auf sein Gesicht. Wie greisenhaft es war, und die Augen mit jenem Blick, den nur Menschen haben können, die eingingen durch das Tor des Schmerzes und jede Hoffnung hinter sich ließen.

Prisca fand keinen andern Gruß; sie sagte dieselben Worte immer wieder: »Lieber, lieber Peter Paul!«

Endlich sprach auch er das erste Wort:

»Friedrike!«

Allen Kummer und Schmerz, alle Sorge und Liebe, alles, wofür es keinen Namen gibt, nannte der gebrochene Greis mit dem einzigen, mit erstickter Stimme gesprochenen Wort. Nur an sie hatte er gedacht, als er seinem Bilde nachzog, nur an sie, als er den Urteilsspruch der Jury vernahm, nur an sie, als er zu ihr zurückkehrte: mit solchen schleichenden, schleppenden Schlitten, solchem müden, verödeten Herzen; denn ein Herz, das nicht mehr zu hoffen vermag, trägt in sich die Öde einer Wüste.

Hastig versetzte Prisca:

»Sie ist in ihrem Atelier und gewiß schon zu Bette. Kommen Sie herein und – nein, Sie sollen mir nichts erzählen. Ach, lieber, lieber Peter Paul, Sie brauchen mir nichts zu erzählen. Ausruhen sollen Sie sich bei mir, plaudern wollen wir zusammen! Von Friedrike wollen wir sprechen und wie doch noch alles gut wird, wie man Sie einmal noch anerkennen wird, wie Sie wieder arbeiten werden. Ja, ja, ja, mein lieber, lieber Peter Paul. Und solange wir noch arbeiten, so lange leben wir auch, nicht vegetieren, nein, leben! ... Sehen Sie mich nicht so traurig an, schütteln Sie nicht so traurig den Kopf. Kommen Sie, kommen Sie!«

Sie umfaßte ihn, führte ihn in ihr Zimmer zu einem Sessel, darauf er niedersank. Dann schloß sie die Tür, aber das Fenster ließ sie offen, und sie zündete kein Licht an. Vor dem dunkeln Fenster webte die von Glühwürmern erfüllte Sommernacht einen Strahlenvorhang.

Dann erzählte der Heimgekehrte:

»Es war wohl für meine schwache Kraft eine zu gewaltige Aufgabe. Meine winzigen Heiligenbilder hätte ich malen müssen, fleißig und tüchtig, und mich damit zufrieden geben; es können ja auch kleine Geister zu der großen Göttin beten und ihre Diener sein, wenn auch die letzten und unwürdigsten. Ich wollte aber die Hohepriesterschaft haben!

»Gleich, als es entschieden war, du wirst ein Künstler, nahm ich mir vor: du gehst nach Rom, und dort malst du ein Bild, welches dein Lebenswerk sein wird. Schon in Düsseldorf auf der Akademie dachte ich an nichts andres als an meinen römischen Aufenthalt und an mein römisches Bild. Ich reiste nach Rom – und mich armseliges Zwerglein überkam der Geist Michelangelos – so glaubte ich damals. Denn heute weiß ich, was mich in Rom überkam: Größenwahn! ›Auch du bist ein Auserwählter des Herrn.‹ »Ich begann also und malte. Sie wissen, wie lange das her ist. Niemand ließ ich mein Bild sehen. Wohl vom ersten Tag an hatte ich die geheime Angst, sie möchten in dem Titanenwerk den Zwerg erkennen. Mir selbst redete ich vor, ich wollte mich von niemand beeinflussen lassen. Nur hier konnte ich das durchführen, denn in Rom ist möglich, was sonst nirgends möglich ist. Ich glaube, auch darum liebe ich Rom so fanatisch. Der Mensch kann hier zum Narren werden, und die andern merken es gar nicht. Oder wenn sie es merken, so zucken sie die Achseln und lassen den Mann laufen. Mancher, der hier harmlos umhergeht, seines Lebens und der Sonne sich freut und sich bei gesunder Vernunft glaubt, würde wo anders in eine Irrenanstalt gesperrt werden.

»Friedrike! Sie lebte mit mir in meinem Bilde, denn sie lebte in meiner fixen Idee. Ein Menschenalter lebte sie mit einem Irrsinnigen zusammen und merkte es nicht. Sie merkte es nicht, weil sie an mich glaubte, an mein großes Bild, an meine göttliche Berufung, an meine gesunde Vernunft. Und sie glaubte an mich, weil sie mich liebte. Liebe bei einem Frauenzimmer ist immer zugleich Glaube. Das hat der Himmel so gemacht und das ist eine seiner größten Taten.

»Ein liebendes gläubiges Frauenherz – o Fräulein Prisca, Andacht sollte der Mann vor solchem gläubigen Herzen haben.

»Als Sie damals das Bild sahen – Friedrike ließ nicht ab, bis ich Sie einlud –, welche Angst ich hatte, Sie würden den Narren erkennen. Ich redete mir freilich immer ein, keiner zu sein, obgleich ich in meiner innersten Seele stets argwöhnte, wie es um mich stand. Ich hatte indessen nicht den Mut, denn vierzig Jahre! ... Sie blieben stumm. Friedrike sagte mir, Ihr Schweigen sei tiefste Ergriffenheit gewesen, und was sie sagte, glaubte ich. Aber nicht Ergriffenheit war es, was Sie stumm machte, sondern Schreck, vielleicht sogar Mitleid. Heute weiß ich das. Dem Steffens traute ich nicht, den lieh ich nicht hinein, so sehr Friedrike auch bat. Er hätte vor Schreck vielleicht nicht die Sprache verloren, und wenn er mich aufgeweckt hätte ... Er machte so wie so Andeutungen, und ich wollte nichts hören. Kein Wort wollte ich hören vor der Entscheidung in Berlin, vor dem Urteilsspruch.

»Im Traum allerdings – im Traum hörte ich das Wort oft genug. Ich hörte es wie Posaunenton, wie das Verdammungswort beim Jüngsten Gericht. Aber ich bekam es fertig, mich immer wieder zu belügen. Andre, die solche Traumwelt in der Seele tragen, werden Trinker oder Morphinisten, um das Menetekel nicht hören zu müssen; ich wurde ein alter Römer. Nur keine Wirklichkeiten. Und wer ein alter Römer geworden, für den hat die Welt keine Wirklichkeiten mehr. Doch das verstehen Sie nicht. Mögen Sie es niemals verstehen.

»Kämpfe und Leiden hatte auch ich trotzdem genug, jeden Morgen! Wenn ich wieder vor meine Riesenleinwand trat, an meinem Titanenwerk wieder hinabstürzte. Oft genug wollte ich mich beim Tarpejischen Felsen hinabwerfen, oder bei Sankt Bartholomä in den Tiber. Und oft genug war die Ursache zu solch einem Vorsatz nur ein Stücklein Faltenwurf, nur eine kleine Verkürzung, nur eine nebensächliche Lichtwirkung.

»Ich blieb aber immer wieder am Leben, weil mich mein Wahnsinn das Stücklein Faltenwurf, die nebensächliche Lichtwirkung immer wieder gut finden ließ!

»Manchen Tag malte ich nur fünf Minuten an meinem großen Bilde, die übrige Zeit für den Broterwerb an meinen kleinen Heiligen. Aber oft tat ich auch tagelang keinen Pinselstrich an meinem großen Werk, tagelang stand ich davor und betrachtete es; ja, und ... Schließlich glaubte ich doch daran, war ich doch darüber glücklich. Mein großes Bild, meine treue Friedrike und mein herrliches Rom haben mich in meinem Leben so unendlich glücklich gemacht, daß es für mich keines weiteren Glückes bedurfte. Ich war über mein großes Bild oft so glücklich, daß ich es gar nicht fertig machen wollte, daß ich unglücklich wurde bei dem Gedanken, es müßte dereinst fertig werden, Friedrikens wegen, die daran glaubte, darauf hoffte, dafür lebte. Endlich bekam ich's fertig und ging mit meinem Bild hinüber, wo mich die Menschen nicht verstanden, ebensowenig wie ich sie, wo ich die Welt nicht mehr kannte.

»Für jede Stunde Verzögerung dankte ich dem Himmel. Endlich traf mein Bild aber doch ein. Ich mußte es auspacken und in seinen Rahmen spannen lassen. Die Handwerker sahen mich dabei so sonderbar an. Aber als ich mein Bild wieder vor Augen hatte, da überkam mich die ganze Liebe zu meinem Werke, und alle Qualen, die es mich gekostet, waren niemals gewesen. Nur meine Liebe und mein Glück waren von allem zurückgeblieben. Dann kam mein Bild vor die Jury ...«

Peter Pauls Stimme brach in einem leisen Stöhnen. Prisca ging zu ihm, faßte seine Hand und streichelte sie. Keines von beiden gewahrte dabei die dunkle Frauengestalt, die lauschend vor dem Fenster stand. Nach einem langen Schweigen erzählte Peter Paul weiter:

»Dann gelangte mein liebes Werk vor die Jury ... Einige Tage darauf fahre ich mit der Trambahn. Mir gegenüber sitzen zwei Herren, die sich miteinander unterhalten. Sie sprechen von der Kunstausstellung.

Ich hätte lieber nichts gehört, wäre am liebsten ausgestiegen, um nichts hören zu müssen. Solche Gespräche mitanzuhören, regt mich auf. So wird der Mensch, wenn er so lange in einer andern Welt, außerhalb der wirklichen Welt lebt, wie ich in Rom. Sie verstehen ... Dann unterhalten sich die beiden Herrn über etwas sehr Lustiges. Sie lachen. Einige der übrigen Passagiere, die zuhören, werden angesteckt. Auch sie lachen. Und was ist die Ursache dieser Heiterkeit?

»Das riesengroße, ganz verrückte Bild eines alten, ganz verrückten deutschen Künstlers, der seit vierzig Jahren in Rom lebt, der vierzig Jahre an dem Bild gemalt hat. Die gesamte Jury hat über ihn gelacht und über Bild und Künstler sich belustigt. Es war darüber ein allgemeines Gaudium gewesen. Jetzt hatte ich's erfahren, so hatte ich's erfahren ... Ich brauche Ihnen nicht leid zu tun.

»Mit allgemeiner Ablehnung erhielt ich dann mein Bild zurück. Ich ließ den Rahmen auseinanderlegen und die Leinwand in ein Magazin schaffen, in einen großen, leeren Raum, den ich für eine Woche mietete. Dann schloß ich mich mit meinem Bilde ein, betrachtete es noch ein letztes Mal, zerschnitt es dann in lauter kleine, kleine Stücke, die ich verbrannte. Und die Asche ... Die Asche meines großen Bildes, die Asche meiner vierzigjährigen Lebensarbeit, meines vierzigjährigen Glückes sammelte ich und nahm sie mit mir nach Rom. Zu verrückt, nicht wahr? Gestern nacht kam ich an, und heute in aller Frühe, als über dem Albanergebirge die Sonne aufging, streute ich die Asche meines Künstlertums beim Ponte Molle in den Tiber! ...

»Du bist hier, Friedrike! Du hast alles gehört? Ach, Friedrike!«

Sie kam herein; ohne ein Wort zu sagen, ging sie zu ihm. Mit beiden Armen umfaßte sie den gebrochenen Mann, kniete neben ihm nieder, zog sein müdes Haupt an sich, mit einer stillen, stillen Bewegung, als bettete sie es zur Ruhe. Ihre Arme umschlossen den Beladenen fest, fest, und in ihrer Brust schlug ihr Herz mit der Zärtlichkeit und zugleich mit der Kraft und Liebesgewalt, welche Wunder vollbringt. Prisca war leise hinausgegangen. –

Früh am nächsten Morgen kam Fräulein Friedrike zu Prisca. Sie hatte etwas Leuchtendes im Blick und war fast heiter.

»Um zur Trauung auf das deutsche Konsulat und zur Kirche zu gehen, sind wir doch schon zu alt. Es ist auch einerlei. Wer dreißig Jahr treulich Leid und Freud miteinander trug, der ist vor Gott längst ein christliches Ehepaar, und etwas andres, als treulich Leid und Freud miteinander zu tragen, haben wir niemals gewollt, hat uns auch niemand zugetraut, selbst als wir noch jünger waren. Aber wir wollen zusammenziehen, da Peter Paul sein großes Atelier ja nun nicht mehr braucht. Er wird in Frieden seine kleinen Heiligenbilder weiter malen; aber ich werde nicht weiter kopieren, denn das sehe ich jetzt auch ein! Ich werde fortan kaum etwas andres tun als für Peter Paul sorgen. Wir wollen nicht mehr in der Trattorie essen, es sind uns dort zu viele Menschen. Auch kommen immer mehr Fremde hin, die wir immer weniger vertragen. Vielleicht bin ich eine bessere Köchin als Künstlerin. Das werden wohl manche von uns Malerinnen von sich sagen können. Ich wünsche ihnen nur, sie möchten es einsehen, ehe es zu spät ist – wie bei mir.

»Peter Paul ist darum doch ein großer Künstler, und sein Werk war doch ein großes Kunstwerk. Hätte er es nur in Rom ausgestellt! Aber dort drüben – die Menschen dort drüben sind eben Barbaren. Wir beide werden immerfort von unserm großen Bilde reden wie von einem teuren Gestorbenen. Peter Paul muß wieder an sein großes Bild glauben, dafür laß nur mich sorgen! Und siehst du, liebes Kind, was sollten wir beide wohl anfangen, wenn wir jetzt nicht Rom hätten? Stelle dir vor, wir müßten mit unserm toten Werke im Herzen dort drüben leben! Erinnerst du dich noch jenes Abends, an dem dein Bräutigam so ganz unverständiger Weise über Rom Herzog? Was sagte ich dir denn damals? Rom sei die Zufluchtsstätte der Mühseligen und Beladenen, ein Wallfahrtsort für traurige Seelen. Siehst du nun, wie recht ich hatte!

»Denke doch, was uns beiden hier in Rom immer noch bleibt! Die Sixtinische Kapelle und die Stanzen, das vatikanische und kapitolinische Museum, das ganze herrliche Rom, die erhabene Campagna. Wir sind trotz allem und allem zwei glückliche Menschen!«

Einstweilen freilich war Peter Paul noch wie ein Mensch, der sich verirrt hat und nicht weiß, ob er sich jemals wieder zurechtfinden wird. Aber seine Gefährtin faßte ihn bei der Hand und leitete ihn, als wäre er ein Blinder. Aus ihrem Atelier waren sämtliche Veatrice Cenci und Fornarinen verschwunden, und es sah jetzt mit den großen Sträußen frischen Grüns, mit denen Prisca die kupfernen Wassergefäße und altertümlichen Krüge füllte, ganz behaglich aus.

Einstweilen war Peter Paul noch nicht fähig, seine Heiligenmalerei wieder aufzunehmen. Um ihn nun am Grübeln zu verhindern, mußte er schon in aller Frühe ausgehen, um die Signorina bei ihren täglichen Einkäufen zu begleiten, die der alten Römerin täglich von neuem eine freudige Aufregung gewährten. Aber sie wollte Peter Paul in die Geheimnisse des römischen Marktgehens einführen. Denn später sollte er, ganz nach römischer kleinbürgerlicher Hausherrenart, die Besorgungen allein machen.

Sobald des Nachmittags vom Meer her eine kühle Luft wehte, mußte Peter Paul mit Fräulein Friedrike hinaus. Sie durchstreifte mit ihm Rom, als wäre er einer jener verachteten Neulinge, die von Rom nichts wissen. Der heißen Jahreszeit wegen mußten diese Exkursionen sich auf die Stadt selbst beschränken, und es war erstaunlich, wie viel noch nie Gesehenes, Herrliches auf diesen sommerlichen Nachmittagswanderungen die beiden entdeckten. Kamen sie des Abends heim, so hatten sie Prisca und Steffens so viele Wunderdinge zu berichten, daß Peter Paul, der erzählen mußte, gar nicht zu einem andern Gedanken kam, als zu dem über sein herrliches Rom.

So ward es, wie Fräulein Friedrike gesagt hatte: die große römische Wunderquelle heilte allmählich auch dieses zu Tod verwundete Gemüt, und auch dieser Mühselige und Beladene fand in der Stadt der Städte seinen Messias.


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