Richard Voß
Römisches Fieber
Richard Voß

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3. Prisca faßt einen Entschluß

Langsam und gedankenvoll schritt Prisca heute durch die Arkaden und nickte ihren alten Freunden an den Wänden zu; heute mit ganz besonders zärtlicher Liebe, mit einem ungewöhnlich starken Gefühl geistigen Eigentumsrechtes.

Denn seitdem sie am Zentralbahnhof Kasse fünf, Richtung Rosenheim-Kufstein, aus des Beamten eignem Munde erfahren hatte, daß ein Billett von München nach Rom nur sechsundfünfzig Mark kostete – dritter Klasse natürlich! –, fühlte sie sich bei sämtlichen Rottmann, von dem idyllischen Trento angefangen, bis tief hinunter zu den zerstörten Tempeln von Selinunt, bereits vollkommen zu Hause, gewissermaßen an diesen sämtlichen klassischen Stätten bereits wohnlich eingerichtet. Sie konnte gar nicht begreifen, daß München so bevölkert war, daß ganze Scharen von Künstlern hier lebten, wenn doch ein Billett von München nach Rom nur sechsundfünfzig Mark kostete!

Und daß sie selbst immer noch da war!

Weshalb hatte sie seit drei vollen Jahren durch halbe Nächte Geburtstags- und Neujahrswünsche gemalt, Tisch- und Tanzkarten entworfen und für Haarwasser und Zahnbürsten bunte Riesenplakate verfertigt? Denn wer sich erst das Brot verdienen muß, damit seine Kunst überhaupt erst nach Brot gehen kann, der darf sich nicht stolz in die Brust werfen: » Anch' io son' pittore!« Oder vielmehr: er darf es tun, wenn er nebenher das ehrliche Kunsthandwerk nicht verschmäht.

Prisca übte es, wie gesagt, halbe Nächte hindurch, um dafür am Tage mit ruhigem Gewissen vor ihrer Staffelei sitzen zu können. Hätten Leinwand und Farben nur nicht die unangenehme Eigenschaft gehabt, Geld zu kosten, von den Rahmen gar nicht zu reden! Noch dazu von den modernen Rahmen, die möglichst originell sein sollten, damit wenigstens sie die Blicke auf sich zogen. Und wenn Prisca auch die unmodernsten für ihre Bilder auswählte, so waren diese glitzernden Goldleisten immerhin noch teuer genug. Und dann die Pension bei dem guten Glöcklein! Sie war eigentlich winzig; und jedesmal, wenn Prisca mit ihrer kleinen Wirtin sich zu Tisch setzte, schämte sie sich der zwerghaften Summe und ihres Riesenappetits. Sie wollte mit Gewalt mehr zahlen, um mit einer würdigeren Empfindung mehr essen zu können. Aber das Glöcklein hub jedesmal, so oft die Sache zur Sprache kam, ein wahres Höllengebimmel an, so daß die Pensionärin schließlich Nein beigeben mußte.

Jeden Tag nahm die gute Prisca sich vor, nicht gar so »gräßlich« viel zu essen. Ihr gesunder Hunger ließ sie jedoch täglich von neuem die Entdeckung machen, daß sie zur Aszetin und Säulenheiligen nicht das mindeste Talent besaß. Also aß sie, und es schmeckte ihr prächtig. Und wenn sie einmal über ihren vorzüglichen, zweiundzwanzigjährigen Appetit allzu heftige Gewissensbisse empfand und sich kasteien wollte, so begann das Glöcklein umgehend mit seinem silberhellen Stimmchen so jammervoll zu lamentieren, als sollte Prisca demnächst eines gewaltsamen Hungertodes verbleichen. Also aß sie!

Trotz der Ausgaben für Leinwand, Farben, Rahmen, Kleidung, Lebensunterhalt und andre Notwendigkeiten, einige bescheidene Freuden mit eingerechnet, war es Priscas unermüdlichem Fleiß gelungen, ein bescheidenes Sümmchen zusammenzusparen, davon ein Billett nach Rom, allerdings nur in der dritten Klasse, sich bestreiten ließ, und das auch noch ein kleines Weilchen weiter reichen würde. Aber die nüchterne und praktische der beiden Seelen in ihrer Brust gebot ihr streng: ›Höre, liebe Prisca, du wirst nicht eher nach Rom gehen, als bis du sichere Aufträge und feste Bestellungen erhalten hast. Früher nicht einen Schritt hinein in dein gelobtes Land, meine junge Dame! Mag deine zweite, phantastische, einfach unzurechnungsfähige Seele auch noch so verführerisch locken und winken; ich behalte die Oberhand!‹

Fräulein Priscas zweites liebes ich ließ nach solchen strengen Worten den Kopf hängen, seufzte, schmollte, wagte wohl gar heftige Widerreden, zog jedoch stets den kürzeren.

Sogar mit Hungernmüssen hatte die wirklich unangenehm nüchterne und verständige Seele gedroht. Es war wahrhaftig eine unerträglich hausbackene Seele! Prisca schämte sich beinahe, ein solch philiströses andres Selbst in ihrem Busen zu tragen. Gott sei Dank, daß Seele Nummer zwei noch da war, deren Zeit schließlich auch einmal kommen würde. Prisca vermochte sich vieles vorzustellen; aber daß der Mensch in Rom Not leiden und Not fühlen könnte, das ging für sie über alle Vorstellung. Für sie war Rom gleichbedeutend mit Glanz und Glück ohne Ende, mit Blühen und Sonnenschein ohne Aufhören. In Rom graue Tage, in Rom traurige, trostlose Wochen! In Rom von des Lebens Jammer gepackt werden! Am Tiber genau ebenso leiden, darben, krank sein, sterben, wie man an der Isar litt, darbte, krank wurde und schließlich starb – sie konnte sich das eben nicht vorstellen...

»Nein, dieser alte, närrische Kauz!«

Prisca hörte eine junge, frische Männerstimme, ein herzliches Lachen, blickte auf, um sich den »alten, närrischen Kauz« auch anzusehen, sah aber nur zwei junge, lustige Herren, die vor ihr herschlenderten und die Fresken betrachteten. Von einem alten, närrischen Kauz war weder unter den grauen Arkaden noch im nassen Hofgarten etwas zu erblicken; und es dauerte ein Weilchen, bis Prisca begriffen hatte, daß jene komische Persönlichkeit kein andrer sein sollte als ihr geliebter Rottmann.

Ihn lachten die beiden Lustigen aus.

Es waren Fremde, und es schienen Künstler zu sein, wenn sie auch in ihren übermäßig modischen Überröcken und kleinen, steifen englischen Hüten wenig danach ausschauten. Der alte, närrische Kauz machte ihnen entschieden ungeheuer viel Spaß. Sie amüsierten sich höchlich über die alte Manier, die veraltete Technik, über jeden Pinselstrich, lauter Dinge, die sich längst überlebt, die als die Mumie einer vorsintflutlichen Kunst lediglich die Berechtigung einer Museumsexistenz hatten.

Und nicht etwa, daß sie sich über den alten Rottmann ärgerten, die liebenswürdigen jungen Herren, daß sie über ihn debattierten, etwa dieses und jenes gelten ließen – nichts dergleichen! Sie machten sich einfach über ihn lustig wie über einen Spaßmacher, der abgetan ist, sobald man mit dem Lachen über ihn fertig ward.

Die gute Prisen, bald ihre lieben verspotteten Gemälde, bald die vergnügten kritisierenden Jünglinge anblickend, hörte mit einer Empfindung zu, als würde vor ihren Augen ein Heiligtum in den Schmutz geworfen. Aber dann hätte sie ja hinstürzen und das geschändete Sanktuarium aufheben können! Was sollte sie hier tun? Denn etwas mußte sie doch tun! Wer läßt in seiner Gegenwart einen lieben Freund verhöhnen?

Sollte sie mit flammendem Zorn an die Spötter herantreten und ihnen begreiflich machen, wie herrlich diese Gemälde waren? Es wäre die Stimme eines Predigers in der Wüste gewesen.

Priscas gesunder Sinn für Humor erwachte. Sie, im Regenmantel mit Gummischuhen, unter den Arkaden als Prediger in der Wüste! Aber stumm bleiben konnte sie doch auch nicht. Und obgleich es – was hätte ihre Hofdame, das Glöcklein, dazu gesagt! – durchaus unschicklich für eine junge Dame war, ging sie mir nichts dir nichts auf die beiden Lustigen zu, machte selbst ein lustiges Gesicht und redete die Fremden folgendermaßen an:

»Wie ich höre, amüsieren Sie sich über die Rottmann. Es ist recht schade, daß der alte Herr nicht mit dabei sein kann. Er hätte Sie vielleicht gefragt: ›Meine jungen Herren Künstler, Sie werden die Sache gewiß viel besser machen?‹ Nun, dem alten Rottmann kann es recht sein.«

Prisca schlug die Augen so groß auf, wie sie nur konnte, lächelte, ging weiter.

Die beiden Lustigen hielten es für einen famosen Witz, auf offener Straße von einem jungen Mädchen wegen des alten, närrischen Kauzes angerempelt zu werden.

»Wäre sie nur etwas hübscher gewesen!«

»Etwas hübscher? Aber Mensch! Mit solchen Augen ...«

*

Aufgeregt durch das kleine Abenteuer, kam Prisca in die Säle der permanenten Kunstausstellung, die sich unter den Arkaden des Hofgartens befindet, und in der es an diesem grauen Novembernachmittag fast so öde war, wie in der breiten, langen und langweiligen Ludwigsstraße. Einsam wanderte die junge Künstlerin unter den Bildern umher.

Da hingen sie nun: die Jungen, die Jüngsten, die Allerjüngsten. Sie alle, welche die ganze große Vergangenheit der Kunst mit einer leichten Handbewegung beiseite schoben, die mit dem titanischen Selbstbewußtsein der Modernen in der flammenden Lohe des Zeitgeistes die Kunst neu schmiedeten und denen die Zukunft gehörte – so glaubten sie wenigstens.

Prisca war diesem Chaos von Erscheinungen und Ideen gegenüber aus einer gewissen Beklommenheit nie herausgekommen. Jeder war von dem andern gänzlich verschieden, ein jeder eine Persönlichkeit für sich. Fühlte sie sich von diesem starken Talent und Temperament lebhaft angezogen, so stieß jenes andre sie um so heftiger ab; und doch schienen beide, trotz aller Verschiedenheit, genau dasselbe zu wollen.

›Herrgott,‹ so dachte sie oft, ›wie viele Arten von Augen hast du eigentlich deinen Malergeschöpfen gegeben? Der eine sieht alles blau, wo der andre alles nur violett erblickt! Da ist einer, der schaut die ganze Welt rosenrot an, wo der andre überhaupt keine Farben sieht.‹

Prisca fühlte für all dies Verschiedenartige und Entgegengesetzte ein fast fieberndes Interesse, hütete sich ängstlich vor jedem Absprechen und Verurteilen. So klar sie über sich selbst Bescheid wußte, so sicher sie ihren eignen Weg ging, verwirrten sie doch die Wege und Ziele der andern. Die Verwegenheit der künstlerischen Glaubensbekenntnisse, die Kühnheit der Probleme, die waghalsigen technischen Experimente erschreckten sie. Ihr eignes künstlerisches Glaubensbekenntnis zeigte eine wohlgeordnete Harmonie, von ihr streng unter Kontrolle gehalten; und in der Kunst der andern leuchtete ihr das wildeste Chaos in allen Farben entgegen. Es war eine Revolution, die Anarchie zu bringen schien. Von dem oft brillanten Können geblendet, durch die Rücksichtslosigkeit und Aufdringlichkeit der individuellen Anschauung geängstigt, gehörte ihre ganze kräftige Natur dazu, um diesem gewaltsamen Anprall von fremden Eindrücken, dieser Sturmflut von neuen Begriffen zu widerstehen. Denn sie wollte in sich nur aufnehmen, was ihr naturgemäß war; und es gab Stunden, wo sie sich unter all diesen Modernen alt, uralt vorkam, eine überlebte Manier, ein unglückseliger Epigone unter einer Generation, mit der sie, als wahre Tochter ihres Vaters, nichts gemein hatte.

Dort hing ihr Bild; dort im Winkel, ganz oben, halb im Dunkeln. Wer sah und beachtete es dort? Und wenn es jemand beachtet hätte, würde es gefallen? Und wenn es gefiele, würde man es kaufen?

Ganz sicher nicht.

Und doch war es ein gutes Bild.

Es stellte eine Landschaft vor, die vollkommen einer Idealwelt angehörte: geheimnisvolle, schattige Haine, strahlende Blütenmassen, glanzvolle Menschengestalten unter einem leuchtenden Himmel, auf einer frühlingsgrünen Erde. Es war eine Welt, die Prisca nur in ihren Träumen geschaut und die sie nur dort drüben – jenseits der Alpen – in Wirklichkeit schauen konnte. Dort allein würde ihr Traum Wahrheit werden.

Und warum dieses fortwährende leidenschaftliche Sehnen? War es nicht wie ein Notruf ihres ganzen Ichs? Ihre Natur schrie nach dem ihr Gemäßen, das sie unter diesem grauen Himmel, in diesem farblosen Leben niemals finden würde. Mußte aber der Mensch seiner Natur nicht folgen? Und mußte der nicht zugrunde gehen, der seiner eigensten Natur Gewalt antat, der Untreue übte gegen sich selbst?

Auch Priscas frisches Wesen unterlag bisweilen einer jener »Stimmungen«, die sich wie Gewaltherrscher manchen Gemütes bemächtigen. Eine jähe Angst überfiel sie dann: würde ihr kleines Künstlerleben sich erfüllen? Der trübe Tag mit seinem tief herabdrückenden Himmel; die glanzvolle Vision, die sie unter den Hofarkaden gehabt; das kleine Abenteuer mit den beiden lustigen Herren; die menschenleere Ausstellung mit der Fülle neuer und verwirrender Eindrücke und schließlich ihr eignes, fremdartiges Selbst dort oben – alles kam heute zusammen, um sie schwer zu bedrücken, zugleich aber auch, um den Trieb der Selbsterhaltung in ihr zu erwecken.

Worauf wartete sie eigentlich?

Auf den Verkauf ihrer Ideallandschaften? Auf Bestellungen? Auf die Sicherung einer behäbigen Existenz? War nicht gerade das Leben eines Künstlers beständiger Drang, nie endender Kampf? Würde ihr langes Hoffen und Harren, ihr geduldiges Warten ihr den Kampf erleichtern oder gar ersparen? Wünschte sie überhaupt solche Schonung ihrer Kraft?

Sie war jung und stark. Hatte sie nicht ihr Talent, an das sie glauben wollte bis zu ihrem letzten Atemzuge? Und zu ihrer Jugend, ihrer Begabung kam ihr rastloser Fleiß, ihre eiserne Willenskraft. Das alles, zusammen mit ihrem ehrlichen Glauben an sich selbst, war ein Talisman, dem nichts widerstehen konnte. So meinte sie wenigstens.

›Ich gehe fort! Ich gehe nach Rom! Bald gehe ich fort! Ja, ja, bald!‹

Es war der Entschluß eines Augenblicks. Wie so häufig, entschied auch hier ein Augenblick ein ganzes Leben.

Prisca schwindelte es. Vor ihren Augen zitterten Farben und Strahlen. Ihre Seele wurde von einem Taumel erfaßt und durch leuchtende Unendlichkeiten gerissen. Ihr war's, als blickte sie in die Zukunft, und diese war eitel Sonne und Glanz: die heilige Sonne Roms, der berauschende Glanz des Südens.

Und diese überirdische, vertrauensselige Stimmung hielt stand; sie verflog nicht sogleich. Dergleichen lag nicht in Priscas Natur. Was sie einmal ergriff, das hielt sie fest.

Sie wurde plötzlich ganz übermütig. Sie ging durch die Ausstellung, von einem Modernen und Modernsten zum andern; und sie sagte diesen Herren ihre Meinung – übrigens mit allem schuldigen Respekt. Diesen und jenen fragte sie so nebenher: ob er wohl schon von einer gewissen Sixtinischen Kapelle und den vatikanischen Stanzen gehört hätte? Die Gefragten lachten ihr natürlich einfach ins Gesicht, worauf Prisca wieder lachte, so recht von Herzen vergnügt. »Oh,« meinte sie, »lachen Sie nur, meine lustigen Herren! Was sollten Sie wohl mit Raffael anfangen? Der hat sich ebensogut längst überlebt, wie ein gewisser alter, närrischer Kauz ... Übrigens gehe ich hin. Jawohl, meine Herren, ich gehe nach Rom!«

Das gellende Hohnlachen, das dieser vertraulichen Mitteilung folgte, vernahm die gute Prisca nicht. Die beiden kleinen Worte: »nach Rom!« rauschten und brausten durch ihre Seele, als wollten sie darin zur unendlichen Melodie werden, so recht zur Zukunftsmusik.

Zuletzt machte sie sich noch ein kleines Extravergnügen. Sie begab sich ganz ehrbar ins Bureau der Ausstellung, machte ein möglichst würdevolles Gesicht und sagte ernsthaft:

»Sollte jemand meine ›Ideallandschaft mit Staffage‹ – Prisca Auzinger, Saal II, Nummer 173, rechte Querwand, oben im Winkel – zu kaufen wünschen: der Preis ist 2300 Mark. Ich empfehle mich Ihnen.«

Das glücklich ausgeführt, ging sie durch Wind und Regen von dannen, ohne von dem Unwetter das mindeste zu empfinden. Sie ging die ganze lange öde Ludwigsstraße hinauf und weiter dem idyllischen Schwabing zu. Unterwegs dachte sie:

›Was wird das Glöcklein dazu sagen daß ihre Prinzeß nach Rom geht? Ohne Hofdame, mutterseelenallein, mit dem Personenzug dritter Klasse ... Mein gutes, komisches Glöcklein! Ich werde sie ordentlich vorbereiten müssen, damit ihr der Schreck nicht in ihr armes Seelchen fährt. Aber schön ist es doch, daß es auf der Welt jemand gibt, der erschrickt, wenn ich plötzlich auf und davon will. Überhaupt: nur nicht einsam sein, nur liebgehabt werden ... Wie das erst sein muß, wenn man geliebt wird?! So ganz ohne Maß, ohne Besinnung, ohne Ende! Ob das wohl vorkommt? ... Ich kann es mir nicht vorstellen. Und doch ...‹


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